Die multiplen globalen Krisen wirken tief in den Alltag, erschweren oder zerstören die Lebensmöglichkeiten von Millionen Menschen, vor allem im globalen Süden. Um trotzdem über die Runden zu kommen, schließen sich viele zusammen und organisieren ihre Versorgung gemeinsam. Solche lokalen oder regionalen solidarökonomischen Vorhaben sind oft klein und wenig bekannt, dabei ließe sich vieles von ihnen lernen, und als ermutigende Beispiele sind sie Beweise gegen die viel zu oft propagierte Alternativlosigkeit kapitalistischer Entwicklung, die unübersehbar die Welt zu zerstören droht.
Seit 2018 sammelt ein Netzwerk global tätiger Organisationen unter Federführung des Transnational Institute (TNI) mit Sitz in Amsterdam herausragende Projektbeispiele in einem „Atlas of Utopias“. Die dort vorgestellten Beispiele werden in einem Wettbewerb ermittelt, der jedoch keine Konkurrenz befördern, sondern Öffentlichkeit schaffen soll.
Am 9. Dezember 2022 wurde der „Transformative Cities Award“ zum vierten Mal vergeben, in den Kategorien Wasser, Elektrizität, Wohnen und Nahrung. Aus Bewerbungen und Vorschlägen hatten Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen aus jeder Kategorie drei Projekte ausgewählt, die alle in den Atlas der Utopien aufgenommen werden. An der Vergabe des Publikumspreises hatten sich 16.000 Menschen aus aller Welt beteiligt. Die Gewinner*innen bekommen je 1.500 Euro, am wichtigsten ist jedoch die öffentliche Sichtbarkeit für alle.
Für Brunnenbauer und Radfahrerinnen
Der erste Preis in der Kategorie Wasser ging an „Million Wells for Bengaluru“ in Indien. Zur Wasserversorgung der schnell wachsenden Stadt Bengaluru (früher Bangalore geschrieben) initiierte eine lokale Nichtregierungsorganisation eine Bildungskampagne zum Bau von Anreicherungsbrunnen. Die NGO konnte erreichen, dass die bislang gesellschaftlich ausgegrenzten Brunnenbauer wieder wertgeschätzt werden, ihr traditionelles Handwerk ausüben können und dafür sorgen, dass das Grundwasser wieder aufgefüllt wird und die Überschwemmungen zurückgehen.
Fahrradfahren bedeutet vor allem für Frauen einen ungeheuren Zuwachs an Autonomie. Das Projekt „No Bicycle, No Planet“ in der Stadt Guazapa in El Salvador bekam den ersten Preis für Energie. Es bietet Bildungsprogramme für sicheres Fahren und Fahrradreparaturen an. Landesweit wurden 50 Fahrradwerkstätten eingerichtet, 20 werden von Frauen geleitet. Das Fahrrad ist ein umweltschonendes Verkehrsmittel, das die Gesundheit fördert. Das hat auch die Stadtverwaltung eingesehen und ein Programm für sichere Radwege aufgelegt.
Sechzehn Kooperativen – eine davon eine reine Frauengenossenschaft – mit zusammen rund 10.000 Landwirt*innen haben sich im Projekt „Sahaja Aharam“ im indischen Hyderabad zusammengeschlossen, das den ersten Preis in der Kategorie Nahrung gewonnen hat. Unter dem Dach eines Zentrums für nachhaltige Landwirtschaft vertreiben sie ihre selbst angebauten und teilweise weiterverarbeiteten Lebensmittel, die alle ökologisch zertifiziert sind. Durch den Verkauf im lokalen Umfeld sparen sie Kosten und Energie ein und vernetzen sich mit ihren Kund*innen.
Anders Wirtschaften ist möglich
Das Projekt „Kirtipur Sambriddha Awas“ in Nepal, das den ersten Preis in der Kategorie Wohnen bekam, ist ein gelungenes Beispiel für eine geplante städtische Umsiedlung. Als vor 17 Jahren 43 Familien wegen dem Bau einer Straße aus ihrer informellen Siedlung (Slum) vertrieben werden sollten, gelang es der NGO Lumanti, die Räumung aufzuschieben und dann mit finanzieller Unterstützung durch die Stadtverwaltung und internationale Organisationen Land zu erwerben und darauf erdbebensichere Häuser bauen zu lassen. Die Bewohner*innen waren in den ganzen Prozess einbezogen und konnten ihre vorher krankmachenden Lebensbedingungen deutlich verbessern, mit positiven Auswirkungen auf viele andere Lebensbereiche.
Einen Anerkennungspreis bekam das palästinensische Frauenprojekt „100 % erneuerbare Energie für Gaza“. Es versucht den Menschen, die unter der Blockade durch Israel zu leiden haben, Licht und Hoffnung zu bringen. Gemeinsam mit lokalen NGOs installieren sie Solaranlagen und Batterien, als Beitrag zum Umweltschutz und zur Versorgungssicherheit bei Stromsperrungen.
Diese und viele andere Projekte zeigen: Anders Wirtschaften ist möglich. Damit auch arme und benachteiligte Menschen daran teilhaben können, ist jedoch solidarische Unterstützung notwendig.
Weitere Informationen: transformativecities.org/atlas-of-utopias
Der Artikel von Elisabeth Voß erschien in der Ausgabe Februar/März 2023 der Berliner Umweltzeitung Rabe Ralf.
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