„Die Tatsache, dass Menschen auf der Flucht sterben, ist mittlerweile allgemein bekannt. Dass dies jedoch direkte Folge der europäischen Migrationspolitik ist und somit vermeidbar wäre, wird kaum thematisiert.“ – borderline-europe
Der Verein borderline-europe Menschenrechte ohne Grenzen mit Sitz in Berlin, Palermo und auf Lesbos hat all das in seinem neuen Jahresbericht 2022 „Widerstand gegen das europäische Grenzregime“ dokumentiert. Wir publizieren im Folgenden das Vorwort zum Bericht.
Von Kristina Di Bella
Gewalt, Armut und Perspektivlosigkeit veranlassten auch im vergangenen Jahr unzählige Menschen dazu, lebensgefährliche Wege auf sich zu nehmen, um Sicherheit in Europa zu suchen. Alleine bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, sind seit 2014 mehr als 25.000 Menschen gestorben oder gelten als vermisst. Die Antwort der EU: Militarisierung, Kriminalisierung und Abschottung. Die letzten Jahre haben zu einer stetig zunehmenden Eskalation in der europäischen Migrationspolitik geführt. Von obskuren Abkommen mit außereuropäischen Drittländern, über den Bau von als Aufnahmezentren getarnten Hochsicherheitstrakts bis zu körperlicher Misshandlung von Schutzsuchenden durch vermummte EU-Grenzschutzbeamt*innen.
Bis dato bestehende Zweifel an dem politischen Willen hinter den menschenfeindlichem Vorgehen gegenüber Menschen auf der Flucht, hoben sich spätestens mit den Entwicklungen im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine auf. Das Ereignis löste sowohl auf politischer Ebene als auch in der Bevölkerung tiefes Entsetzen und ungekannte Solidarität aus. Die Aktivierung der sogenannten EU-Massenzustromsrichltinie oder Richtlinie zum vorübergehenden Schutz veranschaulichte auf eindrückliche Weise, dass die europäische Politik durchaus in der Lage ist, angemessen auf Fluchtbewegungen zu reagieren und Menschen auf unbürokratische und schnelle Weise in Sicherheit zu bringen, wenn der politische Wille es zulässt.
Gleichzeitig wurde schnell klar, dass dieser Schutz nicht allen Flüchtenden gleichsam vorbehalten war: unzählige afrikanische Studierende wurden an der Flucht gehindert, an den Grenzen gewaltvoll abgewiesen und im Kriegsgebiet zurückgelassen. Insbesondere für Flüchtende, die an anderen Orten seit langem verzweifelt auf europäische Hilfe und Schutz warteten, sendete dies eine bittere Botschaft. Mehrere tausende Geflüchtete versammelten sich u.a. vor dem Sitz des UNHCRs in Libyen und forderten sofortige Evakuierungen und eine gleichartige Behandlung, doch ihre Stimmen bleiben bis heute zum Großteil unerhört.
Obwohl sich auch ukrainische Staatsbürger*innen bald Diskriminierung und Ausbeutung ausgesetzt sahen, erstaunten die immensen Kräfte, die nach Kriegsausbruch mobilisiert wurden, um ukrainische Flüchtende in europäischen Ländern aufzunehmen. Gleichzeitig warf es viele Fragen auf, insbesondere darüber, welche Leben von europäischen Entscheidungsträger*innen als schützenswert erachtet werden und welche nicht.
Die entsetzlichen Bilder hilfesuchender Afghan*innen, die nur wenige Monate zuvor, nach der Machtübernahme der Taliban, um Evakuierung flehten, schwebten noch intensiv vor Augen. Tausende afghanische Staatsbürger*innen bangten verzweifelt um ihr Leben und mussten zusehen, wie die EU ihnen Fluchtwege bewusst blockierte, während sie anderen auf selbstverständliche Weise Schutz gewährte.
Und während Züge, Busse und Privatfahrzeuge Menschen problemlos über die polnischen Grenzen brachten, erfroren wenige hundert Kilometer weiter Schutzsuchende in den belarussischen Wäldern, weil sie gnadenlos am Grenzübertritt nach Polen gehindert und in eisiger Kälte sich selbst überlassen wurden. Sie waren zu einem machtpolitischen Spielball zwischen der EU und Weißrussland geworden. Eben diese tragischen Geschehnisse wurden im vergangenen Jahr zum Anlass genommen, um den Weg zu neuen Regulierungen zu bahnen, die das Recht auf Asyl formell aushebeln und Pushbacks legalisieren sollten. Durch die mangelnde Stimmenmehrheit konnte die Umsetzung der sogenannten Instrumentalisierungsverordnung zu Ende des Jahres zunächst noch verhindert werden. Doch die Richtung, die allein diskursiv eingeschlagen wird, alleine erschreckt und lässt die gefährlichen Tendenzen erkennen, die es ermöglichen, immer gewaltvollere und menschenverachtendere Praktiken politisch zu legitimieren und Undenkbares öffentlich auszusprechen.
Die besorgniserregenden politischen Entwicklungen der Migrationspolitik spiegelten sich auch in den menschenfeindlichen Bestrebungen wieder, Schutzsuchende schnellstmöglich von europäischem Territorium zu entfernen und sie ihrem Recht auf ein angemessenes Asylverfahren zu berauben. Großbritannien und Dänemark zeigen sich als Vorreiter*innen bei dem Versuch, die Asylverfahren von Migrant*innen in afrikanische Drittstaaten zu verlagern. Die Idee, traumatisierte Geflüchtete in Länder abzuschieben, in denen die Einhaltung von Menschen- und Asylrechten nicht garantiert werden kann und ihnen potentiell Gefahr für Leib und Leben droht, ist maximal zynisch. Der erste geplante Flug der britischen Regierung im Juni 2022, der hunderte Asylsuchende nach Ruanda abschieben sollte, konnte durch einen Eilbeschluss des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in letzter Minute aufgehalten werden. Ende Dezember 2022 entschied der Oberste Britische Gerichtshof jedoch, dass eine Auslagerung des Asylverfahrens nach Ruanda rechtmäßig sei. Gegen dieses Urteil liegt eine Berufung vor, unabhängig von seinem Ausgang ist die politische Linie jedoch eindeutig. Das Verfahren markiert eine neue Eskalation der seit Jahren ansteigenden Externalisierungsbemühungen der EU und sendet eine weitere symbolische Botschaft der Abschreckung.
Ähnlich menschenverachtend sind die Methoden der faschistischen italienischen Regierung, die im September 2022 ins Amt trat. Als Mittelmeerstaat ist Italien eines der primären Ankunftsländer für Menschen, die über das zentrale Mittelmeer, eine der tödlichsten Routen der Welt, ankommen. Die politischen Akteur*innen greifen nicht nur nicht ein, sondern behindern auch aktiv die Arbeit derer, die Menschenleben retten. Die systematische Kriminalisierung der Seenotrettung ist eine seit Jahren verbreitete Strategie der italienischen Regierung. Mit dem Amtswechsel zeichnen sich zusätzlich zunehmend abwegigere Strategien ab, die es zum Ziel haben, das Retten von Menschenleben zu behindern. Die Durchführung mehrerer Rettungseinsätze hintereinander wurde per Dekret untersagt, die Schiffe sind verpflichtet, unmittelbar nach der Rettung einen Hafen anzusteuern. Gleichzeitig befinden sich die zugewiesenen Häfen immer weiter von dem Rettungsgebieten entfernt, sodass die Schiffe zwangsläufig von weiteren Einsätzen abgehalten werden. Die Fluchtversuche und Abfahrten nehmen dadurch nicht ab – das Sterben auf dem Mittelmeer nimmt jedoch zu.
Das Ziel ist auf gesamteuropäischer Ebene dasselbe: Abschottung. Deals mit der Türkei, Libyen, Tunesien, Ägypten sowie diversen zentral- und westafrikanischen Staaten wurden von der EU auch im vergangenen Jahr ausgebaut, um Menschen bereits vor der Abreise nach Europa aufzuhalten. Die Aufrüstung der Grenzschutzagentur Frontex, der Bau von Mauern und Zäunen und der Einsatz von Waffen und Technologien zur Identifizierung, Überwachung und Abschreckung gehören zu den vielen Strategien, die Europa euphemistisch und zynisch zugleich unter dem Begriff “Migrationsmanagement” zusammenfasst. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre haben dabei immer wieder deutlich gemacht: kein Vertrag, kein Lager, keine Gefängnisstrafen hindern Menschen daran, zu flüchten und Schutz zu suchen. Die fatalen Maßnahmen führen lediglich zu mehr Tod und Leid.
Let‘s make solidarity
a threat again.
Kristina Di Bella, borderline-europe
Berlin, den 22. Februar 2023