Narrative sind in Mode. Und das vielleicht gängigste Narrativ lautet: „Es fehlt uns das entscheidende Narrativ.“ Angeblich haben wir keine Idee, wie wir uns mitweltverträglich in die Zukunft bewegen könnten. Und doch gibt es dieses zukunftsfähige Narrativ.
Dass sich das neue Narrativ so wenig Gehör zu verschaffen vermag, hängt nicht an seinem plausiblen Gehalt, sondern an der Lautstärke der Schreihälse, welche die alte Welt noch vehement verteidigen. Ihnen stehen 90 Prozent aller öffentlich-rechtlichen Lautsprecherwagen zur Verfügung, mit denen sie sich von einer Scheinsicherheit zur nächsten hangeln.
Dass das neue Narrativ dennoch nicht vom Erdboden verschwindet, hat mehrere Gründe. Der eine ist wissenschaftlicher, der zweite sozialer und der dritte psychologischer Natur.
Das neue Narrativ
Das neue Narrativ lautet: „One World, One People.“ Kein noch so pralles Bankkonto kann die eigenen Eltern, einen liebenden Partner, einen wohlwollenden Freundeskreis oder eine gute Nachbarschaft ersetzen. Liebe, gleich in welcher Form, ist nicht käuflich und unbezahlbar. Nur der Mensch ist dem Menschen ein Mensch. Und nur als gleichberechtigter Teil einer intakten Mitwelt können wir gemeinsam unser Menschsein entwickeln. Wir fühlen das, wir wissen das, aber wir wagen es noch kaum zu glauben. Denn von allen Seiten heißt es, der Mensch sei dem Menschen ein Wolf. Dafür gibt es viele Belege in der Vergangenheit und Gegenwart; und noch viel mehr für den Satz: Der Mensch ist seiner Mitwelt ein Wolf. Das wesentlich Neue an dem Satz: „One World, One People“ ist deshalb das Wörtchen „One“. Denn es bezieht sich nicht nur auf uns Menschen, sondern auf alle BewohnerInnen einer solidarischen Welt: One World.
Der Schatz des Fremden – der wissenschaftliche Aspekt
Wissenschaften wie die Biologie oder die Physik haben uns in den letzten Jahrzehnten gelehrt: Die Natur organisiert sich in Netzwerken. Das gilt für Pflanzengemeinschaften wie für tierische Gemeinschaften; und es gilt für die geschätzten 100 Billionen Zellen unseres Körpers, die alle harmonieren und Hunderte unterschiedlicher Aufgaben koordinieren und erledigen müssen, damit wir gesund bleiben. Je kleinteiliger, engmaschiger und mehrdimensionaler ein Netzwerk ist, desto stabiler ist ein Ökosystem. Dann ist es nicht schlimm, wenn die eine oder andere Verbindung bricht, denn lebendige Netzwerke können sich regenerieren. Jeder gegen jeden führt dagegen unweigerlich zum Untergang. Erst, wenn wir uns in Netzwerken organisieren, werden wir stark sein, Gemeinsamkeiten und Synergien entdecken, werden wir unsere geistigen, sozialen und ethnischen Horizonte erweitern, unser mentales und emotionales Wissen vertiefen. Dann werden wir auf neue und euphorische Art und Weise verstehen, welchen ungehobenen Schatz das Andere, das Fremde, das Widersprüchliche, das Neue, das Unerkannte und Zufällige bedeuten. Erst, wenn wir uns in transnationalen themen-, gruppen- und sogar artenübergreifenden Netzwerken organisieren, wird uns klar werden, dass es tatsächlich keine Trennung gibt, sondern nur stärkere und schwächere Bindungen. Trennung ist eine nützliche gedankliche Hilfskonstruktion, mehr aber auch nicht.
Dem anderen eine Zuflucht sein – der soziale Aspekt
Erst, wenn wir uns überall und jederzeit in Netzwerken organisieren, werden wir unangreifbar flexibel. Denn wenn wir gemeinsam sind, sind wir auch stark: One World, One People. Nichts fürchten die Herrschenden mehr als ein sich verbindendes, funktionierendes Netzwerk solidarischer Untertanen, die ihr Menschsein erkennen und keinen „Führer“ mehr brauchen. Der Mensch ist aber erst dann dem Menschen ein Mensch, wenn er sich dem anderen mit allen Sinnen zuwendet. Und nichts macht uns mehr Hoffnung als die Vision einer starken Menschheit, die Vision eines gemeinsamen Heimatplaneten, für dessen Gedeihen und Fruchtbarkeit wir alle sorgen, wo wir wirklich Mensch sind, jeder dem anderen Zuflucht und Sicherheit, alle einander willkommen heißend, das Narrativ einer solidarischen Menschheit in einer intakten Natur – One Earth, One People.
Trügerische Sicherheit – der psychologische Aspekt
Nur gemeinsam können wir stark sein. Arbeit können wir verlieren, Geld können wir verlieren, Besitz können wir verlieren, die körperliche und geistige Gesundheit können wir verlieren. So sehr uns Geld und Besitz Sicherheit verheißen – es bleibt eine trügerische Sicherheit, die von kleinen und großen Schicksalsschlägen gefährdet oder zerstört werden kann. Eine Fehlkalkulation, eine Wirtschaftskrise, ein Unwetter, ein Unglücksfall, eine Krankheit kann uns den Boden unter den Füßen wegziehen, ein Erdbeben, eine Seuche. Deshalb sind uns Gruppenbindungen, freundschaftliche Bindungen oder Liebesbindungen so wichtig. Sie haben uns durch die Jahrhunderttausende vor dem Schlimmsten bewahrt. Vielleicht ist unser Wissen, dass Geld und Besitz nichts sind im Vergleich zum Aufgehobensein in einer starken sozialen Bindung, der tiefste Grund für unsere Unersättlichkeit, für unsere Gier nach immer mehr. Doch Geld und Besitz können uns nie Heimat sein, allenfalls ihr schaler Ersatz. Erst mit dem Satz One Earth, One People gewinnen wir die notwendende Sicherheit für eine unkalkulierbare Zukunft.