Amalia van Gent für die Onlinezeitung Infosperber

Hunderttausende verlassen die zerstörten Städte und Dörfer im Erdbebengebiet. Der erzwungene Exodus schafft zusätzliche Probleme.

Die Bilder, die sich im Süden der Türkei und in Syriens Nordwesten seit dem 6. Februar ins Kollektivgedächtnis eingebrannt haben, sind selbst für Aussenstehende erschütternd: Das Bild jenes Vaters etwa, der auf den Trümmern seines Hauses sitzt, die Hand seiner unter Betonblöcken und verbogenen Armierungseisen liegenden Tochter hält, ihr liebevoll zuflüstert, noch ein wenig durchzuhalten, bis ihre Stimme immer leiser wird und schliesslich ganz verstummt. Ähnliche Szenen haben die Einheimischen in der zweiten Februarwoche tausendfach erlebt. Bereits die Erinnerung daran ist für sie deshalb eine Qual, ein Albtraum ohne Ende. Doch es gab auch Bilder von Tränen der Freude, zum Beispiel als eine Rettungsmannschaft 296 Stunden nach der Katastrophe unverhofft ein junges Ehepaar mit ihrem Sohn lebendig aus dem Geröll barg. Augenzeugen erzählen schliesslich vom Staub, der sich wie eine undurchdringliche Wolke hartnäckig auf die Schutt- und Geröllberge ihrer zerstörten und nun verlassenen Städte und Dörfer gelegt hat.

Unfassbares Ausmass der Katastrophe

Am 6. Februar hat ein doppeltes Erdbeben mit einer Magnitude von 7,8, respektive 7,6 den Süden der Türkei und Nordsyrien erschüttert. Es riss meterbreite Schluchten und Felder auf, deformierte Landstrassen und Flugpisten. Geologen sagen, das Beben habe die Erde teilweise bis zu drei Meter verschoben. Zweifelsohne war es das schwerste Erdbeben in dieser Region in den vergangenen hundert Jahren. Danach folgten mehrere Dutzend Nachbeben, von einer fast ebenso zerstörerischen Wucht wie die ersten Beben.

Einen Monat danach sind Regierung und Betroffene in der Türkei bemüht, das Ausmass der Katastrophe irgendwie in Zahlen zu fassen. Die offizielle Zahl der Toten soll bei rund 50’000 liegen, die Bewohner der Region schätzen die Opferzahl hingegen doppelt so hoch. Denn immer noch werden unzählige Menschen vermisst. Die Zahl der Gebäude, die wie Kartenhäuser in sich zusammensackten oder stark beschädigt und unbewohnbar sind, gab der Minister für Stadtplanung, Murat Kurum, vor kurzem mit «mehr als 173’000» an.

Ein Bericht des internationalen Ingenieurbüros für Katastrophenmanagement Miyamoto gibt präziseren Aufschluss über das Ausmass der Zerstörung. Die japanischen Experten hatten eine NASA-Satellitenkarte ausgewertet, welche die Schäden der verheerenden Erdbeben zeigt und kamen zum Schluss, dass «jedes zweite Gebäude in der Region beschädigt» sei. Verbittert weist die türkische Architektenkammer TMMOB darauf hin, knapp die Hälfte aller zerstörten Gebäude seien nach 2001 gebaut worden. Zu einer Zeit also, als bereits sehr strenge Bauvorschriften zur Erdbebensicherheit in Kraft waren und Recep Tayyip Erdoğan die Regierung anführte.

Erbauer der Nation

Seit seiner Machtübernahme träumte Erdoğan davon, als der «grosse Erbauer» der modernen Türkei – grösser noch als der Republikgründer Kemal Atatürk – in die Geschichte seines Landes einzugehen. Um diesen Traum zu verwirklichen, stützte er sich auf grosse Baulöwen. In den letzten zwanzig Jahren verhalf er ihnen zu einem beispiellosen Reichtum, im Gegenzug vermehrten sie sein Prestige und stützten damit seine Macht.

So bauten Baulöwen im Auftrag des Staates und zu Ehren Erdoğans im türkischen Westen die sogenannten «verrückten» Projekte: in Istanbul die grösste Brücke über den Bosporus und den Tunnel darunter, in Ankara die grösste Moschee und unzählige Satellitenstädte rund um alle grossen türkischen Metropolen. In einem atemberaubenden Tempo schossen zudem landesweit Autobahnen, Spitäler, Schulen und Hochhäuser wie Pilze aus dem Boden. Dabei haben sich die Bauherren offenbar weniger um Bauvorschriften kümmern müssen, je südöstlicher im Land sie aktiv waren.

Die Berge von Schutt und Geröll, die nun tonnenweise aus den zerstörten Städten entfernt werden müssen, sind die stummen Zeugen dieser ungestillten Geld- und Machtgier. Auf 84 Milliarden Dollar hat die Wirtschaftsvereinigung Türkonfed in einer ersten Schätzung die Kosten für den Wiederaufbau veranschlagt. Astronomische Summen, die zügig zur Verfügung gestellt werden müssten. Und schon bereiten sich die «Bauprinzen» vor, einmal mehr einen Teil des Kuchens für sich zu beanspruchen.

Multikultureller Gürtel der Türkei getroffen

Entlang der 100 Kilometer langen tektonischen Verwerfungslinie, die von Hatay am Mittelmeer bis hin zu Malatya, im südöstlichen Anatolien, reicht, stehen Hunderttausende nun buchstäblich vor den Trümmern ihrer Existenz. Noch stünden sie unter Schock, sagt Nil Deniz, die aus Hatay stammt. «Unter den Trümmern liegen aber noch Leichen, und für Überlebende gibt es oft keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, zu genügenden Nahrungsmitteln, zu einem sicheren Obdach. Es gibt auch keinerlei Anzeichen, die den Menschen das Gefühl geben, dass sie nicht allein gelassen werden. Viele drehen durch.» Nil Deniz warnt: «Auf die Trauer über den Verlust von engsten Verwandten und die Zerstörung ihres Lebensraums droht nun ein schwerer psychischer Zusammenbruch zu folgen.»

Wie Nil Deniz stimmen die meisten Beobachter vor Ort in einem überein: Viele quälende Tage habe es keine Hilfe seitens des Gouverneurs, der Katastrophenschutzbehörde Afad, der Staatsverwaltung oder einer anderen staatlichen Einrichtung gegeben. Der oppositionelle Journalist Can Dündar führt die Schwierigkeiten bei der Hilfe-Koordination indessen auf die «exzessive Zentralisierung» im «Staat Erdoğan» zurück: «Die Verwaltung wartete nach dem Erdbeben drei kostbare Tage lang auf einen entsprechenden Beschluss von Erdoğan», schreibt er auf seiner Webseite. «Das Militär, die am besten organisierte Kraft im Land, konnte aus Angst vor dem Vorwurf eines Staatsstreichs nicht eingreifen; die Hilfsaktionen der Gemeinden und Nichtregierungsorganisationen, die der Staat nicht kontrollierte, wurden blockiert. Währenddessen starben die Menschen unter den Trümmern und warteten vergebens auf die Hilfe des Staats.»

Wie ein lautes Echo hallt seit dem 6. Februar entlang der Verwerfungslinie daher dieselbe Klage: «Sie warten darauf, dass wir alle sterben – weil wir Christen sind», zitiert die linke Internet-Plattform Bianet eine verzweifelte Bewohnerin aus Antakya. «In unserem Dorf liegt nach dem Erdbeben kein Stein mehr auf dem anderen», erzählte Yilmaz Uzatmaz aus Adiyaman der kurdischen Agentur anf. Sieben Tage nach dem Beben sei in der Region noch kein einziger Beamter eingetroffen. «Weil wir Alewiten sind». Der Abgeordnete der einzigen pro-kurdischen HDP-Partei, Kemal Bülbül, sprach nach einem Besuch in der Erdbebenregion von der «grössten Tragödie des kurdischen Volks». Die schnellste Hilfe kam seitens der kurdischen und türkischen Zivilgesellschaft. Beide wurden von der Regierung gehindert. «Nur, weil wir Kurden sind.»

Das Erdbeben hat eine Region der Türkei getroffen, die als einzige im Land einen multikulturellen Charakter hat. Antakya, das einstige Antiochien, war nach Rom und Alexandria die drittgrösste Stadt der damaligen Welt und wichtiges Zentrum des frühen Christentums. Mit seinen rund 400’000 Einwohnern bildete es bis vor kurzem die Heimat der kleinen, arabisch-sprachigen, christlichen Minderheit der Türkei. Die um Antakya herumliegende Provinz Hatay beherbergte hingegen die Mehrheit der ebenso arabisch-sprachigen religiösen Minderheit der Alewiten, die einer besonders liberalen Auslegung des Islams nachgehen.

Das Gebiet von Hatay in Richtung Gaziantep und Mardin wurde von einer gemischten Bevölkerung bewohnt: Arabisch-sprachige Christen und Alewiten sowie türkisch- und kurdisch-sprachige Sunniten waren hier zuhause. Um Gaziantep und Adiyaman, bei denen das Epizentrum des Bebens lag, liessen sich im letzten Jahrzehnt über eine Million Flüchtlinge aus Syrien nieder und trugen als Billig-Arbeitskräfte massgeblich zum wirtschaftlichen Aufschwung der Region bei.

Vom hochgelegenen Mardin aus mit seinen aus Sandstein gebauten Kirchen, Klöstern und Moscheen aus vergangenen Jahrhunderten, erstreckt sich weiter östlich Südostanatolien, die Heimat der Kurden. Südostanatolien war schon immer das Armenhaus der Türkei. Hier herrscht Krieg und Repression. Die Bevölkerung rebelliert, weil die Identität der kurdischen Minderheit der Türkei, immerhin weit über 15 Millionen Menschen, offiziell nach wie vor geleugnet wird, weil ihre Jugend in Armut lebt und seit Jahrzehnten nichts anders kennt als Krieg.

Wie wird sich die Erdbebenkatastrophe wohl mittel- und langfristig auf diesen multikulturellen Gürtel der Türkei auswirken?

Der grosse Exodus

Wenn die grosse, afrikanische Platte sich auf die kleinere anatolische reibt, dann entstehen Erdbeben wie in einer Apokalypse. «Während wir in einen tiefen Schlaf fielen, brach plötzlich ein gewaltiger Lärm aus. Die Erde bebte heftig, die Felsen zersprangen und die Hügel zerbrachen. Die Berge schallten heftig. Die klangen wie Tiere» notierte Mateos aus Edessa (dem heutigen Urfa an der türkisch-syrischen Grenze) in seinem Tagebuch. «Jeder gab die Hoffnung auf sein Leben auf und dachte, der Tag des jüngsten Gerichts sei gekommen. Viele Städte und Dörfer wurden in dieser Nacht verwüstet». Das war im Jahr 1114.

Und jetzt?

Ende Februar meldete die Presse, dass rund 50’000 syrische Flüchtlinge aus dem zerstörten Gebiet im Süden der Türkei ins mindestens ebenso zerstörte Gebiet im Westen Syriens zurückgekehrt seien. Banden türkischer Rechtsextremisten würden durch die Städte ziehen und mit brutaler Gewalt gegen Flüchtlinge vorgehen. Die Presse spricht aber auch vom Exodus der Einheimischen. Laut der regierungsnahen Zeitung «Hürriyet» seien bis Ende Februar über zwei Millionen Menschen in den Westen der Türkei ausgewandert. Diese durch das Beben erzwungene Migration droht zu einer «sozialen Katastrophe» auszuwachsen. Die Bevölkerung in der Provinz Mersin sei um 40 Prozent gestiegen und habe die Ressourcen der Stadt, was Infrastruktur, Unterkunft, Transport und Gesundheit betreffe, längst überschritten, stand in einer gemeinsamen Erklärung von 47 Institutionen und Nichtregierungsorganisationen der Provinz. So wird die Katastrophe aus dem Bebengebiet wie ein wanderndes Unheil überall ins Land getragen.

Die Türkei ist dringend auf internationale Hilfe angewiesen. Ob die Weltgemeinschaft diese Hilfe von Erdoğans extrem zentralistischem Staat verwalten lässt oder ob sie sinnvollere Wege findet, um sie Organisationen vor Ort und somit den Betroffenen zur Verfügung zu stellen, wird sich bald zeigen.

 

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