Die Feststellung einer psychischen Erkrankung ist in der aufgeklärten Gesellschaft sozial-, arbeits- und strafrechtlich ein Fortschritt gegenüber der in der Vergangenheit üblichen pauschalen Ächtung oder gar Wegsperrung der „Unnormalen“. Doch genügt das?
Medizin und Psychotherapie beziehen heute die Diagnose einer psychischen Erkrankung in die gesellschaftlich unterstützte Versorgung ein. Die betroffenen Menschen werden, zumindest sollte es so sein, aufwendig unterstützt und vom Geruch der Selbstverschuldung weitestgehend befreit. Das ist gut.
Doch die psychische Erkrankung wird im Gegensatz zu einer körperlichen Erkrankung ungleich schneller zum Etikett, weil eine Chronifizierung, also der Übergang von der vorübergehenden zur dauerhaften Präsenz einer Erkrankung oft vorausgesagt wird.
Lax ausgedrückt: Irre bleibt irgendwie irre, verrückt bleibt wohl verrückt, gestört bleibt gestört.
Misstrauen bezüglich dieser Etiketten muss spätestens dann wach werden, wenn sich Krankheitszuschreibungen und Diagnosen im Laufe von soziokulturellen Veränderungen wandeln:
Wenn der Homosexuelle nicht mehr krank ist, sondern normal. Wenn die Diagnose einer Aufmerksamkeits-Defizit-Störung bei Kindern und Jugendlichen keine Besonderheit mehr darstellt, sondern als Erscheinung förmlich explodiert. Wenn die Zunahme an Depressionen und Angstzuständen nicht als Belanglosigkeit abgetan, sondern als Warnsignal für eine sich krankhaft überschleunigende Gesellschaft akzeptiert wird. Aber auch, wenn Menschen, denen einmal eine psychische Störung zugeschrieben wurde, dieses Label kaum noch ablegen können.
Solche Veränderungen – ob sie nun zu begrüßen sind oder nicht – zeigen, wie die Krankheitszuschreibung soziokulturell geprägt ist und wie Etiketten ein Eigenleben bekommen. Dies wirft wichtige Fragen auf:
Wozu braucht die Gesellschaft den Krankheitsbegriff für die psychische Seite des Menschen?
Was ist oder was sind die Funktionen unserer gängigen Psychopathologie?
Wofür sind sie funktional und wozu dienen sie?
Wie profitieren Betroffene, wie profitiert die Gesellschaft und wie profitieren die mit Diagnostik und Behandlung befassten Berufsgruppen?
Psychische Störung als Endlosschleife
Ich beginne bei letzterer Fragestellung und greife den einschlägigen Prospekt eines Fachverlages heraus. Dort scheint das Angebot an Büchern, die die Wörtchen „Störung“ und „Pathologisch“ direkt oder indirekt im Titel tragen, fast endlos:
Persönlichkeitsstörungen, selbstverletzendes Verhalten, sexueller Missbrauch, Flugphobie, pathologisches Grübeln, körperdysmorphe Störung, Bulimia nervosa, Pathologisches Kaufen, Spielsucht, Internetsucht, Pathologisches Horten, Sexuelle Funktionsstörungen, Psychosen, Verbitterung und Posttraumatische Verbitterungsstörung, Sexuelle Sucht, Binge-Eating-Störung, Burnout, Adipositas, Ärgerbezogene Störungen, Suizidalität, Depression, Blut-Spritzen-Verletzungs-Phobie, Prüfungsangst, Zahnbehandlungsphobie, Hypochondrie und Krankheitsangst, Zwangsgedanken, Trichotillomanie, Stottern, Tabakabhängigkeit, Stimmenhören und Wahn, soziale Angststörung, Chronisches Erschöpfungs-Syndrom, Dissoziative Störungen …
Diese Gebiete sind für Fachverlage thematisch ein großes und kommerziell ein lukratives Feld, unter anderem wegen der Spezialisierung der Therapeuten und durch die Vielzahl an Fortbildungsveranstaltungen.
Aber die Anerkennung solcher Störungen als Krankheiten entzieht sich schon weitgehend der öffentlichen Diskussion. Die Politik stellt nicht mehr infrage, dass die Therapie der psychischen Störungen in den Finanzierungsbereich der Krankenkassen fällt. Damit ist die Existenz anerkannter Psychotherapeuten gesichert, die noch viel mehr zu tun hätten, würde das Feld der Störungen ausgeweitet.
Warum gibt es eigentlich keine Massen-Mitlauf-Störung oder das Krankheitsbild Werbe-Verführbarkeit? Eine TV-Sucht ließe sich mit etwas Mühe und Argumentationsgeschick in den Klassifikationen des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (Anm.: Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen; DSM) unterbringen oder mithilfe der Internationalen Klassifikation der Krankheiten in die psychischen und Verhaltensstörungen einordnen.
Aber wie steht es mit den Massenphänomenen Entwurzelung oder Vereinzelung aus? Wo gehören die hin? Was ist mit der Neigung vieler Menschen zum raschen Abbruch von zum Beispiel Beziehungen? Die verbreitete Bindungsunfähigkeit ist nicht zu übersehen. Sind diese Störungen zu häufig, um noch aufzufallen oder gar therapierbar zu sein?
Die Menschheit unter Generalverdacht
Der Respekt vor psychischen Erkrankungen beziehungsweise den Menschen, die betroffen sind, hat Begrüßenswertes an sich. Es zeigt sich aber auch eine wenigstens problematische Tendenz: Die Fixierung auf die Möglichkeiten des „Versagens“ der betroffenen Menschen, also auf ihre „Störungen“, wirkt umfassend auf die gegenseitige Wahrnehmung. Aber auch auf die Selbstwahrnehmung und auf die Therapie, die eine Hilfe zur Veränderung darstellen soll.
Allein die Fragestellung entscheidet bereits über die Suche nach dem Ist- und vor allem nach dem Sollzustand. Wenn ich kranke, „abweichende“, also verdächtige Symptome suche, werde ich möglicherweise bei vielen, wenn nicht bei allen Menschen fündig. Das kann sich jeder etwa so vorstellen:
Die tägliche Putzerei meines Nachbarn scheint mir an der Grenze zur Zwanghaftigkeit, seine passiven Stunden wecken bereits den Verdacht einer chronischen Depressivität, und sein aktueller Rückzug in die Einsamkeit sieht mir schon nach einer schizoiden Persönlichkeitsstörung aus.
Wenn er meinen prüfenden Blick oder meine entsprechenden Fragen mitkriegt, versucht er sich diesbezüglich zu verstecken, was mich noch misstrauischer macht. Oder er bietet mir seine Merkwürdigkeiten fast an, um in einer Ecke (nämlich der Krankheit) Schutz zu suchen, weil er Überforderungen aus dem Weg gehen will. Letzteres ist ja auch schon wieder verdächtig.
Die ideologische Ablenkung vom unzureichenden Miteinander
Symptome sind durchaus oft Hilferufe. Sie drängen oder erzwingen vom Betroffenen, sich Unterstützung zu suchen. Aber sie sind selten der Kern der Problematik. Die alten „Innen-Sucher“, also jene Experten, die die wahren Ursachen tief in der Psyche des Menschen suchen, freuen sich allerdings zu früh, wenn sie solche Sätze lesen. Denn der Kern der Problematik ist nicht „tief“ in den Menschen selbst zu finden, sondern eher dicht um sie herum.
Es ist die fehlende Hilfe im natürlichen sozialen Umfeld, die Gegenseitigkeit, das fehlende Vertrauen der Menschen untereinander. Aber auch die beständige Überforderung, in die sich hineinmanövriert wurde oder in die die betroffenen Menschen hineinmanövriert worden sind.
Es sind oft genug langfristige Entwicklungen, die zum Beispiel aus unsinnigen Haltungen, etwa aus übertriebener Selbstständigkeit oder Selbstüberforderung in der „beruflichen“ Karriere, resultieren.
Die soziokulturell inzwischen weit entwickelte Individualisierung, diese völlig übertriebene Vereinzelung, verdammt die Menschen dazu, alles mit sich selbst auszumachen und zwingend sie förmlich, Schwächen zu überdecken. Nicht nur vor anderen, sondern, und hier liegt eine Dramatik, auch vor sich selbst. Dies geschieht oft bis zum Zusammenbruch. Das dann unterstellte „Tief-Drinnen“ ist eine optimale weil gelungene ideologische Ablenkung vom unzureichenden Miteinander.
Mauern aus Blech und die Unterwerfung als Normalität
Die Vereinzelung und Isolation ist schon lange auch im Städtebau verfestigt und quasi materialisiert. Nachbarschaften sind durch Straßen zerschnitten, Straßen voller Blechlawinen, und bieten keine echten Nachbarschaften mehr.
SUV-förmige Autos, diese Geländelimousinen, die gar nicht ins Stadtbild passen, haben die Pufferzone zwischen den Menschen vergrößert. Sie bieten nicht nur Schutz im verkehrstechnischen Sinne, sondern vor allem Schutz vor anderen Menschen. Man braucht ihn auch, diesen Schutzwall aus Blech, da man ja ständig von potenziellen Gegnern umgeben ist: Konkurrenz statt Kooperation, Isolation statt Gemeinschaft.
Oft besteht die individuelle Konsequenz des Zusammenbruchs – und des in der Folge erteilten Etiketts – in einer weiteren Verschärfung der Vereinzelung. Man hat sich abgestempelt und man ist abgestempelt.
Manchmal wenden sich andere Menschen mitleidig zu. Und die Fachleute, sie zerlegen alles. Sie rücken mit ihren speziellen Methoden an, finden noch mehr Sonderlichkeiten und drücken weitere Stempel auf.
Vergleichen, verstecken, abtauchen
Ein weiterer Aspekt der Frage nach der Verbreitung psychischer Störungen ist der Anspruch auf ein durchgängiges Glücksgefühl bei vielen Menschen und auf durchgängige Funktionstüchtigkeit vonseiten der Gesellschaft. Abweichungen müssen rasch „behandelt“ werden, weil sie den angepassten Ablauf beeinträchtigen. Je früher, desto besser. Es könnte ja noch schlimmer werden. Erwartungen und Ansprüche der Gesellschaft und des Individuums passen dabei perfekt zueinander.
Menschen müssen mit etwas zurechtkommen, was bei Tieren noch kein Problem ist: Sie nehmen nicht nur wahr, was gerade ist, sondern auch, was kommen könnte und was in vergleichbarer Lage war.
Diese Fähigkeit des Vorausschauens, das Antizipieren macht sie oft unglücklich. In der Freude können sie an deren Ende denken. In der elenden Lage vergleichen sie sich mit den Glücklichen. Sie tendieren dazu, künstlich das glückliche Gefühl zu verlängern, obwohl es nur ein Zeichen ist. Sie lösen es von der dienenden, der Signal gebenden Funktion in Richtung einer Verselbstständigung, als wäre es erstrebenswert, ein für alle Mal satt zu sein.
Die Zerreißproben, in die Menschen gestellt sind, führt bei vielen dazu, lieber in den Tag hineinzuleben. Das Planen wird den Mächtigen und Reichen überlassen. Der Verbrauchermarkt funktioniert nach diesen Gesetzen. Nur im Feld der Karriere wird das Unerträgliche ausgehalten.
Entsprechend wird der Mensch manipulierbar und auch manipuliert. Je nach Stellung in der Gesellschaft ist diese Unterwerfung „normal“. Ecken und Kanten werden abgelegt, Widerspruch bleibt aus, es wird sich eingeordnet – es wird sich versteckt. Dieses Verhalten will und muss gelernt sein. Wer es nicht lernt, hat oder bekommt Probleme, die leicht in Richtung Diagnose rutschen.
Gerade auch im sozialen Kontext ist immer und überall das Vergleichen und Verstecken anzutreffen: Andere Menschen scheinen glücklicher, obwohl sie oft nur die glückliche Seite zeigen. Andere machen und können es besser, auch wenn diese es nur besser verstehen, ihre Fehler und Schwächen zu verdecken.
In dem System der gegenseitigen Bewertung materialisiert sich der Vergleich. Er nimmt in seiner Ausprägung die Form eines unnatürlichen Anpassungsmechanismus an und führt dabei das Subjekt teilweise bis zur völligen Selbstverleugnung.
Der Besser-Darsteller, der seinen Lebenslauf bis zur Unkenntlichkeit frisiert, bekommt den Job, der authentische Charakter, der seine Schwächen benennt, bleibt vor der Tür.
In der Politik verblasst der ruhige und fachlich geeignete Kandidat in der hinteren Reihe, während der polternde Selbstdarsteller ohne Qualifikation, der in jede Kamera lächelt, Karriere macht. Ob er die Interessen der Wähler umsetzt oder nicht, fällt kaum auf, weil echte Veränderungen vielleicht erst weit nach seiner Amtszeit spürbar werden.
Der Aktienkurs der Gesellschaft steigt, die die geschicktere Öffentlichkeitsarbeit an den Tag legt, selbst wenn sie die Verbraucher betrügt oder belügt. Das eine wird zur Cleverness umgedeutet, das andere zur Flunkerei verharmlost.
Er fährt das edlere Auto, also muss er besser sein als ich. Ich will das Auto auch, damit ich besser werde. Steig immer auf, steig niemals ab, sonst verlierst du als Mensch an Wert. Diese Botschaft wird ausgesendet auf allen Ebenen des Daseins. Dabei ist sie banal und vor allem völlig falsch.
Soziale Einbettung und Vereinzelung
Wenn wir das Problem und dessen Kern in den tiefen Abgründen des Individuums suchen, isolieren wir es noch mehr, statt durch Hilfestellungen Wege aus der Isolation aufzuzeigen.
Dem Individuum herauszuhelfen gelingt oft nicht mehr. Zu sehr und zu tief stecken viele Menschen in dieser Grube, in der sie sich geschützt glauben. Dabei haben sie sich lediglich verschanzt, nehmen aber noch nicht einmal mehr diese Verschanzung als solche wahr.
Auch viele Therapeuten und auch die Therapieansätze sehen den diagnostischen und dann den therapeutischen Ansatz „innen“. Entweder weit drinnen, wie bei der Psychoanalyse, im kaputten interaktionellen „System“ um den Einzelnen herum (systemische Therapie) oder in den Gesetzen der entglittenen Verhaltensweisen, an die erst mal herankommen werden muss. Auf jeden Fall wird beim Einzelnen, beim Individuum angesetzt. Wo sonst sollten Veränderungsversuche auch ansetzen?
Die bevorzugte Form der Veränderung ist die Einzeltherapie. Patient und Therapeut ziehen sich zurück, analysieren und suchen wenigstens in den meisten Therapierichtungen Veränderungsmöglichkeiten, die der Einzelne selbst in Angriff nehmen kann. Nur in den verschiedenen Präventionsstufen werden weitere Helfer einbezogen.
Der Kern der meisten psychischen Problematiken ist die fehlende soziale Einbettung der Menschen im Privat- und im Arbeitsleben. Viele sind gar nicht mehr eingebettet, haben keinen oder keinen festen Arbeitsplatz, kein stabiles Zuhause. Und vielen fehlt diese echte Einbettung.
Sie ist nicht an einem Arbeitsplatz zu finden, an dem sich jeder voreinander verstecken muss, weil die unausgesprochene Konkurrenzsituation für Misstrauen und Entfremdung sorgt.
Auch die eigene Wohnung bietet kaum Einbettung ohne tiefere Verbindung mit den Nachbarn, wenn außer dem flüchtigen Gruß bei der zufälligen Begegnung im Treppenhaus nichts Gemeinsames existiert.
Mit sozialer Einbettung ist auch nicht die ununterbrochene Verfügbarkeit mittels sozialer Netzwerke gemeint, die die Menschen im physischen Nahbereich zu abwesenden Subjekten verformt.
Einbettung hieße Vertrauen, erfahrene Verlässlichkeit und Ansprechbarkeit über automatisierte Reaktionen hinaus zu erleben. Und das Riskieren von Offenheit und von Streit, wo er nötig ist. Doch wo ist der Streit? Streiten ist in unserer Gesellschaft wohl auch deshalb so riskant, weil in seinem Fahrwasser häufig die Einsamkeit offensichtlich wird, in der sich der einzelne Mensch befindet oder in die er leicht noch weiter geraten kann, etwa wenn er den Streit wagt und sich andere von ihm in der Folge abwenden.
Subtile Täuschung und individualisierte Verantwortlichkeit
Ergänzt und gefestigt wird die Vereinzelung durch die Verbreitung von Täuschungen. Menschen konnten schon immer das eine sagen und das andere tun. Doch die heutige Unübersichtlichkeit der Bezüge zwischen Wort und Tat verzögert und verhindert die Überprüfung weit mehr als in früheren Zeiten. Täuschungen sind raffinierter und lassen sich in der Masse besser verbergen, als in Zeiten übersichtlicher Dorfgemeinschaften. Die Werbung zeigt es uns. Sie ist voll von subtiler Täuschung.
Das Wirtschaftssystem, in dem wir leben, erzeugt überall Gegner. Zusammenwirken dient letztlich wieder dem angestrebten Stärkerwerden gegenüber anderen. Und die Zurückgelassenen sind meistens so ausgepowert, dass sie die Wendung zum Zusammen auch nicht mehr schaffen. Sie kämpfen um ihr isoliertes Überleben, ums Durchhalten bis zum nächsten Geldeingang auf ihrem Konto oder um den Platz an der Tafel.
Die Verantwortlichkeit dafür wird von der Gemeinschaft auf das Individuum abgewälzt. Jeder ist seines Glückes Schmied, heißt es dann. Jeder, der in Schwierigkeiten kommt, ist selbst schuld. Wer beim Gott des Erfolges in Ungnade gefallen ist, wird von ihm bestraft. Das Drohen mit und bedroht sein durch solche „natürlichen“ Strafen, die in sozialen Gemeinschaften völlig unnatürlich sind, durchzieht die Gesellschaft: Jobverlust, Schulden, eine Justiz, die auf Strafen aufbaut. Und dann gibt es halt noch psychische Erkrankungen.
Sind wir also mehrheitlich psychisch krank, schon allein durch unsere Vereinzelung?
Die Bedeutung des Fragens oder Suchens nach Lösungen besteht darin, was sie für Konsequenzen haben. Jedes Identifizieren einer psychischen Krankheit fixiert auf das Fehlen von etwas, auf das Defizit. Aber macht es Sinn, dass wir uns alle etikettieren?
Etikett, Mitleid oder Zuwendung
Wenn Menschen, die sich psychisch in einer Krise befinden oder längere Zeit leiden, entfernt vom Beobachter sind, ist immer weniger eine helfende Befassung mit ihnen möglich.
Ohne Etikett werden solche Menschen nicht mehr versorgt, wenn sie nicht nahe Menschen um sich haben. Der Staat braucht daher Etikette, wenn er Aufgaben übernimmt oder übernehmen will, die von gewachsenen menschlichen Umgebungen nicht mehr getragen werden.
Selbst wenn es einen Menschen gibt, der einem Betroffenen nahesteht und ihm helfen möchte, läuft er Gefahr, selbst in den Strudel von Destruktivität zu geraten, in dem sich der Betroffene befindet.
Es ist, als wollte man einem Menschen helfen, der sich an einem Hang auf Glatteis befindet: Man rutscht selbst mit ab. Der dem Süchtigen Helfende wird selbst abhängig. Derjenige, der einem „Schizophrenen“ helfen will, überfordert sich in Richtung eigener „Störung“. Um beim Vergleich zu bleiben: Als Einzelner ist man mit der Aufgabe überfordert. Nur eine Menschenkette hätte eine reelle Chance den Entglittenen vom Eis zu holen.
Es werden Spezialisten gebraucht, weil Störungen, die nicht vom sozialen Umfeld aufzufangen sind, noch weniger nur intuitiv verstanden und „behandelt“ werden können. Sie wirken „absonderlich“. Sie werden zum gesellschaftlichen Anliegen, weil sie den reibungslosen Ablauf stören und Ausfälle in der Produktion verursachen.
Die „Instrumente“, die Techniken der Behandlung sind aber durch die professionelle Distanz ständig in Gefahr, sich zu verselbstständigen, künstlich und somit unecht zu werden.
Wenn nach Krankheiten und davon betroffenen Personen gesucht wird, werden diese ausgesondert und andere im Bereich der Normalität belassen. Wenn aber gefragt wird, wo die Möglichkeiten und Perspektiven derjenigen zu finden sind, die den Menschen „gesund“ erhalten oder Betroffene wieder gesund machen, beziehen sich alle mit ein. Dadurch können Betroffene gar nicht mehr ausgesondert werden.
Wenn wir andersherum fragen, gehen wir grundsätzlich einen anderen Weg: Was bietet Menschen eine erstrebenswerte Aussicht? Was macht Menschen reich, fähig, meinetwegen auch resilient beziehungsweise belastbar? Was hilft ihnen beim Aufbau von Werten? Was ermutigt sie, ihr Leben und ihre Welt zu gestalten, statt alles nur laufen zu lassen?
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sehe ich folgende Hilfen beziehungsweise Voraussetzungen:
(1) Einbindung in stabile soziale Bindungen mit gegenseitiger Zuverlässigkeit.
(2) Bedeutung eines Menschen durch Beiträge zur Gemeinschaft, materiell und/oder ideell.
(3) Ermöglichung von Eigensinnigkeit, von Anders-Sein.
(4) Gegenseitiges Infragestellen, Kritik, Streiten und Versöhnen.
(5) Selbst-Infragestellung, Zulassen von Ratlosigkeit, Korrektur des eigenen Weges.
(6) Die Fähigkeit, die Zerreißproben unseres Vergegenwärtigens auszuhalten. Oder gerade auch in ihnen unsere Nähe und Geborgenheit in der Gemeinschaft mit ähnlich empfindenden und betroffenen Menschen zu suchen.
Erfahrungswissen und ein Fazit
Ich höre und lese schon jetzt die Antworten auf diese Ausführungen. Nämlich dass das ja alles recht und gut für normale Menschen sei, aber nicht für wirklich gestörte Personen. Dagegen wende ich schon vor der Entgegnung ein: Ich habe alle meine Therapien so aufgebaut, auch mit Betroffenen, die Stimmen hören, extrem depressiven Menschen oder Süchtigen.
In die sogenannten Tiefen von Störungen gingen vor allem psychoanalytisch ausgerichtete Therapeuten. Aber es geht weniger um die Tiefe, sondern um konzentrierte Befassung. Angebracht ist die Konzentration auf ein Leben mit Perspektive, auf Werte und auf die persönlich möglichen Mittel in dieser Richtung.
Auch in meinen Therapien habe ich versucht, dem Einzelnen die Verantwortung zu verdeutlichen, die er selbst hatte: Nur er konnte seine Lebenslage anders zu leben versuchen.
Doch es ist ein Unterschied, ob man dem Verfolgten sagt: „Ich hätte leicht auch in deine Lage kommen können. Ich traue dir folgende Umgangsweisen zu, um ihr zu entkommen oder deine Freiheit wieder auszubauen!“ Oder: „Du hast dich ziemlich ungeschickt in diese Lage manövriert! Diesen Mist müssen wir dir nehmen, damit du nicht immer wieder in diese missliche Lage kommst.“
Mein Vorgehen ist nicht originell, aber es war das bevorzugte Vorgehen in der frühen Verhaltenstherapie (und zum Teil auch in der Sozialpsychiatrie). Im Zuge der Etablierung im anerkannten Gesundheitswesen scheint es aber in den Hintergrund getreten zu sein.
Wenn wir psychische Gesundheit aufbauen wollen, statt psychische Krankheit zu beseitigen, müssen wir gesellschaftliche Strukturen errichten, die der Vereinzelung menschliche Beziehungen entgegenstellen, die in einem modernen Sinn „natürlich“ wachsen:
Die Menschen verbinden und vernetzen sich freiwillig, nicht erzwungen durch verwandtschaftliche Verhältnisse. Sie „bewerten“ und schätzen einander nicht über Geld oder den gesellschaftlichen Status. Sie machen vielfältige Erfahrungen miteinander, erleben, wo man sich auf- und beieinander verlassen kann und wo nicht.
Sie erfahren, wie die einzelnen Menschen Bedürftigkeit ausdrücken und wo sie in Ruhe gelassen werden möchten. Sie bauen wieder gemeinsame Werte auf statt nur individuelle. Sie unterstützen sich gegenseitig in einer solidarischen Lebensweise.[1]
Sie verlieren das Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber der weltweiten Entwicklungen, weil sie andere Menschen nicht mehr wie Geldscheine zählen, sondern als Subjekt wertschätzen. Sie spüren, dass sie sich aufeinander verlassen können. Und das ist mächtiger als eine Militärmaschinerie oder finanzieller Reichtum. Eben auch mächtiger als die institutionalisierte Aggression, weil es eine soziale Macht ist.
Vor dem Hintergrund stützender sozialer Beziehungen finden Menschen wieder den Mut, ihre Lebenswelt aktiv zu gestalten, statt von den falschen Anreizen und unnatürlichen Bedrohungen getrieben zu werden. Sie können wieder Schwerpunkte setzen, auch gemeinsame. Sie leben wieder ein werteorientiertes Leben.
Störungen sind dann nicht mehr Anlässe zur Aussonderung, sondern Gelegenheiten, sich den Widrigkeiten zu widmen. Sie fast zu begrüßen, weil sie auf die Komplexität des Lebens hinweisen. Im Hintergrund stützt die Gemeinschaft.
Das wichtigste Element der Prävention und Behandlung psychischer Krisen oder Störungen ist also gemeinschaftliches Gestalten. Gemeinschaftlichkeit erweitert die Gestaltungsmöglichkeit und Gestalten verlangt geradezu nach Gemeinschaftlichkeit, da wir auf den Erfolgen der kulturellen Evolution aufbauen.
Kleine Gemeinschaften, wie ich sie etwa hier vorschlage, könnten geeignet sein, die Orientierung auf psychische Gesundheit statt auf Krankheit ins Zentrum zu rücken.
Quellen und Anmerkungen
[1] Brand U., Wissen M., Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. oekom-Verlag. München 2017.