Es ist ein Film aus einer anderen Zeit. In „Das Land meiner Träume“ begleitet Regisseur Patricio Guzmán die Mobilisierungen der chilenischen Revolte ab Oktober 2019 und zeigt die Träume dieser unter dem Motto „Chile despertó“ (“Chile ist aufgewacht“) bekannt gewordenen Bewegung.
„Wie ist es möglich, dass das ganze Land aufgewacht ist und wir vor einer zweiten Revolution stehen?“, fragt Guzmán als Erzähler aus dem Off zu Beginn des Films. Er hatte die Zeit des Linksbündnisses der Unidad Popular 1970 bis 1973 mit dem sozialistischen Präsidenten Salvador Allende erlebt und den vielfach ausgezeichneten Film „La batalla de Chile“ gedreht. Nach dem Putsch am 11. September 1973 unter Augusto Pinochet war Guzmán im Nationalstadion in Santiago inhaftiert, kam frei und ging ins Exil. Zuletzt verarbeitete er die Folgen der Diktatur in der Trilogie, die mit starken Bildern der Atacamawüste („Nostalgie des Lichts“), des Pazifischen Ozeans („Perlmuttknopf“) und der Anden („Kordillere der Träume“) auch die gewaltige Landschaft Chiles einbezieht.
Mit seinem neuen Dokumentarfilm nimmt Patricio Guzmán das Publikum nun mit in die Welt des mit der breiten Protestbewegung sichtbar gewordenen „neuen Chiles“. Er zeigt bunte und auch militante Straßenproteste, Auseinandersetzungen zwischen der hochgerüsteten Polizei und Steine werfenden Protestierenden.
Vor allem aber fängt er die kulturelle Explosion der Revolte ein, er zeigt ihre Bilder und spielt ihren Sound: unzählige Menschen, die im Rhythmus von Parolen singen, hüpfen, klatschen und auf Töpfe oder Wände klopfen. Tausende Frauen die zur weltweit bekannt gewordenen Performance „Der Vergewaltiger auf deinem Weg“ des feministischen Kollektivs Las Tesis tanzen, singen und Sexismus anprangern. Der Film bildet die Diskussionen um eine neue Verfassung ab und vermittelt die Hoffnung, den Mut und die Aufbruchstimmung, die große Teile der chilenischen Bevölkerung und auch den Regisseur selbst erfasst hatten. Und er schmerzt.
Verfassungsreferendum gescheitert, soziale Ungleichheit besteht fort
Der Film schmerzt all jene, die Teil dieser kollektiven Bewegung waren oder ihr nahestanden, weil auch diese Zeit inzwischen längst vergangen ist. Zwischen der hoffnungsvollen Stimmung der Protagonist:innen und der aktuellen Entwicklung Chiles liegen gefühlte Lichtjahre. Denn die Chance auf eine Abkehr vom Neoliberalismus und auf ein Abschütteln des Erbes der Diktatur ist mit dem Scheitern der neuen Verfassung wieder in weite Ferne gerückt.
Zwar hatten 2020 bei einem Referendum fast 80 Prozent für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung gestimmt. Bei der finalen Abstimmung über die Annahme des dafür neu formulierten Textes stimmten im September 2022 jedoch 62 Prozent mit „Nein“. Eine finanziell und medial übermächtige Kampagne gegen die neue Verfassung und eine schwache Kommunikationsstrategie der Befürworter:innen trugen entscheidend zu diesem Ergebnis bei. Ein neuer Verfassungsprozess verläuft aktuell in traditionellen Bahnen und wird vermutlich nur kosmetische Änderungen hervorbringen. Da Guzmáns Film kurz vor dem Referendum im September fertig gestellt wurde, kann er diese Entwicklung nicht erklären oder einordnen.
Umso mehr dokumentiert er, warum soziale Forderungen und Argumente für einen grundlegenden politischen Wandel bis heute fortbestehen. „Manche Leute kennen das nicht, dass man nicht mal ein Stück Brot oder ein Glas Milch zum Essen auf den Tisch stellen kann“, sagt María José Díaz. Die Mutter von drei kleinen Kindern verkauft Süßigkeiten auf der Straße und ist Präsidentin der Vertretung eines Armenviertels aus provisorisch zusammengezimmerten Hütten, in dem sie selbst seit neun Monaten lebt und um Wohnraum kämpft. „Für uns ist das aber die Realität, und deshalb kämpfen wir alle zusammen, die ganze Bevölkerung, für mehr Gleichheit“, sagt die junge Frau strahlend, denn sie hofft auf einen Erfolg.
Es gibt keinen Weg zurück
Für „Das Land meiner Träume“ hat Guzmán auch Archivaufnahmen aus der Zeit der Unidad Popular verwendet, auf denen überwiegend Männer zu sehen sind. Die aktuellen Aufnahmen stehen in Kontrast dazu, außerdem hat Guzmán nun ausschließlich Frauen interviewt: Aktivistinnen der Straße und aus besetzten Vierteln, das feministische Performance-Kollektiv Las Tesis, Frauen aus dem Gesundheitsbereich, Wissenschaftlerinnen, Kultur- und Medienschaffende. „Diese Bewegung hat das Gesicht und die Stimme einer Frau“, so bringt es die Journalistin Mónica González auf den Punkt und sie ist sich mit den anderen Protagonistinnen einig: „Es gibt keinen Weg zurück“.
Denn die Erfahrungen von gemeinsamer Stärke, Entschiedenheit und des Traums von einer anderen Welt wirken trotz der historischen Niederlage im Verfassungsreferendum weiter fort. Im Bewusstsein der Menschen und auf kultureller Ebene sind sie nicht mehr wegzudenken. Davon gibt „Das Land meiner Träume“ Zeugnis. Oder – um es mit den Worten der interviewten Filmemacherin María José San Martín zu sagen: „Soziale Veränderungen dauern sehr lange, sie werden nicht uns nützen, sondern den nächsten Generationen“.
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Mi País Imaginario – Das Land meiner Träume | Ein Dokumentarfilm von Patricio Guzmán | Chile/Frankreich 2022 | 83 Minuten | spanisches Original mit deutschen Untertiteln | Kinostart in Deutschland: 13. April 2023, Preview: Mittwoch, 12.4.2023, 20 Uhr, Passage Kino Berlin Neukölln | Trailer und Details zu Kinos