Deutschland vollendet die Unterstellung aller niederländischen Gefechtseinheiten unter das Kommando der Bundeswehr und erhöht damit sein militärisches Gewicht in EU und NATO.
Deutschland komplettiert die Integration niederländischer Truppen in die Bundeswehr und hat nun auch die letzte bisher noch fehlende niederländische Gefechtseinheit deutschem Kommando unterstellt. Dies wurde kürzlich bei den deutsch-niederländischen Regierungskonsultationen bekannt. Die Verschmelzung der beiden Armeen unter deutscher Führung gilt als Versuch der Bundesrepublik, in Sachen EU-Armee Tatsachen zu schaffen. Berlin nutzt die asymmetrische Kooperation mit Den Haag, um nationale militärische Fähigkeitslücken zu schließen, sich in der EU als militärische Führungsmacht zu positionieren und gleichzeitig den Einfluss der deutsch dominierten EU gegenüber der US-dominierten NATO auszuweiten. Um vor dem Hintergrund der Kriegsgefahr in Europa das transatlantische Bündnis nicht durch eigenen Fähigkeitsaufbau in Frage zu stellen, vollzieht Berlin die – von ihm dominierte – Militärkooperation mit Den Haag unter dem Deckmantel, den „europäischen Pfeiler in der NATO“ stärken zu wollen. Das I. Deutsch-Niederländische Corps hat aktuell die Führung der NATO Response Force inne und stellte bei einem Eintritt in den Ukraine-Krieg das Land-Hauptquartier.
Das I. Deutsch-Niederländische Corps
Die Bundesrepublik treibt die Verzahnung der deutschen und der niederländischen Streitkräfte bereits seit Jahrzehnten voran. Den Anfang machte 1995 das I. Deutsch-Niederländische Corps. Die in Münster angesiedelte Struktur besteht aus 1.100 Soldaten, soll jedoch „im Ernstfall“ [1] bis zu 100.000 Militärs befehligen – beispielsweise im Rahmen der EU. 2002 wurde das Corps als „Schnell Verlegbares NATO-Hauptquartier“ zertifiziert und kann seitdem auch als Teil des transatlantischen Militärbündnisses eingesetzt werden (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Insgesamt sind ein Dutzend Länder an der Militärstruktur beteiligt; das Kommando allerdings teilen sich Berlin und Den Haag in einem Drei-Jahres-Takt.
Führungsfunktionen
In der Vergangenheit beteiligte sich das Corps unter anderem am Afghanistan-Krieg. 2014 trainierte es Szenarien, die die Niederschlagung von Aufständen beinhalteten und Parallelen mit den damaligen Kämpfen in der Ukraine aufwiesen (german-foreign-policy.com berichtete [3]). Inzwischen ist das Corps nach Angaben der Bundeswehr in der Lage, „mehrere [multinationale] Brigaden [zu] führen und gleichzeitig Anteile der Marine, der Luftwaffe und der Spezialkräfte [zu] koordinieren“.[4] In diesem Jahr fungiert es als Hauptquartier der Landkomponente der schnellen Eingreiftruppe der NATO.[5] Käme es 2023 zum Eintritt der NATO in den Ukraine-Krieg, hätte das I. Deutsch-Niederländische Corps das Kommando. Es nimmt für die Landstreitkräfte eine ähnliche Funktion ein wie das Baltic Maritime Component Command in Rostock für maritime Operationen des Bündnisses auf der Ostsee (german-foreign-policy.com berichtete [6]).
Fähigkeitsaufbau durch Kooperation
Um die militärische Zusammenarbeit weiter voranzubringen, verabschiedeten Berlin und Den Haag 2013 eine gemeinsame Absichtserklärung mit mehreren Dutzend Einzelprojekten (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Seitdem haben die beiden Länder unter anderem 2015 ein gemeinsames Panzerbataillon aufgestellt (Panzerbataillon 414), 2018 die deutsche Flugabwehrraketengruppe 61 in das niederländische Kommando Bodengebundene Luftverteidigung und 2019 ein deutsches Seebataillon in das niederländische Korps Mariniers integriert. Im Gegenzug gegen das Unterstellen eines ihrer Seebataillone unter niederländisches Kommando hat sich die Bundeswehr, wie das Verteidigungsministerium berichtet, den „Einstieg in den Fähigkeitsaufbau zum gesicherten und weitreichenden Seetransport“ gesichert.[8] Die verstärkte Marinekooperation ermögliche Berlin, wie es heißt, den Zugriff auf „das Joint Support Ship der Niederländer zum Transport von Personal und Material“. Verhandlungen über „mögliche Kooperationsformen“ im Cyber- und Informationsraum haben nach Angaben der Bundeswehr bereits stattgefunden.
Sämtliche Gefechtseinheiten
Bei den deutsch-niederländischen Regierungskonsultationen Ende März haben sich Berlin und Den Haag nun zu einer „weiteren Intensivierung“ ihrer binationalen Militärkooperation bekannt.[9] In diesem Zusammenhang steht auch der Beschluss, die 13. Leichte Brigade der Niederlande in die deutsche 10. Panzerdivision zu integrieren. Deutsche Militärs befehligen die ersten Kontingente der niederländischen Landstreitkräfte bereits seit 2014. Damals war die 1. Luftbewegliche Brigade der Niederlande in die deutsche Division Schnelle Kräfte eingegliedert worden (german-foreign-policy.com berichtete).[10] 2016 folgte die Unterstellung der niederländischen 43. Mechanisierten Brigade unter die 1. Panzerdivision der Bundeswehr. Zwar stehen einzelne Truppenstrukturen der Bundeswehr ihrerseits unter niederländischem Kommando. Mit der Eingliederung der 13. Leichten Brigade sind nun aber sämtliche Gefechtseinheiten des niederländischen Heeres deutschem Kommando unterstellt. Die Verschmelzung der niederländischen mit der deutschen Armee findet dabei keineswegs auf Augenhöhe statt. 2013 äußerten sich sicherheitspolitische Experten skeptisch gegenüber Plänen einer ähnlich engen Militärkooperation mit Frankreich oder mit Großbritannien, in denen das Kräfteverhältnis für die Bundesrepublik weniger günstig aufgefallen wäre. „Jede deutsche Initiative sollte … auf kleinere Partner abzielen“, hieß es damals.[11]
Europäische Avantgarde
Die Unterstellung des niederländischen Heeres unter deutschen Befehl gewann in einer Zeit an Schwung, in der die außen- und militärpolitischen Eliten Deutschlands sich auf eine Richtungsentscheidung einpendelten, deren Grundzüge 2013 in einem breit verankerten Strategiepapier („Neue Macht, neue Verantwortung“) festgehalten wurden.[12] In diesem Kontext wurden politische und auch militärische Führungsansprüche Berlins offen formuliert und salonfähig gemacht. Die deutsch-niederländische Militärkooperation gilt deutschen Strategen dabei als zukunftsweisendes Projekt auf dem Weg zu einer EU-Armee und damit zur eigenständigen militärischen Handlungsfähigkeit der EU unter deutscher Führung. Die öffentlichkeitswirksamen Forderungen nach sogenannter Strategischer Autonomie der EU sind in der Bundesrepublik seit Beginn des Ukraine-Kriegs zwar leiser geworden. In der gemeinsamen Erklärung anlässlich der deutsch-niederländischen Regierungskonsultationen verschreiben sich Berlin und Den Haag ihr dennoch: „Offene strategische Autonomie“ der EU sei „notwendig“; beide Seiten wollten gemeinsam die „EU als geopolitischen Akteur weiter stärken“.[13] Unter dem Deckmantel, den „europäischen Pfeiler in der NATO“ konsolidieren zu wollen, und unter Rückgriff auf das niederländische Heer positioniert sich Berlin unbeirrt als militärische Führungsmacht einer eigenständigen Weltmacht EU.
[1] Bilaterale Kooperation Deutschland-Niederlande. bmvg.de 27.03.2023.
[2] S. dazu Unter deutschem Kommando.
[3] S. dazu Der deutsche Weg zur EU-Armee (III).
[4] Bilaterale Kooperation Deutschland-Niederlande. bmvg.de 27.03.2023.
[5] Als NATO Response Force zertifiziert. bundeswehr.de 10.11.2022.
[6] S. dazu Die Schaltzentrale für Ostseekriege.
[7] S. dazu Unter deutschem Kommando.
[8] Bilaterale Kooperation Deutschland-Niederlande. bmvg.de 27.03.2023.
[9] Joint Declaration – Government Consultations Netherlands – Germany. Bundesregierung.de 27.03.2023.
[10] S. dazu Der deutsche Weg zur EU-Armee (V).
[11] Deutschland muss wählen: Sicherheitspolitische Initiative oder Irrelevanz. seidlers-sicherheitspolitik.net 20.02.2013.
[12] S. dazu Die Neuvermessung der deutschen Weltpolitik.
[13] Joint Declaration – Government Consultations Netherlands – Germany. Bundesregierung.de 27.03.2023.