Peter Grohmanns Rede bei der Gedenkveranstaltung an die Deportationen der Sinti und Roma 1943 in den Wagenhallen Stuttgart am 15. März 2023 organisiert von Indus e.V. in vollem Wortlaut.

Registriert. Verraten. Verkauft. Verhaftet. Geschlagen. Gefoltert. Geprügelt. Gequält. Gestorben. Verdurstet. Verhungert. Ermordet.

Liebe Menschen,

Leben braucht Leben, Lebendigkeit, braucht Essen und Trinken und Liebe, braucht Einschlafen und Aufwachen im Frieden. Braucht Erkennen: Rom heißt Mensch.

Leben braucht Freude und Freunde und Zuhören, Leben braucht Sprechen können, Singen, Musizieren, Träumen. Leben braucht ein Zuhause. Leben braucht Würde, braucht Würde für Dich und Deine Nachbarin, wo immer ihr lebt. Leben braucht Wärme und Sicherheit und Hoffnung und Zuversicht. Das gilt für Dein Leben, für ihr Leben, für sein Leben, wo immer ihr seid.

Ihr seid hier, lebensfroh und fähig, laut zu sein. Ihr seid hier, um zu Trauern.

Ihr seid hier, um Euch einzumischen, um zu protestieren, zu warnen, Ihr seid hier, damit die Schlafmützen aufwachen: Rom heißt Mensch.

Ihr seid hier, um die Städte und die Rathäuser und die Regierenden und die Bürgerinnen und Bürger, aufmerksam zu machen auf ein Gesetz, das für alle gilt – für Heimatlose und Wohnungslose, für Menschen auf der Flucht, in den Bombenkellern, für Alte und für Kinder, für die Menschen in den Elendsquartieren, für die Gefolterten und Geschlagenen, für die Davongekommen, für uns also.

Wer kein Gesetzesbrecher sein will, hat auf dieses Gesetz zu hören:

Rom heißt Mensch – ob schwarz oder gelb oder rot oder lila, ob klug und weise oder sprachlos oder Träumerin der Demokratie.

Artikel 1 der Menschenrechte
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Solidarität begegnen.“ Und im Grundgesetz unserer Republik heisst es:
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das stimmt so nicht ganz. Es sollte ehrlicher heißen: Die Würde des Menschen sollte unantastbar sein.
Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Zählt die Würde der Menschen auch, jener, die aus Rumänien kommen oder aus dem Kosovo oder aus der Ukraine, die Würde der vergewaltigten Frauen und Männer, die Würde der Kinder? Denn ein Menschenrecht ohne Menschenwürde ist ein Leben in Angst, Unterdrückung und Zwang, denn kein Mensch hat das Recht, einem anderen Menschen Gewalt anzutun. Manchmal kann bloßes Zusehen, Zuschauen oder bewusstes Wegsehen schon Gewalt sein, weil es Menschenrechte ignoriert, weil das Weinen unserer Kinder überhört, weil es so tut, als könnten wir den Bombenalarm von Maarat al-Numan oder Odessa nicht hören.

1945, als wir an der Hand unserer Mutter aus dem zerbombten Dresden flohen, mein Bruder Ingo und ich, verstecken wir uns in den Wäldern ostwärts der Stadt vor dem Feind, dem Russen. Als der Feind aber kam, gab er uns, den Kindern des

Feindes, den halbverhungerten deutschen Kindern, ein Stück Brot und eine Suppe und der frierenden Mutter mit den Feindeskindern eine Decke für die Nacht und ein Dach überm Kopf. Fast 80 Jahre her …

Heute haben wir, eines der reichsten Länder der Erde, keine Suppe für die Kinder. Wir kippen unsere Suppen in den Müll. Heute haben wir, eines der reichsten Länder der Erde, keine Decken für die frierenden Menschen in den Flüchtlingslagern der Welt. Amazon verbrennt die Decken, vernichtet die Wintermäntel, weil die Frühjahrskollektion kommt. Die überschüssigen Ernten werden ins Meer geworfen, damit der Markt stabil bleibt.

Danke, dass Ihr für alle, die nicht weinen können, weint.
Danke, dass Ihr für alle, die nicht sprechen können, sprecht.
Danke, dass Ihr laut seid für alle, die keine Stimme haben

Ich empfehle den Menschen in Deutschland eine Schluckimpfung: Zuckerle gegen Dummheit und Ignoranz. Ich finde, das sollte man sagen. Und die Menschen um uns herum daran erinnern: Rom ist ganz einfach. Rom heißt Mensch.

Die Kränze, die man heute niederlegt an Denkmalen und Mahnmalen und Erinnerungsorten, die Rosen, die Nelken die roten, werden bald verwelkt sein. Verweht, vergessen. Fragen wir morgen morgen:

Wer erinnert sich an die Reinhards, die Eckstein, die Köhler, an die Weiss und Schneck und Winter, an die aus Ravensburg und Feuerbach und Magstadt?

Da war einer von Euch. Einer von ihnen. Einer von uns. Einer aus der Gruppe der Deutschen. Eine aus der Gruppe der Sinti und Roma, einer von den Jenischen.

Franz Reinhardt? Da kräht kein doch Hahn mehr! Franz Reinhard aus Württemberg wurde zwei Tage nach der Kapitulation im Gefängnis Bruchsal geköpft.

Am 10. Mai 1945.

Für die Familie Lauster und hunderte anderer zum Beispiel war das Grauen noch lange nicht zu Ende. Von allen, die unter uns jahrzehntelang gelebt, gearbeitet, gehandelt hatten, Feste gefeiert und ihre Toten begraben, kamen die wenigsten zurück. Von den in Ghettos und Konzentrationslagern verschleppten ‚Zigeunern‘ überlebten nur 4.000 bis 5.000 die Vernichtung. Alle, die zurückkamen, geschändet an Leib und Seele, von Wissenschaftlern und Ärzten mißbraucht, geschlagen, gefoltert,

aber überlebt.

Alle hatten zu tun: Sich gegen die Lügen in den Ämtern und Behörden zu wehren, um ihr bisschen Eigentum zu kämpfen, um ärztliche Fürsorge, um etwas Wohlfahrt, um ein‘ Appel und ein Ei. Hatten zu tun mit den Tätern von gestern, die fast nie bestraft wurden: Die verkommenen Davongekommenen.

Hatten zu tun mit den Folgen des Hungers, hatten zu tun mit den Folgen von Sterilisation, hatten zu tun mit der Trauer um den Tod ihrer Liebsten, hatten zu tun mit der Grabschändung der Familien Lauster. hatten zu tun mit den reinrassigen Deutschen. Es hat lange gedauert, bis man sich öffentlich erinnern durfte. Es hat

lange gedauert, bis die Städte und die Gemeinderäte so gnädig waren, Mahnmale aufzustellen – wenn man sich an der Finanzierung beteiligte, ging es schneller.

Heute hören wir die guten Worte unserer Herren. Was werden wir in 25 oder 50 Jahren hören? Wenn wir hier stehen, stehen wir auch für die heute Verfolgten, für die vielköpfige Roma-Familie, die die Landesregierung nach Serbien zurück- schickte – ins Elend der Vorstädte. Wenn wir hier stehen, stehen wir für die Opfer der Abschiebepolitik von Berlin über Budapest bis Warschau.

Wenn wir hier stehen, stehen wir die Ausgrenzten und Diskriminierten überall, für alle, die nicht sprechen dürfen, für die, die nicht mehr sprechen können. Für Sali Krasniqui, den Jugo, der 28 Jahre lang unter uns lebte, geflohen vor Krieg und Brandstiftern, einer, der hier lebte, ein Glücklicher in der Familie mit sechs Kindern und 14 Enkelkindern.

Ende 2020 wurde Sali Krasniqui ausgewiesen, abgeschoben, raus. Sali Krasniqui war schwerkrank. Er starb am 12. März 2021 in der neuen Fremde unter alten Feinden. Wenn wir hier stehen, denken wir an die Widerstandskämpferinnen von Auschwitz, an die Mutigen, und wir denken stellvertretend an die Tausend und Tausend und Tausend Ermordeten – Adelheid und Anton und Barbara und Crezenzia Lauster – Elisabeth, Franz, Heinrich, Johanna, Josef, Klara, an Maria Lauster und Otto und Paul und Sellina und Terese und Winfried …

Wenn wir nicht an die heute Verfolgten und Erniedrigten denken, an die, denen man die Würde raubt,dann brauchen wir keine Mahnmale mehr.

Heute trauern wir. Es sind Totenfeiern für die Eltern oder Urgroßeltern, für die Kinder, die nicht groß werden durften wie die aus Magstadt, aus Feuerbach, Ravensburg und hundert anderen Orten. Die wenigstens kamen zurück.

Aber die, die zurückkamen, mussten sich in den alten Rathausstuben bei den alten Nazis, melden. Rechtzeitig, sonst setzt es eine Ordnungsstrafe. Ordnung muss sein in Deutschland. Und der Ortspolizist von Magstadt war der alte, wie damals, und er sagte:

Ja, mit Euch hatten wir damals schon Schwierigkeiten… Ich hoffe, dass das nicht wieder vorkommt, sagte er.

Und der Stadtschreiber von Magstadt sagte: Ach, Sie leben noch? Sie waren so eine große Familie, ich erinnere mich. Naja, sagte er, „Ich nehme an, Sie passen sich an“, sagte er. Und der Nachbar drehte sich weg, und der Pfarrer und der Kaufmann und die Lehrerin …

Dein Grundstück, Zigeuner, mussten wir leider verkaufen, Du warst ja plötzlich weg.

Ja, niemand von Deiner Familie hat sich sehen lassen. Ja, wir konnten gar nicht anders…

Da war der Zigeuner still, und Zigeuner darf man jetzt nicht mehr sagen, aber vertreiben darf man sie noch und demütigen und kontrollieren und anpöbeln darf man sie, schlagen und fesseln und ausweisen.

Zigeuner können fliegen. Sinti und Roma auch Und Rom schaut zu.

Wir aber, alle,
wir Davongekommenen,
wir Glück-gehabt-Habenden, wissen es:

Nach den Mühen der Berge kommen die Mühen der Ebene
in diesen Zeiten. Es sind merkwürdige Zeiten. Zeiten zum Teilen und Zeiten, manche Dinge ein zweites Mal zu versuchen. Zeiten, in denen wir nicht aufgeben dürfen. Viele sagen: Alles, was zu tun war, liegt hinter uns. Zu lange Wege. Welches Ziel? Viele fragen: für was?

Es könnte gerechter sein auf der Erde. Es könnten alle satt werden, wo so viel Korn reift. Aber viele um uns sind mutlos. Müdigkeit. Noch vor dem ersten Schritt.

Ist nicht das Schmerzen der Füße nicht Zeichen des Stillstands? Man kann ja doch nichts machen, ruft es aus dem Wald zurück. Gleichgültigkeit ist das Schlimmste in unserer Zeit. Sie sucht ihren Bruder, die Mutlosigkeit, und die Schwester: Die Verzagtheit. Diese Zeit ist unsere Zeit. Eine andere gibt es nicht. Diese Leben sind unsere Leben. Lebt sie menschlich. Mit allen, was lebt.

Zu oft weht Müdigkeit durchs Land. Lobt mir deshalb die Orte, wo es auch einmal laut zugeht, auch wenn Ihr die leisen Töne mehr mögt. Wer den Kopf in den Sand steckt, darf sich nicht wundern, wenn die Zähne knirschen Heiterkeit und Fantasie können Berge versetzen. Oft genügt eine Schaufel.

Die Rede ist zur Veröffentlichung frei (open content).


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