Bis ins Jahr 1980 haben Schweizer Fürsorgebehörden armutsbetroffene oder unangepasste Kinder, Jugendliche und Erwachsene systematisch fremdplatziert oder administrativ weggesperrt. Die psychischen, sozialen und finanziellen Folgen währten ein Leben lang. Jetzt zeigt sich, dass sie oft auch den Nachkommen weitergegeben worden sind. Das belegt eine neue Studie der Berner Fachhochschule.
Das Leiden der Eltern vergällt den Kindern das Leben
Die skandalösen Umstände dieser fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, kurz FSZM, und die oft tragischen Folgen für die Direktbetroffenen sind in der Schweiz mittlerweile breit dokumentiert und im Bundesrecht offiziell anerkannt worden. Viele der Opfer haben finanzielle Entschädigungen und andere Hilfe erhalten.
Doch das Thema kann nicht ad acta gelegt werden, denn das Leiden wird oft tradiert auf die Nachfolgegeneration. Das belegt das Forschungsprojekt «Von Generation zu Generation: Familiennarrative im Kontext von Fürsorge und Zwang» der Berner Fachhochschule. Die Mitautorin Nadine Gautschi, Sozialwissenschaftlerin und Dozentin im Departement Soziale Arbeit, schreibt im Online-Magazin «Geschichte der Gegenwart»: «In der Zweitgeneration wiederholten sich ökonomische Prekarität, Stigmatisierungen, Traumatisierungen und damit verbundene soziale Abwertungen erneut, wenn auch in unterschiedlichem Ausmass. Wie die Kindheiten der Eltern waren auch die der Nachkommen geprägt von Gewalt – sei es häusliche Gewalt zwischen den Eltern, aber auch körperliche, sexuelle und psychische Gewalt und Vernachlässigung, die gegen sie selbst gerichtet war.» Das alles beeinflusste die Bildungslaufbahnen und Lebensläufe der Nachkommen. So «vererbten» sich die sozialen Benachteiligungen, die in der Erstgeneration ihren Anfang genommen hatten.
Viele Opfer konnten keine tragfähigen Familienstrukturen entwickeln
Man weiss heute relativ viel über die traumatischen Erfahrungen vieler von Zwangsmassnahmen Betroffener: Abwertung in Form körperlicher und psychischer Gewalt, Lieblosigkeit und Demütigung, Misshandlung, oft auch sexuelle Ausbeutung. Nach der Entlassung aus den Massnahmen waren sie auf sich allein gestellt und konfrontiert mit erneuter Stigmatisierung und sozialer Isolation. Mangels Ausbildung fanden sie kaum existenzsichernde Arbeit und litten schon in jungen Jahren unter gesundheitlichen Problemen. Ohne tragende soziale und familiäre Netze entwickelten viele früh ein starkes Bedürfnis nach einem Zuhause, gründeten eine eigene Familie, jedoch ohne die ökonomischen und sozialen Ressourcen, um diese positiv zu gestalten. Unter solchen Voraussetzungen konnte sich das Leiden – quasi wie eine Ansteckung – auf die Nachkommen übertragen.
Die Öffentlichkeit möchte die Schande verdrängen
Trotz der nationalen Aufarbeitung schwelt die Thematik also weiter. «Doch in der Schweizer Öffentlichkeit finden die generationenübergreifenden Folgen der FSZM bisher keine Beachtung», stellt Nadine Gautschi fest. Die im internationalen Vergleich langanhaltende gesellschaftliche Tabuisierung in der Schweiz erklärt die Sozialwissenschaftlerin damit, «dass FSZM eine Geschichte über die Schweiz erzählen, die dem nationalen Narrativ des Erfolgsmodells fundamental widerspricht. Zur Schweiz des 20. Jahrhunderts gehören nicht nur Wohlstandszuwachs und der Ausbau des Wohlfahrtsstaats, sondern je nach sozialer Zugehörigkeit auch Diskriminierung und Rechtslosigkeit.»