Jürg Müller-Muralt für die Online-Zeitung INFOsperber
In Ländern wie Malaysia, Oman oder der Türkei liegen die Frauen gut im Rennen: In der Türkei etwa geht ein Drittel der Informatikabschlüsse auf das Konto von Frauen. Rund die Hälfte der im Ingenieurwesen Tätigen sind in Oman und in Malaysia Frauen. In den Vereinigten Arabischen Emiraten und in Tunesien haben mehr Frauen als Männer ein Diplom in Mathematik, Natur- oder Ingenieurwissenschaft. Und in Indien schliesslich ist ein Drittel der Belegschaft der für den Subkontinent bedeutsamen IT-Unternehmen weiblich. Generell sind Frauen in IT-Berufen im globalen Süden stark vertreten. In afrikanischen und südamerikanischen Ländern liegen die Frauenanteile in der Informatik bei 40 Prozent und höher.
Wenig IT-Frauen in der Schweiz
Ausgerechnet in den hochentwickelten Industriestaaten dagegen sieht es ganz anders aus. In den USA glänzt nicht einmal mehr das Silicon Valley, die Wiege der IT-Branche, mit einem hohen Frauenanteil; sogar die Wall Street, nicht bekannt als Gleichstellungspionierin, hat einen markant höheren Frauenanteil. Auch in europäischen Ländern wie Grossbritannien, Belgien, Schweden und Deutschland, aber auch in der Schweiz, ist der Anteil der Frauen in Informatikberufen tief. Obschon die IT-Branche in der Schweiz seit vielen Jahren kontinuierlich wächst, bewegt sich der Frauenanteil sowohl in der Ausbildung wie in den Unternehmen auf konstant tiefem Niveau. An den Schweizer Fachhochschulen betrug der Frauenanteil gemäss Bundesamt für Statistik 2021/22 im Fachbereich Technik und IT lediglich 13,2 Prozent; im Fachbereich Gesundheit dagegen waren es 82 Prozent. Nicht viel besser sieht es bei den Beschäftigtenzahlen aus: 2021 betrug der Anteil an weiblichen IT-Fachkräften in der Schweiz 16,3 Prozent.
Stereotype als Hindernisse
Die Informatik beeinflusst einen rasant wachsenden Teil unseres Lebens. Deshalb sei die geringe Präsenz von Frauen in diesem immer dominanter werdenden Bereich problematisch, findet die Software-Ingenieurin Iris Hunkeler. Auf SATW insights (Schweizerische Akademie der Technischen Wissenschaften) schreibt sie, wenn die Programme zu Informatiklösungen «mehrheitlich von Männern entworfen und entwickelt werden, dann wird die Lebensrealität von Frauen weniger gut repräsentiert». Die Ursachen für die ungleiche Geschlechterverteilung liegen laut Hunkeler «zu einem grossen Teil bei Stereotypen, die in unseren Köpfen feststecken: Viele Menschen haben ein Bild von ‹Informatik› und ein Bild von ‹Frau› und diese Bilder passen nicht zusammen. Solche Vorurteile bestimmen unser Verhalten und werden auch an jüngere Generationen weitergegeben.»
Frauen als Programmier-Naturtalente
Dabei sind Frauen Naturtalente im Programmieren. Dies zumindest war die Überzeugung der US-amerikanischen Informatikerin und Computerpionierin Grace Hopper (1906-1992). Hopper leistete wichtige Vorarbeiten für die Entwicklung der Programmiersprache COBOL. Sie war unter anderem als Forscherin an der Universität Harvard und bei der US-Marine tätig. Hopper war eine derartige Kapazität, dass sie nach ihrer Pensionierung 1967 von der US-Marine wieder in den aktiven Dienst versetzt wurde, «um für Abhilfe bei diversen Computerproblemen zu sorgen», wie es bei Wikipedia heisst. Erst im Jahr 1986 wurde sie im Alter von 80 Jahren in den Ruhestand entlassen.
Frauen führend in Nasa-Informatik
Wenn man etwas in der Geschichte der Informatik stöbert, zeigt sich, wie recht Grace Hopper mit ihrer Aussage hatte, Frauen seien Naturtalente im Programmieren. So waren es drei afroamerikanische Mathematikerinnen, welche es 1962 mit ihren Berechnungen ermöglichten, dass John Glenn mit einem Raumschiff die Erde umkreisen konnte. Ein weiteres Beispiel für die starke Präsenz der Frauen in dieser Zukunftstechnologie ist die US-amerikanische Informatikerin und Mathematikerin Margaret Hamilton (*1936). Sie war Direktorin der Softwareentwicklungs-Abteilung am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Für die US-Weltraumbehörde Nasa entwickelte Hamilton die On-Board-Software der Apollo-11-Mondmission, ohne die die Landung der ersten Menschen auf dem Erdtrabanten 1969 nicht möglich gewesen wäre. Hamilton erwarb sich ihre Kenntnisse selbst und vertiefte ihre praktischen Erfahrungen mit Informatikanwendungen und in der Softwareentwicklung zu einem Zeitpunkt, als es noch keine entsprechenden Ausbildungen gab.
Pionierin der Programmiersprachen
Doch nicht erst im 20. Jahrhundert ist die Entwicklung der Informatik an zentralen Punkten mit Frauennamen verbunden. Die Geschichte des Computers hat recht eigentlich mit den Erkenntnissen einer Frau begonnen: mit Ada Lovelace. Die 1815 geborene Tochter einer Mathematikerin und des britischen Dichters Lord Byron hat Bahnbrechendes geleistet: Sie hat entdeckt, dass die von Charles Babbage entwickelte, erste mechanische Rechenmaschine mehr kann, als nur schnell rechnen, nämlich auch komplexe Probleme lösen und Grafiken erstellen. Sie verfasste dann das, was heute als erstes Computerprogramm bezeichnet wird, mit konkreten Befehlen für die Rechenmaschine. Gebaut wurde der «Computer» dann allerdings nicht – doch ein wichtiger Grundstein für die Informatik war gelegt. Ada Lovelace gilt als Pionierin der Programmiersprachen.
Frauen bis Ende der Achtzigerjahre stark präsent
Die Geschichte des Computers ist von Beginn weg bis Ende der Achtzigerjahre des 20.Jahrhunderts stark von Frauen geprägt. Vor allem das Programmieren galt als spezifischer Frauenberuf. In den USA lag der Frauenanteil in der Softwareentwicklung noch 1987 bei 42 Prozent. Und noch 1983 waren 37 Prozent der IT-Studierenden in den Vereinigten Staaten weiblich. Bis zu diesem Zeitpunkt stieg die Zahl der weiblichen Studierenden stetig und schneller als bei den Männern.
Sechs legendäre IT-Frauen
Wichtig für den Aufstieg der Frauen in der Informatik war der Zweite Weltkrieg. Frauen waren als Arbeitskräfte in Fabriken und Büros als Ersatz für die ins Militär eingezogenen Männer sehr gefragt. Sechs Frauen wurden in dieser Zeit zu einer Legende in der Geschichte der Informatik: Sie programmierten den ersten Computer der Welt: Jean Jennings, Betty Snyder, Ruth Lichterman, Marlyn Wescoff, Frances Bilas und Kay McNulty. Die jungen Frauen stammten aus unterschiedlichsten Milieus, was sie verband, «war der Wille, der Enge ihrer Herkunft zu entkommen, in der sich ein Lebenslauf streng nach Geschlecht, Abstammung, Religion ausrichtete. Möglich machte das die Mathematik» heisst es in einem Betrag des Magazins der Süddeutschen Zeitung. Die Mathematik, die eine Beschäftigung in Schule oder Verwaltung eröffnete, «galt als respektable Beschäftigung für Frauen».
Die weiblichen «Computer»
Die sechs Frauen arbeiteten an der Universität in Philadelphia im Auftrag der Armee. Sie berechneten ballistische Tabellen – Fibeln für die Artillerie, die für Geschütze die Flugbahn der verschiedenen Geschosse verzeichneten. Die Rechnerei dafür erfolgte von Hand, die einzige Hilfe war eine Tabelliermaschine, die zu multiplizieren und zu dividieren vermochte. Die vorwiegend weiblichen Angestellten, die rechneten, wurden gemäss ihrer Tätigkeit als «Computer» bezeichnet (deutsch: Rechner/innen). Eine Flugbahn zu berechnen, hiess Gleichungen zu lösen, und zwar ellenlange, mit Wurzeln und Winkelfunktionen vollgepackte. Die erwähnten sechs Frauen, die solche komplexen Berechnungen durchführten, erhielten nun den Auftrag, den Electronic Numerical Integrator and Computer (ENIAC) zu programmieren, den ersten elektronischen Universalrechner. Er diente der US-Armee zur Berechnung ballistischer Tabellen.
Frauen aus Bildern geschnitten
Als der ENIAC 1946, also nach dem Krieg, der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, geschah schwer Verständliches: «Die sechs Programmiererinnen des ENIAC waren weder zu Präsentation noch Pressedinner eingeladen worden. Jennings war ausser sich, aber es war schon geschehen – in dem Augenblick, in dem der erste Computer der Welt in die Geschichte einging, blieben seine Programmiererinnen aussen vor. Ihre Rolle war auf einen Schlag wie ausgelöscht: Als die Armee mit Fotos des ENIAC um neues Personal warb, schnitt man die Bilder so zurecht, dass nur Männer zu sehen waren», wie es im SZ-Magazin heisst.
Aus der Geschichtsschreibung getilgt
Das war sozusagen der symbolträchtige Beginn der Entfernung der Frauen aus der Welt der Informatik – und vor allem aus der ihnen zustehenden Position in der Geschichte dieser Zukunftstechnologie. Für Anna Luna Frauchiger, Historikerin an der Universität Zürich, hat die Geschichtsschreibung «diese Frauen getilgt, die Populärkultur wertet sie ab». Hollywood-Filme wie «Enigma» (2001) und «The Imitation Game» (2014) «verfälschen rückblickend das Bild: Sie fokussieren auf Alan Turing, der den berühmten Colossus-Computer entwickelte und verschweigen den wesentlichen Beitrag von Frauen», schreibt Frauchiger in einem bemerkenswerten Beitrag im Onlinemagazin Das Lamm.
Feminisierung führte zu Herabstufung
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg konnten Frauen zwar ins neue Berufsfeld der Datenverarbeitung eindringen, «doch die Feminisierung führte gleichzeitig zu einer Herabstufung des Qualifikationsgehalts», stellt Frauchiger fest. Die IT-Branche und die Verwaltungen hätten Frauen vor allem aus Kostengründen eingestellt, denn ihnen wurden niedrige Löhne bezahlt. Während Frauen herabgestuft worden seien, seien Männer in leitende Positionen aufgestiegen, selbst wenn ihnen die notwendigen Kompetenzen fehlten. Trotzdem: «Der Exodus der Frauen kam erst Ende der 1980er-Jahre. Weshalb die Frauen die Branche erst so spät in Massen verliessen, wissen wir nicht – Historikerinnen und Historiker haben hierzu bisher nur Hypothesen aufgestellt», schreibt Anna Luna Frauchiger.
Hypothesen zur Verdrängung der Frauen
Die eine Hypothese lautet, dass möglicherweise die Wirtschaftskrise der 1980er- und 1990er-Jahre Computerunternehmen veranlasst habe, mehrheitlich Frauen zu entlassen. Die andere Hypothese bringt die Verdrängung der Frauen mit dem Aufstieg des «Personal Computers» in Verbindung. Der PC ist immer stärker ins Alltags- und Familienleben eingedrungen, wobei Männer und Söhne die Familiencomputer in Beschlag nahmen, während Frauen und Mädchen sich zurückzogen. «Privatsphäre und Berufswelt hängen auch hier miteinander zusammen, wie es die feministische Geschichtsschreibung seit Jahrzehnten aufzeigt», hält Frauchiger fest.
Die Dialektik der Frauenemanzipation
Die Präsenz von Frauen in IT-Berufen verweist auch auf eine spezielle Dialektik der weiblichen Emanzipation: In den Ländern des globalen Südens liegt der Frauenanteil in den Tech-Branchen meist deutlich höher als in den hochentwickelten Industriestaaten, wie wir zu Beginn dieses Beitrags bereits dokumentiert haben. Diese auf den ersten Blick paradoxe Situation hat auch einen Namen: Gender-Equality-Paradox. Die nicht ganz unumstrittene Theorie besagt, dass in Ländern mit fehlender Gleichberechtigung ein technisches Studium Frauen die Chance bietet, sich gesellschaftlich besser zu positionieren und unabhängiger zu werden – was in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie gezeigt, auch für die USA und Europa galt. In Ländern und Zeiten dagegen, in denen Frauen mehr Entfaltungsmöglichkeiten haben und finanziell abgesichert sind, entscheiden sie sich häufiger für soziale und Dienstleistungsberufe, also eher entlang traditioneller Rollenbilder. Das zeigt: Zumindest in bestimmten Phasen können Tech- und IT-Berufe Vehikel der Frauenemanzipation sein.