In der Debatte um die Antisemitismus-Vorwürfe gegen BDS, Amnesty und Documenta entstand bei mir eine große Unsicherheit:   War ich antisemitisch, weil ich der Kritik an Israel als kolonialistischem Staat  zustimmte? Ich wollte es genau wissen, und das hieß: Wissen erwerben über den Staat Israel.

Hier gehts zum Antisemitismus-Vorwürfe Teil 1

Der Staat Israel

Die Gründung eines jüdischen Staates war der Traum der zionistischen Bewegung (6), ein Resultat der Erkenntnis, dass die Diskriminierung und damit Gefährdung der Juden auch durch Assimilierungsstrategien nicht verschwand (vgl. Brenner 2020; Sznaider 2022). Die jahrhundertelang erlebte Verfolgung bis hin zur faktischen Ermordung bewirkt auch heute bei in Deutschland lebenden, jüngeren Jüdinnen und Juden das Gefühl der Unsicherheit. Durch Übergriffe bis hin zu Anschlägen wie in Halle wird es dramatisch reaktiviert (vgl. die Beiträge in Cazés 2022). Wer könnte sich anmaßen, den zionistischen Traum von vorneherein zu verurteilen?

Das Problem des Zionismus von Anfang an war der Ort, in dem der Traum realisiert werden sollte. Allmählich schälte sich das in der Bibel als Land Israel beschriebene Palästina als Ziel heraus. Dort lebten Araber*innen, deren Interessen der Zionismus und die damaligen Kolonialmächte nicht primär im Blick hatten. Das war das Verhängnis, das auch heute auf dem Staat Israel lastet: die Lebensform und Kultur der Araber*innen wie auch die schon damals prekäre Lage der Juden in Palästina nicht ausreichend zu beachten. Dabei hatten doch die Nazis schon dafür gesorgt, dass Hass und Verachtung gegenüber Juden (vgl. dazu Grigat 2022a,b) geradezu gezüchtet wurden: unter anderem durch einen Radiosender speziell für die arabische Welt (vgl. Küntzel 2020).

Dessen ungeachtet wanderten ab 1880 Juden aus Europa in palästinensische Gebiete ein. Nach dem Ersten Weltkrieg übertrug der Völkerbund Großbritannien das Mandat für das Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer und den Auftrag, die Balfour-Deklaration zu verwirklichen, „die aber die Rechte bestehender nichtjüdischer Gemeinschaften in Palästina nicht beeinträchtigen sollte“. Die Kosten für das Mandat und zunehmende Konflikte zwischen den arabischen Bewohner*innen und der wachsenden Anzahl jüdischer Einwander*innen veranlassten die Briten zu einer restriktiven Einwanderungspolitik, die Juden zwang, illegal nach Israel zu kommen. Die Gründung des Staates Israel war dann das Signal für Juden, zunächst vor allem von Überlebenden aus Europa, legal in Israel einzuwandern. Für die Araber war es der Beginn einer Kolonialisierung durch eine bislang ungeliebte Minderheit (vgl. Grigat 2022a). „Israel kann als eine Formation von weißen Europäern betrachtet werden, die in kolonialistischer Weise den arabischen Raum eroberten. Israel ist aber auch gleichzeitig ein Projekt der Befreiung der Juden, die in und außerhalb Europas von den ‚einheimischen‘ Menschen unterdrückt, verfolgt und schließlich auch ermordet wurden“ (Sznaider 2022:1, vgl. a. Oz 2020).

Diese Widersprüchlichkeit wurde verschärft durch den Sechs-Tage-Krieg 1967, den die Israelis abermals gegen die arabische Übermacht gewannen. Die damals besetzten Gebiete sind ein weiterer Grund, Israel Kolonialismus vorzuwerfen.

Als die Staatsgründung anstand und direkt danach versuchten die arabischen Staaten Ägypten, Irak, Jordanien, Libanon und Syrien den Staat Israel zu verhindern bzw. zu zerstören. Arabische Bewohner*innen Palästinas flohen oder wurden vertrieben. Es handelte sich um 700 000 bis 800 000 Menschen, die das inzwischen israelische Staatsgebiet verließen. Eine etwa gleich große Anzahl von Juden wurde aus arabischen Staaten vertrieben (s.a. Grigat 2022a). Die Vertreibung der Palästinenser*innen wurde als Nakba (Katastrophe) im arabischen Gedächtnis gespeichert. Über die aus arabischen Staaten vertriebenen Juden gibt es kaum Zeugnisse in der Medienwelt (aber bei Grigat 2022a und b). Auch danach blieb die Region ein Krisenherd. Darüber hinaus gab es Unmengen von Angriffen von beiden Seiten in Israel und den besetzten Gebieten, darunter die Aufstände der palästinensischen Bevölkerung in Form der Intifadas. Der Staat Israel ist so mit nicht enden wollenden Herausforderungen einer feindlichen Umwelt konfrontiert.

Die BRD hat den Staat Israel de facto 1952, de jure erst 1962 anerkannt. Seit 1965 liefert die BRD Waffen an Israel. Immer wieder haben deutsche Regierungen die Verbundenheit mit dem Staat Israel bekräftigt. Eine Ablehnung des Existenzrechts Israels wird von der Regierung als Antisemitismus gewertet. Diese Bewertung teilen mit ihr NGOs wie die Antonio Amadeo Stiftung und Forschungsinstitute wie Allensbach. So wird ein negatives Bild von Israel in der Allensbach-Studie als antisemitisch angesehen, ohne den Kontext zu kennen, in dem diese Kritik erfolgt. Auch die Ablehnung der Staatsdoktrin Deutschlands, nach der die Sicherheit Israels verteidigt werden muss, wird als antisemitisch angesehen, ohne dass nach dem Grund für diese Skepsis gefragt worden wäre (S. 39).

Deutschland kann aufgrund seiner Verantwortung für den Genozid, und damit auch für die Stärke des Zionismus, nicht anders, als diesen Staat zu befürworten. Von Muslim*innen aus den arabischen Ländern kann man dies nicht als selbstverständlich erwarten (vgl. a. Holz/Haury). Bei ihnen spielen Narrative aus den Herkunftsländern und auch die eigene Erfahrung als diskriminierte Minderheit eine Rolle. Was bedeuten diese Fakten für die Diskussion über BDS, Amnesty und die Documenta15?

Die Vorwürfe

BDS-Kampagne

Der (jüdische) Politiker Stein und der (jüdische) Wissenschaftler Zimmermann wiesen auf die Absurdität hin, dass die Resolution gegen BDS aufgrund der AFD initiiert wurde, die die „Altparteien“ beschuldigte, Israel nicht ausreichend zu schützen und damit den Antisemitismus zu fördern (2019:28). Die Autoren warfen den Befürworter*innen der Resolution vor, damit „von den Hauptverfechtern des Antisemitismus abzulenken“ und „dem Kampf gegen Antisemitismus“ zu schaden (S. 31).

Judith Butler, ebenfalls Jüdin, wurde 2012 bei ihrem Besuch in Deutschland zur Entgegennahme des Adorno-Preises scharf angegriffen, als sie den Zionismus, die geistige Grundlage des Staates Israel in Frage stellte. Diese Bewertung, verbunden mit ihrer Unterstützung für die BDS-Kampagne und Bewertungen der palästinensischen Hamas und der libanesischen Hisbollah als linken Bewegungen führten zu scharfer Kritik, auch der Jüdischen Gemeinde. In einem Gespräch mit Micha Brumlik verdeutlichte Butler ihre Auffassungen: Juden müssten in jedem Fall geschützt werden. Es sei aber ungewiss, ob der Zionismus die beste Lösung dafür darstelle.

Holz/Haury (2022) haben die Vertreter*innen des BDS und ihre Botschaften einer genauen Analyse unterzogen. Laut ihren Recherchen sind die Initiator*innen des BDS radikale islamistische Kräfte, darunter die Hamas und die PFLP, die auch Raketenangriffe und Suizidanschläge auf die israelische Zivilbevölkerung zu verantworten haben (S. 217). Inhaltlich impliziert BDS die Forderung, dass Israel allen aus Israel geflohenen Palästinenser*innen die Rückkehr ermöglicht. Sowohl die fehlende Bereitschaft arabischer Staaten, Flüchtlinge zu integrieren wie die demographisch unterschiedliche Entwicklung von Israelis (ohne die orthodoxen Juden) und Palästinenser*innen wird ignoriert. Holz/Haury weisen auch darauf hin, dass nicht alle BDS-Befürworter*innen allen diesen Punkten folgen. Aber die genannten Tatsachen sind Symptome von Antisemitismus, also einer feindseligen, Kriminalität unterstellenden Meinung über Juden in Israel, auch wenn eine Verletzung der Menschenrechte in den palästinensischen Gebieten, also Kolonialismus, nicht bestritten werden kann. Dennoch ist der verallgemeinernde Vorwurf des Antisemitismus beim BDS falsch. Im Blick auf diese Organisation zeigt sich die ganze Problematik des Antisemitismus, der sich auf Israel bezieht: „Wir haben es zugleich mit einer in Teilen klar antisemitischen Bewegung BDS und einem instrumentalisierten Antisemitismusvorwurf, mit einem als Israelkritik erscheinenden Antisemitismus und einem inflationären Gebrauch des Antisemitismusbegriffs zu tun“ (ebenda: 223). Diese differenzierende Analyse zeigt, in welchen schwindelerregenden Höhen sich die Diskussion über die BDS-Kampagne in Deutschland verzettelt. Weder der Antisemtismus-Vorwurf allein noch die Kampagne für BDS treffen das Problem. Für mich heißt dies dennoch: Auch eine Befürworter*in eines Boykotts von Waren aus den besetzten Gebieten begibt sich bei einer Solidarisierung mit dem BDS in Gefahr, antisemitischen Forderungen nach der Zerstörung Israels aufzusitzen, weil dieser eben auch judenfeindliche Forderungen erhebt.

Amnesty International

In ihrem Bericht zu Menschenrechtsverletzungen durch Israel beschreibt die Organisation die Vielzahl von Repressionen, die den Begriff „Apartheid“ durch Israel begründen. Der Rassismus gegenüber den Palästinenser*innen und die Zersplitterung der palästinensischen Gebiete werden benannt. Es finden sich aber auch Statements darin, die als Feindseligkeit gegenüber Israel interpretiert werden können: Die Forderung nach Anerkennung des Rechts auf Rückkehr ist mit den gleichen Problemen behaftet wie sie schon für den BDS aufgeführt wurden.

Amnesty ist – zumindest in der Zusammenfassung – in ihrem Bericht teilweise ungenau und missverständlich. Die innerarabischen und -palästinensischen Konflikte, die eine friedliche Lösung mit verhindert haben, werden außen vor gelassen.

Der Begriff der Apartheid für die Behandlung der Palästinenser*innen ist also nicht ganz falsch. Aber er ist eben auch nicht ganz richtig, weil Südafrika sich solchen Bedrohungen unter der weißen Herrschaft nicht ausgesetzt sah. Die Diskussion über den Vorwurf trug bei zu einer „Verkürzung, die im Ergebnis dazu dient, Kritik an Besatzung und Ungleichbehandlung zu delegitimieren“ (Asseburg 2020:296).

Documenta 15

Die Antisemitismus-Vorwürfe gegen die Documenta15 unterscheiden sich von denen gegen BDS und Amnesty in einem wesentlichen Punkt: Kritisiert wurde der Blick von Künstler*innen einer anderen Ethnie. Damit war die Kritik ein Angriff auf die Freiheit der Kunst und auf die Wahrnehmung Anderer, die nicht den Holocaust verursacht haben.

Die Antonio Amadeo Stiftung ist eine der Institutionen, die sich um die Benennung und Bekämpfung des Rassismus verdient machen. Beim Streit um die Documenta15 übernehmen sie allerdings Be- und Verurteilungen, die teilweise polemischen Charakter haben. So wird nicht unterschieden zwischen Kritik an und Hass auf Israel. Es wird zudem außer acht gelassen, dass die Kritik an Israel sich in vielen Fällen ausschließlich auf die staatliche Politik und nicht auf den Staat als solchen bezieht.

Die Behauptung „Israelhass und Judenhass sind miteinander verwoben“ (Antonio Amadeo Stiftung 2022: 9), die aus den Ergebnissen der Allensbach-Studie abgeleitet wird, ist eine Übertreibung. Denn in keinem der Statements, zu denen Ablehnung oder Zustimmung erfragt wurden, lässt sich Judenhass oder Israelhass erkennen.

Zum Ruangrupa-Kunstwerk schreiben die Autor*innen der Stiftung: „Die Hakennase zur Kennzeichnung von Jüdinnen*Juden ist antisemitisch.“ Dagegen setzt Philippe Pirotte: „Viele hier dargestellten Figuren in der uralten Wyang-Kult-Tradition haben auch Hakennasen, rote Augen und Vampirzähne“ (2022:20) und fügt hinzu, dass das Künstlerkollektiv sich entschuldigt habe, wenn sie Juden beleidigt oder gekränkt hätten.

Ruangrupa hat einen Fehler gemacht, weil sie die deutsche Situation zu wenig berücksichtigt haben. Die Leitung der Documenta hätte einschreiten können, ohne das Poster zu verbieten. Aber die Empörung vieler angeblicher Vertreter*innen jüdischer Interessen geht zum Einen an den schrecklichen Erfahrungen anderer Völker und Minderheiten, zum Anderen an den faktischen Problemen des Antisemitismus in Deutschland wie in Israel vorbei.

Nicht überall und nicht einmal innerhalb der ganzen Europäischen Union wird der Holocaust als universelles Zeichen verstanden. Wenn dies nicht einmal an herausragenden Schauplätzen der Shoah der Fall ist, „… wie können wir dann von Menschen auf anderen Kontinenten und in anderen historischen Erfahrungswelten verlangen, die Singularität des Holocaust anzuerkennen?“(Wiedemann 2022: 147) Erst die Geschichte mit den Augen des jeweils Anderen zu sehen ermöglicht Empathie auch für die andere Seite (ebenda).

Fortsetzung Teil 3: https://www.pressenza.com/de/2023/01/antisemitismus-vorwuerfe-teil-3/

Der Beitrag ist auch auf Hilde von Ballusecks Blog zu finden.

Anmerkungen

(6) Einige ultraorthodoxe jüdische Gruppierungen glaubten an die Diaspora als Lebensraum für Juden bis zur Ankunft des Messias. Chassidische Juden, die in Israel leben, entwickeln auch heute gegenüber dem Staat, der ihnen Schutz gewährt, eine ignorierende Haltung. Das ändert sich allerdings zur Zeit, da radikal orthodoxe Juden Minister geworden sind.


Quellen

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