Josef Estermann für die Online-Zeitung INFOsperber
«Die Postfaschisten triumphieren» (Berner Zeitung), «Machtübernahme der Postfaschisten» (Tagesanzeiger), «Giorgia Meloni und ihre postfaschistischen Fratelli d’Italia gewinnen» (NZZ). So lauteten die Kommentare grosser Medien nach dem Wahlsieg von Giorgia Meloni am 25. September 2022 bei den Parlamentswahlen in Italien. Selbst kritische und linksstehende Medien übernahmen unbedarft das «postfaschistische» Vokabular: «Die post-faschistische Partei Fratelli d’Italia unter der Führung von Giorgia Meloni machte bei den Wahlen in Italien mit 26 Prozent die meisten Stimmen.» (Republik, 30.9.22); «allein auf Giorgia Melonis postfaschistische Partei Fratelli d’Italia entfielen 26 Prozent.» (WOZ, 29.9.22).
Warum diese kommentarlose und unkritische Übernahme einer verfänglichen Selbstbezeichnung?
Vom Faschismus über den Neofaschismus zum «Postfaschismus»
Der Begriff «postfaschistisch», beziehungsweise das Substantiv «Postfaschismus» ist eine Selbstzuschreibung der rechtsextremen Partei Fratelli d’Italia, die 2012 von Ignazio Benito La Russa, Guido Crosetto und Giorgia Meloni gegründet wurde. La Russa – der im neuen Parlament Senatspräsident ist – gilt als Patriarch des italienischen Neofaschismus. Sein Vater war ein ehemaliger Führer des «Partito Nazionale Fascista» von Benito Mussolini und seiner Nachfolgepartei «Movimento Sociale Italiano». Aus diesem ging 1995 die «Alleanza Nazionale» (AN) hervor, Vorgängerpartei der Fratelli d’Italia und Koalitionspartner der Forza Italia von Silvio Berlusconi.
Die erwähnten Vorläuferorganisationen der Fratelli d’Italia bezeichneten sich selber als «Neofaschisten», da sie das Vermächtnis des Duce über dessen Tod hinaus weiterführen wollten. Der Parteivorsitzende der «Alleanza Nazionale», Gianfranco Fini (der den Begriff «postfaschistisch» eingebracht hat, um demokratisch zu erscheinen), konnte noch 1994 behaupten, Mussolini sei der grösste Politiker des 20. Jahrhunderts gewesen. Diese Aussage blieb auch von der breiten italienischen Bevölkerung unwidersprochen, und die heutige Ministerpräsidentin Giorgia Meloni machte sie sich als 19-Jährige zu eigen: «Alles, was er getan hat, hat er für Italien getan.»
2014 erweiterten die Fratelli d’Italia ihren Namen zu Fratelli d’Italia – Alleanza Nazionale und nahmen die faschistische grün-weiss-rote Flamme (fiamma tricolore), einst Symbol vom «Movimento Sociale Italiano» und der «Alleanza Nazionale», in ihr Logo auf. Diese züngelt über dem durch einen schwarzen Strich symbolisierten Sarg des Diktators Benito Mussolini. Als Parteichefin Giorgia Meloni vor den Wahlen 2022 aufgefordert wurde, auf die Flamme im Parteilogo zu verzichten, weigerte sie sich mit den Worten: «Wir sind stolz darauf.»
Es geht nicht um die Rekonstruktion der historischen und persönlichen Verbindungen der Fratelli d’Italia und ihren Mitgliedern mit der faschistischen Diktatur von Benito Mussolini und ebenso wenig um die Frage, was als «faschistisch», bzw. «Faschismus» zu bezeichnen ist und wie sich dieser Begriff seit der Prägung durch den Duce gewandelt oder erweitert hat. Die Frage ist vielmehr, warum sich die Wahlsiegerin der italienischen Parlamentswahlen 2022 und heutige Ministerpräsidentin «postfaschistisch» nennt und warum diese Bezeichnung praktisch von allen Medien unbedarft übernommen wird.
Die inflationäre Verwendung von post-
Auch wenn die Kombination mit dem Begriff des Faschismus höchst problematisch ist, knüpft die Verwendung der Bezeichnung «postfaschistisch» durch die Fratelli d’Italia an einen inflationären Gebrauch des Präfixes post- in den letzten zwanzig Jahren an. In akademischen Kreisen spricht man bereits vom «Postismus» als einer Zeiterscheinung. Wo es nicht mehr klare Abgrenzungskriterien gibt, wird Zuflucht zum erwähnten Präfix genommen, das in den meisten Fällen mehr verschleiert als erhellt.
Die Vorsilbe post- zeigt aufgrund seiner etymologischen Bedeutung eine klare Zäsur zwischen einem Vorher und einem Nachher an. Nach Wikipedia ist «posttraumatisch» der Zustand nach einem Trauma, «postkapitalistisch» die Zeit nach dem Kapitalismus, «postkolonial» die Zeit nach dem Kolonialismus, «postmortal» der Zustand nach dem Tod, usw. In diesem Sinne müsste «postfaschistisch» einfach die Zeit oder den Zustand nach der Zeit des Faschismus bezeichnen, was im Fall von Italien merkwürdig anachronistisch anmutet, wurde dieser doch bereits vor fast achtzig Jahren als beendet erklärt.
In Tat und Wahrheit haben wir es bei vielen Bezeichnungen, die mit der Vorsilbe post- anfangen, mit einem Phänomen zu tun, das die Kommunikationswissenschaft als «kalkulierte Ambivalenz oder Ambiguität» bezeichnet. Diese ist insbesondere im Kontext (rechts-)populistischer Kommunikation zu finden. So deutet die Vorsilbe post- im Adjektiv «postfaschistisch» der Fratelli d’Italia eine Überwindung des Faschismus an, ist somit positiv konnotiert und scheint sich vom Faschismus zu distanzieren. Zugleich aber stellt es – nach fast achtzig Jahren «nach-faschistischer» Zeit – eine untergründige und nicht selten auch unverblümt offene Verbindung zum Faschismus Mussolinis und zum Neofaschismus der Vorgängerorganisationen der heutigen Regierungspartei her.
Ganz ähnlich ist dies bei der Verwendung von «postkolonial» oder «postfaktisch» festzustellen. Die vor allem im angelsächsischen Raum beheimateten Postcolonial Studies widmen sich Phänomenen, die in Kultur- und Politikräumen nach der formalen Dekolonisierung von Ländern festzustellen sind, die eine «koloniale» Vergangenheit aufweisen. Diese Phänomene widersprechen aber dem post-, da die kolonialen und neokolonialen Muster weiterhin existieren oder gar noch zunehmen. Um diese Ambivalenz zu vermeiden, haben Intellektuelle in Lateinamerika den alternativen Begriff «dekolonial» geprägt.
Auch beim Begriff des «Postfaktischen» ist diese Ambiguität festzustellen: Das Faktische wird nicht überwunden oder hinter sich gelassen, sondern durch Fiktionales angereichert, was in der Ambivalenz oder gar Widersprüchlichkeit des Begriffs «alternative Wahrheiten» resultiert.
«Postfaschistisch» ist kein harmloser Begriff
Beim Begriff «postfaschistisch» kommt die Dimension der Verharmlosung hinzu, weil die Vorsilbe («post») mit einem für demokratische Rechtsstaatlichkeit völlig inakzeptablen Begriff («Faschismus») verbunden wird. Es würde niemandem einfallen, die Neo-Nazis als «post-nationalsozialistisch» oder den «Neoliberalismus» als «post-liberal» zu bezeichnen. Dass sich Politiker und Medien an «postfaschistisch» nicht stören und diesen Begriff nicht nur als Selbstbezeichnung der Fratelli d’Italia akzeptieren, sondern auch selber ohne jegliche Differenzierung verwenden, ist erstaunlich.
Unter der positiv konnotierten Vorsilbe post- wird ein Denken salonfähig, das alles andere als eine Überwindung faschistischer Vorstellungen bezweckt, auch wenn sich Giorgia Meloni in ihrer Antrittsrede als neue Ministerpräsidentin Italiens ausdrücklich vom «Faschismus» distanzierte. Die Fratelli d’Italia und viele ihrer Gefolgsleute vertreten nach wie vor «braunes» Gedankengut, halten in ihrem Parteilogo an der Verbindung zur Diktatur Mussolinis fest und vertreten neofaschistische Positionen und Ansichten.
Um eine Verharmlosung oder gar Irreführung mit dem Begriff zu vermeiden, müssten Medien «postfaschistisch» zumindest in Anführungszeichen setzen oder besser noch ausdrücklich im Sinne der Selbstzuschreibung («die sich selbst ‘postfaschistisch’ nennenden Fratelli d’Italia») verwenden. Wenn es darum geht, die Fratelli d’Italia selber zu qualifizieren, wäre Klartext mit den Begriffen «neofaschistisch» oder «refaschistisch» angesagt, auch wenn die Partei selber am Label «postfaschistisch» festhält.