Nachdem bei den Protesten gegen die Regierung in Peru bereits mehrere Dutzend Menschen ums Leben gekommen sind, ermittelt inzwischen die Staatsanwaltschaft wegen Mordes. Obduktionen und ballistische Untersuchungen als Teil dieser Ermittlungen bestätigen den Tod von Personen durch Waffen des Militärs. Mindestens 30 der bei den Protesten getöteten Zivilist*innen kamen durch aus Gewehren oder Pistolen abgefeuerte Munition ums Leben. Dass diese Schusswunden von Schrotmunition oder Tränengasgranaten stammen könnten, wird von Expert*innen ausgeschlossen, denn die Leichen wiesen Einschusslöcher und Ausschusslöcher auf, vor allem in der Brust und im Kopf. In mehreren Fällen wurde den Opfern in den Rücken geschossen.
Am 15. Dezember 2022, einen Tag, nachdem die Regierung von Dina Boluarte den Ausnahmezustand in Peru verhängt hat, versuchten hunderte Demonstrant*innen, den Flughafen von Ayacucho zu besetzen. Um die Landebahn freizubekommen, gingen Polizei und Armee mit letalen Schusswaffen gegen die Demonstrierenden vor. Schüsse wurden auch dann noch abgefeuert, als die Demonstrant*innen bereits flüchteten. An jenem Tag verließ der 51-jährige Edgar Prado Arango sein Haus, um einem Verletzten zu helfen. Dabei wurde er von zwei Schüssen getroffen. Auf den Bildern einer Überwachungskamera ist zu sehen, wie er auf Knien versucht, einer Person aufzuhelfen. Danach fiel er zu Boden. Er starb durch eine offene Brustverletzung.
Die Obduktion als Teil der staatsanwaltlichen Untersuchung hat bestätigt, dass Edgar Prado Arango durch zwei Projektile getötet wurde, die aus Kriegswaffen abgefeuert wurden. In seinem Körper befand sich eine Patrone aus einem Gewehr von Heckler & Koch oder Galil und eine 9 mm-Patrone, heißt es in dem forensisch-ballistischen Gutachten der peruanischen Nationalpolizei, zu dem das Onlinemedium OjoPublico Zugang hatte.
Das Gewehr der deutschen Waffenschmiede Heckler & Koch ist ein Sturmgewehr mit Projektilen des Kalibers 5,56 mm; das Galil ist ein Sturmgewehr aus Israel, mit Kugeln zwischen Kaliber 5,56 und 7,62 mm. Die effektive Reichweite beider Waffen liegt je nach Typ zwischen 400 und 800 Metern. Beide Gewehre gelten als Militärwaffen und sind Teil der Bewaffnung der peruanischen Armee. „Es sind Waffen mit hoher Geschwindigkeit, sie gelten als Kriegswaffen“, erklärt die Gründerin des Peruanischen Teams für Forensische Anthropologie (EPAF), Carmen Rosa Cardoza. Laut der Expertin zeigen die Daten des ballistischen Gutachtens, dass Prado Arango von zwei Projektilen getroffen wurde: einem mit hoher Geschwindigkeit (Kriegsgewehr) und einem aus kurzer Distanz (Pistole).
Zehn Erschossene bereits am 15. Dezember
Die Proteste in Peru begannen am 7. Dezember 2022, nachdem Präsident Pedro Castillo mit seinem Selbstputsch gescheitert und daraufhin vom Kongress abgesetzt worden war. Am 15. Dezember hatten sich die Unruhen auf mehrere Landesteile ausgeweitet, die Interimsregierung unter Dina Boluarte erklärte den Ausnahmezustand. An jenem Tag wurden allein in der Provinz Ayacucho 50 Menschen durch die Sicherheitskräfte verletzt – und zehn Menschen getötet, darunter ein Minderjähriger. Alle Getöteten starben durch Schussverletzungen.
Eine Analyse der Obduktionen und ballistischen Untersuchungen, die OjoPúblico einsehen konnte, bestätigt die Anwendung von Kriegswaffen (Gewehren) und anderen tödlichen Schusswaffen (Pistolen) durch die Sicherheitskräfte, um die Demonstrant*innen zu vertreiben. Obwohl die Interimspräsidentin Dina Boluarte mehrfach behauptet hat, man wisse nicht, von wem die Schüsse abgefeuert wurden, belegt die ballistische Untersuchung der Leiche von Prado Aranga den Einsatz von Schnellfeuerwaffen durch die Armee.
Tödliche Schüsse aus Waffen von Heckler & Koch und Galil
Seit Dina Boluarte am 7. Dezember Präsidentin wurde, wurden 48 Menschen direkt bei den Protesten getötet (47 Zivilist*innen und ein Polizist). Weitere zehn Zivilist*innen starben bei Unfällen oder anderen Zwischenfällen im Zusammenhang mit den Straßenblockaden. Die Mehrzahl der Obduktionen der direkt bei den Protesten Getöteten ergab als Todesursache: Einschuss mit Projektil aus einer Schusswaffe.
Am 15. Dezember starb auch der 34-jährige Jhon Mendoza Huarancca aus Ayacucho an seinen Schussverletzungen. Zwei Kugel traten in seinen Körper ein und wieder aus, eine trat erneut ein. Mendoza kam so insgesamt auf fünf Schussverletzungen. Josué Sañudo Quispe (31), Raúl García Gallo (35) und David Huancco Chacca (27) starben ebenfalls auf diese Weise.
Dasselbe Bild ergibt sich in der südperuanischen Provinz Puno. Am 9. Januar versuchten dort Demonstrant*innen, den Flughafen Inca Manco Cápac der Stadt Juliaca einzunehmen. Auch hier reagierten Militär und Polizei mit dem Einsatz scharfer Waffen. Diesmal kamen 17 Zivilist*innen ums Leben, darunter ein Minderjähriger und sechs junge Menschen unter 23 Jahren, die alle ebenfalls durch Projektile von Schusswaffen getötet wurden. Bei den Obduktionen wurden Einschusslöcher von Geschossen des Kalibers 7,6 mm (Kriegswaffen) und Überreste von Geschossen des Kalibers 9 mm (Pistolen) gefunden.
Zwei Personen, die bei diesem Angriff starben, waren Eberth Mamani Arqui (40 Jahre) und Reynaldo Ilaquita Cruz (19). Sie starben durch Schüsse in den Kopf bzw. in die Brust. Auch hier stammten die Projektile aus einläufigen Waffen (Gewehr oder Pistole), auch hier verursachte das Projektil ein Ein- und Austrittsloch. „Es war wie in Ayacucho, es sind Einzelladerwaffen mit nur einem Projektil“ sagte eine Quelle aus dem Innenministerium gegenüber OjoPúblico. „Alle wurden aus weiter Entfernung abgeschossen, willkürlich auf jeden, den man kriegen konnte.“
Todesschüsse bereits vor dem Ausnahmezustand
Die erste Region, in der die staatliche Repression zu zahlreichen Todesopfern führte, war Apurímac am 11. und 12. Dezember 2022. Auch hier versuchte eine Gruppe von Demonstrierenden, den Flughafen von Andahuaylas zu besetzen, und zwar noch vor der Verhängung des Ausnahmezustands. Wie in Puno und Ayacucho wiesen die Getöteten auch hier Schüsse in den Brustkorb und den Kopf auf, wie die Obduktionen und ballistischen Untersuchungen bestätigen.
Ein Beispiel ist der 18-jährige Wilfredo Lizarme Barboza, der durch den Einschuss eines Projektils starb, das von vorne durch den Brustkorb eindrang und am Rücken austrat. Der 15-jährige David Atequipa Quispe, das erste minderjährige Todesopfer seit Beginn der Unruhen, wurde von einer Kugel in den Rücken getroffen, die seine Rippen, seine Lunge und seine Muskeln durchschlug und durch sein rechtes Schlüsselbein wieder austrat. Auch der 18-jährige Jhon Enciso Arias starb durch einen Schuss in den Rücken.
Sachverständige gehen bei diesen drei Fällen in Apurímac davon aus, dass jeweils ein 9 mm-Projektil aus einer Pistole abgefeuert wurde. Aufgrund der Durchschlagkraft im Fall von Enciso Arias könnte der Schuss aus kurzer Distanz abgefeuert worden sein.
Die Anthropologin Carmen Rosa Cardoza vom Forensik-Team EPAF schließt aus, dass die untersuchten Toten durch Schrotkugeln oder Tränengaspatronen getötet worden sein könnten, da diese mit Mehrfachladungen abgefeuert werden. Viele der getöteten Demonstrant*innen kamen aufgrund von Durchschüssen ums Leben; Schrotkugeln hingegen bleiben im Körper stecken.
Was sagen die Gesetze zur Anwendung von Schusswaffen?
Sowohl die peruanischen Gesetze als auch internationale Vorschriften verbieten den Einsatz tödlicher Waffen und von Kriegswaffen gegen Demonstrant*innen. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission CIDH empfiehlt sogar, bei der Aufrechterhaltung der inneren Ordnung die Streitkräfte nicht einzusetzen, da dies das Risiko von Menschenrechtsverletzungen erhöhe.
Erst im Oktober 2022 hat das Generalkommando der peruanischen Nationalpolizei die Richtlinien für polizeiliche Operationen zur Kontrolle, Erhaltung und Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung überarbeitet. Darin heißt es:
„In den polizeilichen Maßnahmen zur Kontrolle, Bewahrung und Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung während Unruhen oder gewalttätigen Versammlungen darf das Polizeipersonal keine tödlichen Schusswaffen einsetzen – außer, wenn eine einzelne Person identifiziert wird, die eine reale und unmittelbar bevorstehende Gefahr der Tötung oder schwerer Verletzung des Polizeipersonals oder Dritter darstellt, und wenn weniger extreme Maßnahmen sich als nicht ausreichend oder inadäquat erweisen.“
„Dies ist kein Krieg“
Schusswaffen dürften nicht als taktisches Mittel eingesetzt werden, sondern müssten immer das letzte Mittel sein, heißt es. Solche Waffen dürften nicht bei sozialen Unruhen eingesetzt werden, meint auch die Anthropologin Carmen Rosa Cardoza: „Diese Waffen gelten als Kriegswaffen, und dies ist kein Krieg.“
Der Ausnahmezustand sei kein Freibrief für die Ordnungskräfte, wahllos zu schießen, betont Gloria Cano, Direktorin der Menschenrechtsorganisation Aprodeh. Cano, zugleich Anwältin der Familien einiger der Getöteten, unterstreicht: „Die Schüsse müssen rational abgegeben werden. Wenn eine Person verwundet wird, ist es Körperverletzung; wenn sie ihr Leben verliert, ist es Mord“.
Auch Carmen Rosa Cardoza beunruhigt die hohe Anzahl der Einschüsse in Brust und Kopf: „Wenn du eine Person töten willst, zielst du auf die tödlichen Zonen (…) Das Muster, das wir in Apurímac, Ayacucho und Puno sehen, ist, dass der Großteil der Verletzungen durch Projektile mit hoher Geschwindigkeit die Körperregionen Brust, Bauch, Kopf und Hals getroffen hat; es ist also ein Muster der Menschenrechtsverletzung.“
Auch das Regelwerk, wie die peruanischen Streitkräfte bei einem Ausnahmezustand vorzugehen haben, ist in diesem Punkt klar: Auch hier dürfen Schusswaffen nur im Notfall abgegeben werden; in jedem Fall sei es „verboten, wahllos zu schießen“.
Boluarte leugnet weiterhin den Einsatz von Schusswaffen
Seit den ersten Todesopfern während der Proteste hat Präsidentin Dina Boluarte immer wieder kategorisch ausgeschlossen, dass die Sicherheitskräfte mit Schusswaffen gegen Demonstrierende vorgegangen seien. Selbst nach über 50 Tagen andauernder Proteste und trotz der Beweise durch ballistische Gutachten und Videoaufnahmen behauptet Boluarte weiterhin, dass sich nicht sagen ließe, dass die Schüsse von Polizisten oder Soldaten abgegeben worden seien.
Bereits nach den tödlichen Schüssen in Apurímac zu Beginn der Proteste erklärte sie am 13. Dezember, sie habe „der Polizei angeordnet, keine tödliche Waffe einzusetzen, nicht einmal Gummischrot“. Am 2. Januar wiederholte sie, dass bei gewalttätigen Auseinandersetzungen zwar Tränengas, aber kein Gummischrot eingesetzt werden dürfe: „Das waren meine Anordnungen (…) damit jederzeit die physischer Unversehrtheit aller Personen gewahrt bleibe.“ Zu dem Zeitpunkt gab es bereits 22 Tote, Dutzende Videos belegten den Einsatz tödlicher Waffen. Obwohl zudem Obduktionen und ballistische Untersuchungen auf den Einsatz von Schusswaffen der Marken Heckler & Koch und Galil hinweisen, hielt die Präsidentin daran fest, dass man die Herkunft der Waffen untersuchen müsse; sie unterstellte sogar den Demonstrant*innen, sich gegenseitig umzubringen.
Zu den tödlichen Auseinandersetzungen in Juliaca erklärte sie, 7.000 Menschen seien mit Schleudern und selbstgebauten tödlichen Waffen aufgetaucht und behauptete, die Todesfälle seien durch sogenannte Dum-Dum-Geschosse verursacht worden. Allerdings finden sich darauf in den Untersuchungsberichten bisher keinerlei Hinweise. Laut Boluarte hätten die Streitkräfte auch keinerlei Kontakt mit der Bevölkerung gehabt. Zahlreiche Videos und Augenzeugenberichte belegen jedoch das Gegenteil.
Weitere Ermittlungen laufen
Am 26. Januar erklärte das Innenministerium, es habe von Dezember 2022 bis Januar 2023 elf Ermittlungsverfahren eingeleitet um festzustellen, wer für den Tod der Demonstrierenden verantwortlich ist. Die Anzeigen stammen allerdings nicht vom Innenministerium selbst, sondern von mehreren Anwaltskollektiven. So läuft nun ein Ermittlungsverfahren gegen Dina Boluarte wegen „Genozid, Mord und schwerer Körperverletzung“. Gleichlautende Anzeigen wurden auch erstattet gegen den Parlamentspräsidenten Alberto Otárola, sowie gegen die Minister für Inneres und Verteidigung, Víctor Rojas und Jorge Chávez.
Für Anwältin Cano handelt es sich nicht um einen Genozid, wohl aber um außergerichtliche Hinrichtungen. Sie beklagt zudem Behinderungen bei den Ermittlungen, vor allem in Ayacucho. So würden Informationen über die Einsatzpläne und die Bewaffnung der Einsatzkräfte zurückgehalten. Auch gegenüber OjoPúblico wollten die Streitkräfte keine Informationen über ihr Vorgehen gegen die Demonstrierenden preisgeben. Diese Informationen seien vertraulich, hieß es.