Zemeckis scheint in „Forrest Gump“ über eines der schrecklichsten Kapitel der US-Geschichte, den Vietnam-Krieg und dessen Verantwortliche, hinwegzugehen.
Da läuft jemand, rennen kann man eigentlich nicht sagen. Anfangs flieht er, vor den Aggressionen irgendwelcher Jungen, dann läuft er um das Leben anderer, dann für sich selbst, zur Ostküste und von dort zur Westküste, zum Meer. Manchmal ist es ein Laufen zu etwas, zu jemandem, dann erscheint dieses Laufen als etwas, das keinen bestimmten Grund hat. Doch bei Forrest Gump (Tom Hanks, als Junge: Michael Conner Humphreys) geschieht eigentlich nichts wirklich, was keinen Grund hat, vielleicht eher: keine Bedeutung. Dies scheint widersinnig, weil der, um den es geht, zu den so genannten „Dummen“ auf der Welt gehören soll, dem man bereits in jungen Jahren einen Intelligenzquotienten von 75 und ein weiches Rückgrat „wie bei Politikern“, wie sich sein Arzt (Harold G. Herthum) ausdrückt, bescheinigt und deshalb Schienen an den Beinen befestigt hat. Während der niedrige IQ bei Gump zum Ausschluss aus dem „normalen“ Schulalltag führen soll, was seine Mutter (Sally Field) zu verhindern weiss, sollen ihm die Schienen die Hilfe bieten, die einen solchen Kerl gerade mal vielleicht zum Hilfsarbeiter emporkommen lassen.
Aber die, die ihn kennen, seine Mutter und seine Jugendfreundin Jenny (Hanna R. Hall als Kind, Robin Wright Penn als Erwachsene), wissen es besser. Forrest läuft, und als er in das Football-Stadion läuft, wissen es auch andere besser oder ahnen jedenfalls anderes. Laufen, das ist Gumps Potential. Die Schienen sind längst weg, und Forrest läuft schnurstracks durch sein Leben und die Weltgeschichte der 60er und 70er Jahre der Staaten. Wie ein Bogen spannt sich der Marathon über ein Leben, über das Leben anderer und über die kritischsten Momente der US-Geschichte jener Jahre. Ganz ruhig sitzt er auf einer Bank, wartet auf den Bus, der ihn zu der Liebe seines Lebens bringen soll, und erzählt einer Krankenschwester, einer Frau mit Kind, einem Mann und dann einer älteren Dame, was er gesehen und erlebt hat. Ob er läuft oder jetzt hier sitzt und erzählt: Forrest jagt nichts und niemandem hinterher, er hat kein Ziel, keinen Plan, nicht einmal eine Überzeugung im Sinne eines Standpunkts, von dem aus er sein Leben und das der anderen beurteilt, einschätzt, abwägt. Wie auch bei IQ 75, mag man meinen. Aber das ist nicht der Grund. Gump hat eine Antenne, die ihn jederzeit verortet, eine, die seine soziale und emotionale Intelligenz intensiv zum Ausdruck bringt, eine Art Fühler, das zu tun, was gerade für ihn oder andere richtig ist, eine die ihm sagt, was gut und böse ist, wer gut und wer böse ist.
Nebenbei und wie zufällig im wahrsten Sinn des Wortes erfindet er Elvis Presleys Gebärden beim Auftritt auf den Bühnen der Welt, steigert sein Tischtennisspiel zu wahren Höchstleistungen, unterhält sich mit John Lennon in der Dick-Cavett-Show, beobachtet Gouverneur Wallace beim Versuch, schwarze Studenten am Betreten der Universität zu hindern, deckt – ohne es zu wissen – den Watergate-Skandal auf und schüttelt drei US-Präsidenten – Kennedy, Johnson und Nixon – die Hände. Geschichte als Zufall, etwas Zugefallenes. Regisseur Zemeckis („Back To The Future“, I-III, 1985, 1989, 1990; „Cast Away“, 2000) montiert seinen Helden in Schwarz-Weiss-Bildern in die Dokumentaraufnahmen mit Präsidenten, Lennon und anderen. Gump wirkt als stiller Beobachter, Begleiter historischer Ereignisse, vor allem des Vietnam-Krieges.
„Dumm ist es, etwas Dummes zu tun“, sagt Mrs. Gump. Und Forrest hat sich dies zu Herzen genommen. Er weiss um das, was er tut. Er weiss, in einem ganz schlichten Sinn, was Liebe ist. Und obwohl Jenny, Opfer des Missbrauchs durch den eigenen Vater, einen ganz anderen Weg geht, den der Flucht vor der Vergangenheit und vor sich selbst, in Hippie-Kommunen landet, in der Friedensbewegung gegen den Vietnam-Krieg, in Black-Panther-Kreisen, nimmt Forrest keinen Abstand von ihr, im Gegenteil.
Am deutlichsten wird Forrest Gump in Vietnam „sichtbar“. Er rettet seine Kameraden, einen nach dem anderen holt er aus dem Dschungel, auch seinen Vorgesetzten Lieutenant Dan Taylor (Gary Sinise), gegen dessen Willen, weil er beide Beine verloren hat und sterben wollte – ehrenhaft, wie er sagt, seiner Bestimmung entsprechend. Nur sein Freund Bubba (Mykelti Williamson), der schwarze Shrimps-Fischer, der den ganzen Tag über und manchmal auch des nachts im Bett über nichts anderes redet als über Shrimps, kann Gump nicht retten; er stirbt in seinen Armen. Fast alle, die Forrest liebt, sterben vor seinen Augen, Bubba, seine Mutter und die Liebe seines Lebens. Forrest geht durch Vietnam, wie er durch seine Kindheit gegangen ist, wie er Football oder Tischtennis gespielt hat, wie er in einer TV-Show auftritt, wie er anderen sein Leben erzählt. Er stellt sich. Manchmal wirkt er wie eine Art Stehaufmännchen, das sich durch nichts unterkriegen lässt.
Aber es ist nicht dieses Reaktive, das Forrest ausmacht. Gump hat das, was man als Urvertrauen in das Leben bezeichnen könnte. Er gibt nicht nur nicht auf, sondern er hält an seinen tiefsten Gefühlen fest, er verrät sich nicht und verkauft sich nicht. Forrest Gump würde nicht einmal auf die Idee kommen, so etwas zu tun, obwohl es rings um ihn herum alle tun, zum Beispiel die „Jünger“, die ihm hinterher rennen, weil sie in seinem mehrjährigen Lauf quer durch die Staaten eine tiefere Bedeutung sehen, in ihm eine Art Messias.
Die tiefere Bedeutung dieses Laufes ist allerdings eine andere. Am Ende, nachdem alle gegangen sind, seine Mutter, Jenny, nachdem es sein inzwischen einziger Freund, Lieutenant Dan, zu Wohlstand gebracht hat (mit Shrimps und Apple-Computern), steht er da: sein Sohn, den Jenny auch Forrest genannt hat. Hier, an der Bushaltestelle, an der Forrest Senior schon auf den Bus zur Schule gewartet hatte, steht nun Forrest Junior (Haley Joel Osment), das Schönste, was sein Vater je gesehen hat, die Quintessenz seines Lebens, das Resümee seiner Erfahrungen und Erlebnisse, vor allem aber seiner Treue zu sich selbst, seines Urvertrauens.
Zemeckis scheint in „Forrest Gump“ über eines der schrecklichsten Kapitel der US-Geschichte, den Vietnam-Krieg und dessen Verantwortliche, hinwegzugehen. Aber das wäre ein allzu oberflächlicher Blick auf einen Film, in dem die Hauptfigur wie ein stiller, aber dennoch bewusster, tief empfindender Beobachter und Teilnehmer seines Lebens und dieses Kapitels der Geschichte für andere und auch für mich einen Anziehungspunkt bildet, eine Art Rückbeziehung auf all das, auf das es – trotz bzw. gerade wegen der Brutalität des Geschehens um ihn herum – letztlich ankommt. Es ist dieses Urvertrauen Gumps, aus dem die Fähigkeit zu einer Form von Liebe resultiert, die unzerstörbar ist, – und die Fähigkeit zu einer Form von Versöhnung, die nicht auf faule Kompromisse, Verleugnen, Verdrängen, Vergessen aufbaut, aber auch nicht auf Verurteilen oder Verdammen, Frontbildung oder Taktieren. Forrest Junior ist die leise, vorsichtige, zarte Hoffnung auf etwas anderes. Lieutenant Dan hat das schon in Forrest Senior erkannt, Jenny bringt sich nicht um, sondern kehrt nach Greenbow, Alabama, zurück (unfähig allerdings, ihren eingeschlagenen Weg der Flucht auf Dauer zu verlassen). Mrs. Gump hatte das als erste gespürt. Bubba wusste, was Gump bedeutet. So ist – aus einer anderen Perspektive gesehen – die Figur, die Tom Hanks so überwältigend schön verkörpert, auch eine Art Gewissen, eine personifizierte Vergewisserung, die – wenn man sich nicht selbst dagegen wehrt – Teil von uns selbst ist und uns nachempfinden lässt, das Leben als Flucht, als ständige Suche nach etwas ausser uns als vermeintlicher Sinn des Lebens, nicht die einzige und schon gar nicht die beste Möglichkeit ist, Gesellschaft zu konstituieren.
Forrest Gump
USA 1994 – 136 min.
Regie: Robert Zemeckis
Drehbuch: Eric Roth
Darsteller: Tom Hanks, Robin Wright, Gary Sinise
Produktion: Wendy Finerman, Steve Starkey, Steve Tisch
Musik: Alan Silvestri
Kamera: Don Burgess
Schnitt: Arthur Schmidt