Zugegeben, ich habe für Fußball nicht viel übrig, aber für Sport im Allgemeinen auch nicht. Es war bei uns in der Familie nie Tradition, obwohl ich aus Frankreich stamme, einem Land aus dem große Fußballprofis hervorgegangen sind.
Vielleicht waren wir eine Ausnahme, wobei ich mich an niemanden in unserem Bekanntenkreis erinnern kann, der jemals wild auf Ligaspiele oder WM war. Der geläufige Witz in der Familie ging eher Richtung Lächerlichkeit: „Anstatt alle hinter einem Ball her zu laufen, sollte sich doch jeder einen gönnen.“
Oder doch …? Als ich 18 war, war eine Schulfreundin von mir mit einem jungen Stundenten liiert, der beim Fußballspiel im Fernsehen völlig ausrastete, wenn wir uns im gleichen Raum wie der Fernsehapparat befanden und es wagten, nur einen einzigen Mucks von uns zu geben: Wir wurden hinauskomplimentiert, damit es nicht zu einem lauten Streit ausartete. Herablassende Kommentare konnte ich mir damals nicht verkneifen: Er war nicht mein Freund und ich fand das ganze Brimborium unerträglich.
Später war es in Deutschland, wo eine andere Freundin sich dem Diktat ihres Ehemannes beugen mußte, um ihn beim hochkonzentrierten Zuschauen nicht zu stören. In der WM-Zeit war sie sozusagen dazu verdammt, ihren Mann an den Fußball zu verlieren. Ob er jemals ihretwegen solchen Jubel wie beim „Tor!!!“ von sich gegeben hat?! Was diese beiden Männer in meinen Augen gemeinsam hatten, war der Zorn, der sie packte, wenn sie beim Fußballschauen gestört wurden: Von einem echauffierten Fußballfan angepöbelt zu werden, ist nicht gerade lustig: der kennt kein Pardon und wird schnell weitaus mehr als unflätig.
„Bleu, blanc, rouge“, die Trikolore: So viel Farbe muss sein, um die französische Nationalmannschaft zu unterstützen (WM 2006). Bild: Laurence Wuillemin
Wenn ich an Fußball denke, denke ich an …
… Skandale aller Art, die im Lauf der Jahre diese Fußballwelt immer wieder erschüttert haben, ohne dass daran gerüttelt wurde: Es gibt viele Artikel im Internet – vor allem auf Französisch, weil es auf französischem Boden geschieht, die davon berichten: z.B. vom Handel mit jungen Afrikanern, die im Vorfeld der WM 2006 (und weiterhin, s.u.) von vorne bis hinten betrogen wurden, weil sie durch eine gnadenlose Selektion aussortiert und für untauglich abgestempelt wurden. Nachdem Anwerber, um sie anzulocken, ihnen unter den schillerndsten Farben ausgemalt haben, wie sie ihren Traum vom Profifußballer verwirklichen und aus der Armut entkommen werden, wurden ihre Hoffnungen auf widerliche Weise zerstört. Ohne Papiere, ohne Familie, ohne Unterstützung und ohne Geld in einem fremden Land, drifteten sie ab wie Treibholz.
Halbgötter in gesponserten Klamotten Im Grunde genommen assoziiere ich Fußball mit für mich als bedrohlich empfundenen Betrunkenen und grölenden Fanlawinen, die sich in die U-Bahn zur Allianz-Arena ergießen und die Wagons verstopfen, nachdem sie die Innenstadt unsicher gemacht haben; mit Massenschlägereien unter Fans und Rowdies vor oder in den Stadien; mit unrühmlicher Korruption und Unsummen an Versicherungen und Gehältern für Profibeine. Es geht schon längst nicht mehr nur um Sport, sondern der Sport ist in den Hintergrund geraten und wurde durch eine einträgliche Industrie ersetzt (Sponsoren, Werbung, Übertragungsrechte, Merchandising, usw.). Aber die Kultfiguren des Fußballs sind ja auch nur Menschen und keine Halbgötter – auch ihr überirdisches Gehalt wird niemals etwas daran ändern können: Sie verletzen sich, sie outen sich zu ihrer Homosexualität, sie lassen sich scheiden, sie leiden unter Depressionen und bringen sich sogar um. Nur was sie von „normalen“ Menschen unterscheidet, ist, dass egal, was sie tun und wie sie es tun, sie davon ausgehen können, dass sie die Titelblätter der Boulevardpresse für sich gewinnen … und auch die der „seriösen“ Presse.
Ja, Fußball ist omnipräsent. (Bild: Laurence Wuillemin)
„Flaute in den WM-Shops“, titelte die Bild-Zeitung Die Art und Weise, wie die diesjährige WM verteidigt wird, bleibt dennoch unübertroffen: Mit einer Dreistigkeit à la Berlusconi vom FIFA-Boss, mit Protesten von prominenten Kataris, die energisch alle Vorwürfe von sich weisen und jederzeit ihre weiße Weste vorzeigen können (klar, es hat sie doch so viel Geld gekostet, das darf nicht in einem Skandal-Debakel enden!), mit Konstrukten an fadenscheinigen Argumenten von Journalisten, wie man den Fußball gerade hinter dieser WM wiederentdecken kann (Die Zeit vom 17.11.22), mit Münchner Wirtshaus-Viewing ja, aber bitte mit Amnesty International-Stand! All das entbehrt jeglicher Logik- und Ethikprüfung. Den WirtInnen kann man am ehesten verzeihen, denn sie haben so sehr unter der Pandemie gelitten, dass ein bisserl Kundschaft ihnen nicht schaden kann (dennoch boykottieren manche diese WM). Und wozu noch all diese Reportagen, Artikel, die sich damit auseinandersetzen? Will man sich im Nachhinein ein gutes Gewissen erkaufen und behaupten können: „Ich habe mich mit dem Problem befaßt, nun darf ich die Spiele verfolgen, laßt mich jetzt bitte alle in Ruhe?“ Eigentlich ist das Kind schon in den Brunnen gefallen: Die WM startet in Katar an diesem Wochenende! Wer sagt aber „STOP“? Wer sagt „NEIN, so nicht“? Die Spieler sind in diesen Machenschaften so verstrickt, dass sie nicht mal davon laufen. Von ihnen hätte man erwarten können, dass der Boykott kommt. Aber nein, sie spielen das ganze böse Spiel mit. Machen wir uns also keine Illusionen, nach Katar wird die FIFA zum „business als usual“ zurückkehren und immer noch nicht besenrein sein, denn: Nach der WM ist vor der WM.
Wenn ich an die WM 2022 denke, fällt mir ein einziges Wort ein: de-ka-dent
Diese WM ist für mich die zur Vollkommenheit gebrachte Dekadenz schlechthin. Ich denke an Rom am Ende seiner goldenen Ära, am Ende seiner Vorherrschaft, an Ruhm und Fall einer Epoche. Über das Land Katar wurde schon viel geschrieben und gesagt. Wenn man des Französischen mächtig ist, kann ich nur die Investigation-Serie von „Blast, le souffle de l’info“ auf YouTube über die „Qatar-Connection“ empfehlen. Dazu die Pressekonferenz von Juan Branco mit zwei seiner Kollegen, die über den äußerst üblen Fall Khelaïfi aufklären (es geht um Betrug, Einschüchterung, Entführung, Folter, usw.). Hm … und wenn man all das weiß, braucht man da wirklich noch eine Instanz, die den Weg frei macht bis zum Public-Viewing und die wir ganz kindisch und unbekümmert fragen können: darf ich…? Oder kann man in der Tat mit reinem Gewissen diese Spiele noch genießen?
Diese WM offenbart mit Wucht die Kluft zwischen den Privilegierten und den Durchgefallenen unserer Gesellschaft. Sie macht deutlich, wie sehr wir unter einer Klassengesellschaft leiden: Hier die Fußballprofis, die in Champagner baden, deren Ikonen gehuldigt werden und dort die in einer verschmolzenen Masse ausgebeuteten Bauarbeiter, deren Namen kaum bekannt sind und die Witwen und Halbweisen hinterlassen.
Ehrlich gesagt, wenn uns das nicht klar und deutlich erscheint, wenn wir es lediglich schaffen, von unserer kleinen Komfortzone aus uns über diese gravierenden Ungeheuerlichkeiten zu empören, dann sind wir Teil dieser abnormalen, uferlosen Dekadenz. Mehr Einsatz wird gefragt!
Fair muss sein. (Bild: © KHJobst)
Schwamm drüber
Wäre ich eine Fee, würde ich all das rückgängig machen: Ich würde die Toten wieder zum Leben erwecken und sie zu ihren Familien zurückschicken, ich würde die Stadien verschwinden lassen und die Wüste wieder Wüste sein lassen, ich würde die Millionen (Milliarden?), die jedes Mal großzügig, um nicht zu sagen verschwenderisch, über die WM regnen, unter den Ärmsten der Armen verteilen, damit sie keine Hungersnot erleiden, ich würde diesen ganzen Schrott an Plastikartikeln, die jede WM begleiten, durch sinnvolles und faires Handwerk ersetzen, ich würde die Gehälter der FIFA-Familie, samt Spieler, drastisch kürzen und an ein vernünftiges Niveau anpassen. Dann würden sie vielleicht ihre Arroganz und Macht irgendwo ablegen, wo sie nicht mehr wieder zu finden sind. Kurzum, ich würde alles auf den Kopf stellen und den Fußball revolutionieren. Leider habe ich keinen Zauberstab. Stattdessen kann ich mir nur das Übel von der Seele schreiben.
Und dann die Herstellung der Fußbällen:
https://www.fairtrade-deutschland.de/produkte/sportbaelle
Und schließlich die „Qatar-Connection“:
https://www.youtube.com/watch?v=ljI9FyhUiiI&list=PLv1KZC6gJTFki6og9c8vTLqQmmf6KdfFM
Und Juan Branco:
https://www.youtube.com/watch?v=k5FJS_8nvKI
Auf Deutsch
Geheimsache Katar: Wie gier die WM in die Wüste brachte
https://www.youtube.com/watch?v=XJEfdMxwLZI
WM 2022 in Katar:
https://www.youtube.com/watch?v=00tLQYd-wWU
