Das Vereinigte Königreich scheint das schwächste Glied der Kette der westlichen Industrieländer zu bilden.
Zu dem inflations- und rezessionsbedingten Rückgang der realen Einkommen kommen die Folgen der Krise im Finanzsektor und auf dem Immobilienmarkt, sowie der Fallout der geldpolitischen Wende der Notenbank. Viele Hauskäufer und Hypothekennehmer sehen sich mit zusätzlichen finanziellen Belastungen aufgrund der rasch steigenden Zinsen konfrontiert, während der reale Wert ihrer Häuser aufgrund fallender Preise und hoher Inflation rasch zurückgeht. Der prognostizierte durchschnittliche Preisverfall von zehn Prozent bei Immobilien dürfte aufgrund der Inflationsdynamik von mehr als elf Prozent zu einem reellen Wertverlust von rund 25 Prozent binnen der kommenden zwei Krisenjahre führen.13
Als zusätzlicher Inflationstreiber fungiert die schwache britische Währung, die in den vergangenen Monaten gegenüber dem US-Dollar als der Weltleitwährung, in der ein Grossteil des Rohstoff- und Energiehandels abgewickelt wird, abwertete, da die US-Notenbank ihre Zinswende rasch vorantreibt.14 Anfang 2022 stand das Pfund noch bei 1,36 Dollar, während es Ende September nur noch 1,08 Dollar waren. Erst nach der Verkündung eines haushaltspolitischen Sparkurses durch London im Oktober stabilisierte sich die britische Währung bei derzeit 1,22 Dollar. Der aufwertende US-Dollar führt somit zum Inflationsimport in Grossbritannien, das kaum über eine nennenswerte Exportindustrie verfügt, die von einer schwachen Währung profitieren könnte, was Londons Währungshüter ebenfalls zur „Straffung“ der Geldpolitik nötigt.
Die Erhöhung des Leitzinses auf drei Prozent durch die Bank of England Anfang November,15 der noch weitere restriktive Zinsschritte zur Eindämmung der zweistelligen Inflation folgen sollen,16 lässt wiederum die Zinsen für Kredite und Hypotheken in die Höhe schiessen, während viele Kredit- und Hypothekennehmer mit schwindenden Einnahmen konfrontiert sind. Rund zwei Millionen Hauskäufer werden in den kommenden zwei Krisenjahren sich mit höheren Hypothekenkosten konfrontiert sehen, was zu Notverkäufen von Eigentumshäusern und weiterem Preisdruck auf dem Immobilienmarkt führen wird. Zudem laufen viele kreditfinanzierte Unterstützungsmassnahmen und Konjunkturprogramme der Regierung aus, während die neue Administration von Premier Rishi Sunak Sparmassnahmen und Steuererhöhungen implementiert, um das britische Haushaltsdefizit in den Griff zu bekommen.
Auf 55 Milliarden Pfund summieren sich die Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen der britischen Regierung, die sogar eine Ausweitung des Spitzensteuersatzes durch die konservative Administration vorsehen: Die Schwelle des Spitzensteuersatzes wird von 150.000 auf 125.140 Pfund Jahreseinkommen sinken.17 Die Summe des Sparpakets entspricht übrigens dem bisherigen jährlichen Haushaltsdefizit Londons, wobei 30 Milliarden Pfund durch Ausgabenkürzungen eingespart und 25 Milliarden durch höhere Steuern eingenommen werden sollen.18 Mit dem Austeritätskurs soll überdies eine Haushaltskrise verhindert werden, die laut Prognosen des OBR in den kommenden Jahren drohen würde, sollte der bisherige Kurs der schuldenfinanzierten, aktiven Konjunkturpolitik fortgesetzt werden. Ab 2026 wäre demnach das britische Haushaltsdefizit auf mehr als 100 Milliarden Pfund angeschwollen.
Die meisten Austeritätsmassnahmen sollen ohnehin erst nach den „allgemeinen Wahlen 2024“ wirksam werden, was von Politikern der oppositionellen Sozialdemokraten (Labour) als eine „Falle“ interpretiert worden sei, bemerkte die Financial Times (FT).19 Zudem gibt es eine Ausnahme vom Austeritätskurs: die Subventionierung der Energiepreise, die Verbrauchern einen Preisdeckel garantieren soll, wurde beibehalten, was die öffentliche Verschuldung im November auf 13,5 Milliarden Pfund, 4,4 Milliarden Pfund mehr als Vorjahresmonat, erhöhte.20
Dennoch stellt dieses Sparpaket mitsamt seinen Steuererhöhungen einen fundamentalen Politikwechsel dar, da die vorherige, kurzlebige Regierung unter der glücklosen Premierministerin Liz Truss noch ein umfassendes Steuersenkungsprogramm umsetzen wollte.21 Die Steuersenkungen, insbesondere für Reiche und Konzerne, sollten zu Mindereinnahmen von 45 Milliarden Pfund führen. Truss wollte noch im vergangenen September gar den Spitzensteuersatz gänzlich abschaffen. Nun, rund drei Monate später, werden Steuererhöhungen von 55 Milliarden Pfund von London beschlossen. Der grösste Steuersenkungsplan sei 50 Jahren, so die FT über die haushaltspolitischen Pläne von Liz Tuss, werde nun abgelöst von der „grössten Steuererhöhung seit 30 Jahren“ unter Premier Sunak.
Das Heimatland des Neoliberalismus verabschiedet sich somit von der Politik der Steuersenkungen und der berüchtigten Doktrin der Trickle-Down-Economics, wonach Mehreinnahmen für Konzerne und Reiche letztendlich auch zur Mittel- und Unterschicht „durchsickern“ würden. Stattdessen steigt die Steuerrate laut OBR auf 37,1 Prozent des britischen BIP, was einen Nachkriegsrekord darstellen werde. Und es waren eben auch letztendlich die „Märkte“, die das Ende dieser in den Zentren des Weltsystems üblichen Krisenpolitik signalisierten, bei der bislang Regierungen einen jeden Krisenschub mit schuldenfinanzierten Krisenmassnahmen und expansiver Geldpolitik abfangen konnten.
Innerhalb von „sieben Tagen, die Grossbritannien erschütterten“, wie es die FT formulierte,22 ist London Ende September zu der drastischen haushaltspolitischen Kehrtwende förmlich genötigt worden. Der britische Markt für Staatsanleihen geriet in Reaktion auf die Steuersenkungen der Regierung Truss in schwere Turbulenzen, die erste Anzeichen einer „finanziellen Kernschmelze“ (FT), also eines Zusammenbruchs des Finanzsystems, aufwiesen. Die Zinsen für britische Staatsanleihen explodierten förmlich binnen weniger Tage, von 3,5 auf fünf Prozent bei 30-jährigen Bonds, was Ausdruck der fallenden Anleihekurse ist. Und die Kurse brachen nur deswegen ein, weil kaum noch Nachfrage nach britischen Bonds bestand, da es vielen Marktteilnehmern nicht klar war, wie London die Steuersenkungen angesichts der rasch anschwellenden öffentlichen Schuldenlast finanzieren könnte.
In seiner 21-jährigen Karriere habe er keine solch dramatische Situation erlebt, klagte ein Fondsmanager gegenüber der FT, da es zeitweise schlicht unmöglich gewesen sei, Käufer für britische Staatsanleihen, für die sogenannten Gilts, zu finden. Selbst während der Finanzkrise von 2008 habe es „immer einen Markt für Gilts“ gegeben. Um die aufkommende „Marktpanik“ (FT) zu ersticken, musste die Bank of England einschreiten und – mitten in einer Phase zweistelliger Inflation – für 65 Milliarden Pfund britische Staatsanleihen aufkaufen, also letztendlich Geld drucken. Dieses „Liquiditätsprogramm“ der britischen Notenbank wurde erst Mitte Oktober, nach der haushaltspolitischen Wende Londons, beendet.23 Der neue Sparhaushalt dient somit auch dem Zweck, den Markt für Gilts zu stabilisieren, da hier eine „G7-Ökonomie“ von einer Marktpanik erfasst worden sei, so die FT. So etwas war bisher eher aus dem globalen Süden oder aus der südlichen Peripherie der EU bekannt, etwa aus Hellas, Spanien oder Portugal am Beginn der Eurokrise. Nun kriecht die Krise in die Zentren des Weltsystems.
Die Märkte für Staatsanleihen sind für gewöhnlich sterbenslangweilig,24 da sie als „sichere Bank“ angesehen werden, wo institutionelle Anleger wie Versicherungen oder Pensionsfonds langfristig Geld sicher anlegen wollen. Und es waren gerade viele britische Pensionsfonds, die aufgrund des Finanzbebens auf dem Anleihemarkt zunehmend unter Druck gerieten.25 Bei einem Crash des Anleihemarktes sind es nicht einfach ein paar Spekulanten, die ihr Geld verlieren – es stehen dann Millionen von Altersbezügen einer ganzen Generation Lohnabhängiger im Feuer. Die Schockwellen einer ausgewachsenen Krise auf dem Anleihemarkt würden somit nicht nur die Finanzsphäre, sondern – vermittels Nachfrageeinbruch und Kreditklemme – die gesamte Ökonomie erschüttern.
Und deswegen ist die abrupte haushaltspolitische Kehrtwende Londons, bei der Mitte Oktober fast alle Steuersenkungen revidiert worden sind, wohl tatsächlich als ein Versuch zu interpretieren, die aufgewühlten „Märkte zu beruhigen“, die kaum noch britische Schuldtitel erwerben wollten, wie es US-Medien in aller Offenheit formulierten.26 Dabei scheinen diese „Beruhigungspillen“ auch bitter nötig zu sein, angesichts des rasant wachsenden britischen Schuldenbergs.27 Die Schuldenlast des britischen Staates entspricht derzeit knapp 101,9 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung Grossbritanniens, während es vor Ausbruch der Pandemie nur 84,4 Prozent waren. Das Vereinigte Königreich weist eine höhere Staatsschuldenlast auf als der EU-Durchschnitt, der bei 86 Prozent des BIP liegt. Selbst Frankreich und Spanien haben mit 113 und 116 Prozent nur eine geringfügig höhere Schuldenlast zu schultern.
Die kostspieligen Krisenmassnahmen Londons nach Ausbruch der Pandemie und des Kriegs in der Ukraine gehen nun mit einer Rezession einher, die den Schuldenberg in Relation zur schrumpfenden Wirtschaftskraft anwachsen lässt. Deswegen ist es fraglich, ob die „Sparpakete“ Londons tatsächlich dazu beitragen können, die öffentliche Verschuldung abzubauen. Volkswirtschaften sind nämlich keine „schwäbischen Hausfrauen“. Sparprogramme führen zu Nachfrageeinbrüchen, die in Rezessionen münden können, was die Schuldenlast gegenüber dem sinkenden BIP schwerer wiegen lässt. Zudem führt Austerität zu sinkenden Steuereinnahmen und steigenden Sozialausgaben – etwa Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld. Aus der Eurokrise ist das Phänomen des regelrechten „in den Bankrott Sparens“ hinlänglich bekannt, das der damalige deutsche Finanzminister Schäuble in seinem Sparsadismus an Griechenland vorexerzierte.
Was sich nun im Vereinigten Königreich voll manifestiert, ist schlicht die grundlegende Krisenfalle28 bürgerlicher Politik, der kein systemimmanenter Ausweg der Krisenverzögerung mehr offen zu stehen scheint. Grossbritannien kann zwischen zwei Wegen in die weitere Krisenentfaltung lavieren: London kann Schäuble nacheifern und den deflationären Weg von Sparprogrammen beschreiben, die letztendlich mit zum skizzierten „in die Pleite Sparen“ führen können, oder die britische Regierung nötigt die Notenbank, weiter frisches Geld zu drucken durch den Aufkauf britische Staatsanleihen, was die derzeitige Inflation in eine Hyperinflation umschlagen liesse.
Die neoliberale Ära des schuldenfinanzierten Zombie-Kapitalismus29 geht nun auch an der Themse zu Ende. Der grosse Unterschied zu der Tragödie in Südeuropa – das während der Eurokrise von Berlin nahezu in den sozialen Kollaps getrieben30 wurde – besteht darin, dass mit Grossbritannien nun ein Zentrumsland, ein G7-Staat, sich mit dem vollen Durchbruch der Krisendynamik konfrontiert sieht. Die Weltkrise des Kapitals,31 die in den vergangenen Dekaden schon weite Teile der Peripherie des Weltsystems verwüstete,32 scheint somit endgültig in den Zentren angekommen zu sein. Und sie wird sich zuvorderst ganz konkret in dem eingangs erwähnten „Sinken des Lebensstandards“ der Lohnabhängigen manifestieren, dem gegenüber auch die aktuelle Streikbewegung auf den Britischen Inseln33 machtlos sein wird, solange sie keine antikapitalistische, transformatorische Perspektive34 entwickelt.
Grossbritannien ist tatsächlich durch den Brexit zum gewissermassen schwächsten Glied der Zentrumsstaaten im erodierenden spätkapitalistischen Weltsystem geworden. Italien, das für gewöhnlich als der grosse Krisenkandidat Europas gehandelt wird, weist zwar einen grösseren Schuldenberg in Höhe von 150 Prozent des BIP als das Vereinigte Königreich auf. Doch kann Rom bei seinen Stabilisierungsbemühungen auf die Ressourcen der EZB und der Eurozone bauen, solange Berlin ein fundamentales Interesse an der Beibehaltung der europäischen Gemeinschaftswährung hat. Allein die Grösse des europäischen Währungsraums sorgt dafür, dass dieser längere Zeit stabil bleiben und Krisenerschütterungen eher absorbieren kann als isolierte Volkswirtschaften.
London hat nach dem Brexit nur noch die Bank of England und ein BIP, das nur rund 19 Prozent desjenigen der EU umfasst – und das reicht nicht, um mittelfristig nicht zu einer zweiten Türkei zu verkommen, wo die Inflation schon bald dreistellig werden könnte.35 Und dennoch dürfte auch die eingangs erwähnte, deutsche Schadenfreude bald verhallen. Grossbritannien geht nur voran, es mag als erstes westliches Zentrumsland fallen, doch die Krise wird sich unweigerlich auch in den restlichen Zentren voll manifestieren.
Fussnoten:
1 https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/britischer-ex-zentralbanker-ohne-brexit-muessten-wir-keinen-sparhaushalt-diskutieren-a-7794b387-306e-4da9-8fde-96847cc63deb
2 https://www.welt.de/wirtschaft/article242184557/Grossbritannien-Zentralbank-macht-Brexit-fuer-schlechte-Wirtschaftslage-verantwortlich.html
3 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/grossbritannien-industrieverband-rezession-101.html
4 https://www.spiegel.de/wirtschaft/sehr-reale-sorge-dass-grossbritannien-von-wettbewerbern-abgehaengt-wird-a-32d38199-a9c0-44db-81e7-cdff11e3d67a
5 https://www.derstandard.de/story/2000141668233/brexit-rezession-streiks-britische-wirtschaft-geraet-ins-abseits
6 https://obr.uk/overview-of-the-november-2022-economic-and-fiscal-outlook/
7 https://www.theguardian.com/business/2022/nov/17/obr-confirms-uk-enters-year-long-recession-with-half-a-million-job-losses-likely
8 https://www.ft.com/content/5f081f77-ed30-4a06-864e-7e4cc3204017
9 https://www.ft.com/content/1fcc250c-c1c5-4820-a5f4-4e48662a73aa
10 https://www.theguardian.com/business/2022/nov/03/bank-of-england-raises-interest-rates-to-3-percent
11 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/grossbritannien-rezession-bip-bank-of-england-101.html
12 https://edition.cnn.com/2022/11/11/economy/uk-economy-recession-europe/index.html
13 https://www.ft.com/content/528500c8-7cfa-4aaf-9fca-7692aafeb9ce
14 https://www.konicz.info/2022/12/09/geldpolitik-vor-dem-bankrott/
15 https://www.theguardian.com/business/2022/nov/03/bank-of-england-raises-interest-rates-to-3-percent
16 https://www.theguardian.com/business/2022/dec/11/bank-of-england-set-to-spoil-the-festive-mood-with-another-interest-rate-rise
17 https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wie-rishi-sunak-den-britischen-schuldenberg-abbauen-will-18467860.html
18 https://www.ft.com/content/df59e66a-1659-428e-b96a-b0419ed584b1
19 https://www.ft.com/content/5daeca83-dc55-4371-bfe3-b20140cf1fe1
20 https://www.ft.com/content/da60d21b-7fe0-4b1f-85c7-bbf3f4a0b2f6
21 https://www.nytimes.com/2022/09/23/world/europe/uk-tax-cuts-economy.html
22 https://www.ft.com/content/1ace8d42-f3ee-4fdd-a103-5cd4234e8c42
23 https://www.nytimes.com/2022/10/12/business/dealbook/britain-markets-turmoil-gilts-pound-andrew-bailey.html
24 https://www.konicz.info/2022/07/22/schuldenberge-in-bewegung/
25 https://edition.cnn.com/2022/10/08/investing/uk-pension-funds-market-chaos/index.html
26 https://www.cnbc.com/2022/10/17/uks-new-finance-minister-sets-out-.html
27 https://www.ons.gov.uk/economy/governmentpublicsectorandtaxes/publicspending/bulletins/ukgovernmentdebtanddeficitforeurostatmaast/june2022
28 https://www.konicz.info/2022/12/09/geldpolitik-vor-dem-bankrott/
29 https://www.streifzuege.org/2017/wir-sind-zombie/
30 https://www.konicz.info/2015/07/27/willkommen-in-der-postdemokratie/
31 https://www.konicz.info/2011/11/29/kurze-geschichte-der-weltwirtschaftskrise/
32 https://www.konicz.info/2013/05/27/mad-max-im-zweistromland/
33 https://www.nytimes.com/2022/12/14/world/europe/uk-strikes-winter-discontent.html
34 https://www.konicz.info/2022/10/12/emanzipation-in-der-krise/
35 https://www.statista.com/statistics/895080/turkey-inflation-rate/