Jürgen Wagner analysiert „Deutschlands Zeitenwende zu Aufrüstung und Militarisierung“.
„Handschlagqualitäten“ versprach sich Rheinmetall-Chef Armin Papperger von dem frisch vereidigten Verteidigungsminister Boris Pistorius. „Wir brauchen uns gegenseitig“, so Papperger, das Verhältnis zur Rüstungsindustrie müsse eng sein. „Die 100 Milliarden werden nicht reichen“, gab Pistorius bald darauf gegenüber der Süddeutschen Zeitung zu verstehen, die Lieferung von Leopard-Panzern an die Ukraine war gerade besiegelt. Und das Zwei-Prozent-Ziel der NATO? Auch das reiche nicht, tut das Militärbündnis dieser Tage kund. Nicht erst seit der „Zeitenwende“ sieht Jürgen Wagner, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI), die Bundesrepublik „im Rüstungswahn“. In seinem gleichnamigen Buch geht er einer Entwicklung nach, die seit längerem forciert werde. Einen „von langer Hand geplanten Paradigmenwechsel hin zu einer militärischen Großmachtpolitik“ datiert Wagner auf den Februar 2014, als es zu einem „denkwürdigen Auftritt des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck bei der Münchner Sicherheitskonferenz“ gekommen sei.
„Die Pickelhaube steht uns nicht“, erinnert Wagner an die Worte des einstigen Bundesaußenministers Guido Westerwelle von 2013. Es war die Zeit, als sich Deutschland nach einem Strategiewechsel hin zum Umbau der Bundeswehr zur Interventionsarmee etwas besonnener gab: Nach einer Phase der „Enttabuisierung des Militärischen“ (Bundeskanzler Gerhard Schröder) legte sich eine schwarz-gelbe Bundesregierung eine Politik der militärischen Zurückhaltung auf und verweigerte 2011 führenden NATO-Verbündeten die Teilnahme am Krieg gegen Libyen. Doch nicht nur bei den Grünen und unter den Leitmedien erntete das Kabinett Merkel II Kritik dafür, bei den Luftangriffen auf Tripolis „an der Seitenlinie“ gestanden zu haben. Im Hintergrund bereitete das Projekt „Neue Macht – Neue Verantwortung“ unter Federführung der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und des German Marshall Fund (GMF) eine Abkehr von einer „Kultur der Zurückhaltung“ vor, die man nun als „außenpolitisches Selbstverständnis der alten Bundesrepublik bis 1990“ verhöhnte.
Das Projekt „Neue Macht – Neue Verantwortung“ brachte ab November 2012 erklärtermaßen rund 50 „außen- und sicherheitspolitische Fachleute aus Bundestag, Bundesregierung, Wissenschaft, Wirtschaft, Stiftungen, Denkfabriken, Medien und Nichtregierungsorganisationen“ zusammen und zielte mit „neuen Weltmachtansprüchen“, so Wagner, auf einen Paradigmenwechsel unter einer neuen Bundesregierung ab Herbst 2013. Mit Erfolg: Unter dem schwarz-roten Kabinett Merkel III war es an Bundespräsident Joachim Gauck, die neue Leitlinie zu präsentieren. Die Dinge fügten sich: Thomas Kleine-Brockhoff, einstiger Leiter des German Marshall Fund, leitete nun bei Gauck die Stabsstelle Planung und Reden. Es liege daher „mehr als nahe“, so Wagner, dass die Ausarbeitungen des Projekts „Neue Macht – Neue Verantwortung“ „faktisch als Blaupause für Gaucks viel beachtete Rede fungierten, für die er die Münchner Sicherheitskonferenz Anfang 2014 zusammen mit Ursula von der Leyen (Verteidigungsministerin) und Frank-Walter Steinmeier (Außenminister) als Bühne nutzte“.
Das neue Selbstverständnis konnte nicht ohne Auswirkungen auf die Rüstungsindustrie bleiben. Und das nicht nur wegen anhaltender Etaterhöhungen der Bundeswehr. Denn um sich „in der neuen Ära der Großmachtkonkurrenz auf dem internationalen Parkett überhaupt Gehör verschaffen zu können“, werde es für nötig gehalten, so Wagner, „umfassende eigenständige militärische Fähigkeiten« zu erlangen – also die heimische Rüstungsindustrie zu stärken anstatt das Material im Ausland »von der Stange“ zu kaufen. „Politische Gestaltungskraft“, postulierte Hans-Gert Pöttering, langjähriger Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, sei in der internationalen Politik „unveränderlich an militärische Stärke gebunden“. Das ordnet Wagner wiederum in das „Konzept der strategischen Autonomie“ ein – unterteilt in politische, operative und industrielle Autonomie. Mit dem „Strategischen Kompass“, im März 2022 auf dem EU-Gipfel verabschiedet, stellen sich innerhalb eines transatlantischen Selbstverständnisses Fragen nach einer größeren Beinfreiheit gegenüber den USA.
Eine „kaputtgesparte Bundeswehr“? Wagner bezeichnet die „Schrotthaufen-Debatte“ als „perfekt orchestriert“ und datiert deren Beginn auf Oktober 2014. Erstaunlich genau lassen sich Gutachten von Rüstungslobbyverbänden samt Stichworten wie „Agenda Rüstung“ mit entsprechenden Schlagzeilen jener Zeit in Verbindung bringen: „So Schrott ist die Bundeswehr“ (Bild), die Truppe gleiche einem „stahlgewordener Pazifismus“ (Die Zeit), sie sei „chronisch unterfinanziert“ (Deutschlandfunk). Drehorgelartig ist derlei bis heute zu hören – mit entsprechender Wirkung. Für den großen Dammbruch brauchte es indes den Ukraine-Krieg. Die Pläne zu einer massiven Aufrüstung lagen längst in den Schubladen, als Ende Februar 2022 mit einer verkündeten „Zeitenwende“ ein „Sondervermögen“ über 100 Milliarden Euro handstreichartig freigemacht wurde.
Wohin die Gelder fließen? Wagner liefert Zahlen und Fakten. Nachschlagecharakter hat das Kapitel „Rüstung – Rüstung – Rüstung“, in dem aufgeschlüsselt ist, wie viel Milliarden aus dem Sondervermögen in die „Dimension Luft“, „See“ und „Land“ sowie in die „Dimension Führungsfähigkeit/Digitalisierung“ fließen. Wer sich gerne mit Waffengattungen und Ähnlichem auseinandersetzt, kommt hier nicht zu kurz: Jeweils einzelne Absätze drehen sich etwa um den Kampfjet F-35 oder die Heron-TP-Drohne, die Fregatte F-126 oder die Korvette K130, Schützenpanzer oder das Main Ground Combat System (MGCS), die Satellitenkommunikation (SatComBW) oder das Tactical Wide Area Network (TaWAN). Wer derlei eher überfliegt, wird dennoch von der präzisen Recherche überzeugt sein.
Wagner überzeugt mit einem nüchternen Stil, mit dem er Entwicklungen in Politik und Militär nachzeichnet; mit dem er Haushaltsposten gleichermaßen wie Großmachtinteressen benennt. Er belässt es nicht dabei, quantitative Ausgaben in der Rüstungspolitik wiederzugeben, sondern ordnet das Material etwa unter Auswertung von Strategiepapieren auch in eine qualitative Entwicklungen ein. So brandgefährlich gerade die aktuelle Militärpolitik auch sein mag: Um sie zu analysieren, braucht es keinen Schaum vorm Mund.
„Läuft bei ihm“, überschrieb die Süddeutsche Zeitung im April 2022 ein Porträt von Armin Papperger, dem Chef von Rheinmetall, einem der großen Profiteure der „Zeitenwende“. Denn „mit dem Krieg in der Ukraine steigt nicht nur der Aktienkurs immer weiter, das Geschäft könnte florieren wie nie“. Wie lange das noch der Fall sei, hänge von „antikapitalistischen Kämpfen“, vom „Widerstand gegen Zeitenwende und Turbo-Militarismus“ ab, schreibt Wagner im Ausblick. Eine „Kehrtwende“ sei „dringend erforderlich, die Verstetigung der Zeitenwende“ müsse „unbedingt verhindert werden“. Man darf gespannt sein; denn auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung laut mancher Umfrage gegen Waffenlieferungen ist, so ist derzeit jene Branche in der Offensive, in der – so Papperger – ein Handschlag noch zählt.
Jürgen Wagner: Im Rüstungswahn. Deutschlands Zeitenwende zu Aufrüstung und Militarisierung, PapyRossa Verlag, 212 Seiten, 16,90 Euro