„Die Generation, der ich angehöre, die nach dem Krieg geboren wurde“, schreibt Helmut Ortner in seinem kürzlichen Artikel „Schuld, Schutt und Scham“, „diese Generation der Nachgeborenen trägt keine Schuld – aber sie hat die Verpflichtung zur Erinnerung.“ Die axiomatische Behauptung, keine Schuld mehr zu haben, scheint ebenso ins kollektive Gedächtnis eingeprägt wie das Bewusstsein einer Schuld der Kriegsgeneration. Die allermeisten Deutschen würden erfreut mit dem Kopf nicken: Ja, wir haben keine Schuld mehr.
Doch Schuld ist keine physikalische Größe. Man kann sie weder vermessen noch abwiegen noch im Experiment nachweisen. Da sie nächtens zuzunehmen pflegt, hat sie auch keine Farbe, etwa Schwarz, während die Unschuld weiß wäre. Schuld, so meine Vermutung, gibt es von Tiefschwarz bis hin zu allen Graustufen im vorweißen Bereich.
Ich bezweifle also die Behauptung, die Generation der Nachgeborenen habe keine Schuld. Dabei ergibt sich rasch die Frage, ob Schuld denn, wenn sie schon nicht quantifizierbar ist, wenigstens objektivierbar ist. Auch das erscheint mehr als fraglich. Es gibt Menschen, bei denen ein Moment von Schuld aufzuckt, wenn sie das Blut der erschlagenen Mücke am Fenster entdecken. Andere essen keinen Honig, um sich nicht an Bienen schuldig zu machen, während dritte sich unbekümmert bei einer Grillparty mit Steaks den Bauch vollschlagen. Sind Letztere nicht schuldfähig? Aber sehr wohl sind sie das, denn die allermeisten Steakfreunde würden vor Menschenfleisch zurückzucken. Schuld ist also auch eine Frage des kulturellen Rahmens bzw. der kulturellen Fremd- und Selbstprägungen. Mir scheint, als gäbe es einen verharmlosenden „Geist des Bösen“, der so jederzeit neues Böses gebären kann. Schuld ist in diesem Zusammenhang nicht die Folge einer Tat, sondern vielmehr ein Mess- und Erkennungsinstrument, um sich von diesem Geist nicht erneut infizieren zu lassen.
Zuletzt ist Schuld auch eine Frage der Zeit. Kurz nach der Tat ist die Schuld besonders lebendig, bevor ihr im Laufe der Wochen und Jahre eine Kruste wächst, die sie immer weniger wahrnehmbar macht. Das gilt meines Erachtens für die individuelle wie für die kollektive Schuld. Als ich kürzlich Urlaubstage in Danzig verbrachte, entschloss ich mich, das nahe gelegene Vernichtungslager Stutthof nicht zu besuchen, um die einigermaßen solide Kruste meines ererbten Schuldgefühls nicht aufzureißen. Hätte ich so reagiert, wenn meine Generation frei wäre von Schuld?
Wenn Schuld aber all das nicht ist, nicht quantifizierbar, nicht objektivierbar, nicht sichtbar, ja nicht einmal objektiv, was ist sie dann? Definitiv ist sie dann auch nicht erodierbar. Schuld ist eine subjektive Gewissenskategorie, ein Wahrnehmungsfeld, das einer gewissen ethischen Sensibilität bedarf. Wessen seismografisches Instrumentarium in diesem Feld weniger bis gar keine Ausschläge zeigt, der ist frei von Schuld. In einer Zeit, in der nur das Messbare und Verwertbare einen Anspruch auf Wirklichkeit hat, könnte man die Schuld des nationalsozialistischen Massenverbrechens natürlich generell in die Tonne der Zeitgeschichte oder doch wenigstens des Zeitgeistes treten und sich aufatmend hinter den Satz stellen: „Diese Generation der Nachgeborenen trägt keine Schuld.“
Wie aber steht es mit der „Verpflichtung zur Erinnerung“ im Folgesatz? Geht es dabei um ein gesellschaftliches Ritual, etwa bei Auschwitz-Gedenktagen, oder geht es um eine innerlich empfundene Verpflichtung. Woher aber stammte die, wenn nicht wenigstens aus Restbeständen von Schuld? Wie dem auch sei: Schuld verliert sich im Verlauf der Geschichte. Hier etwa, in Würzburg, steht auf dem unteren Marktplatz die gar nicht so kleine Marienkapelle, ein architektonisches Schmuckstück der Innenstadt, erbaut auf dem Grund und Boden und in Folge eines mittelalterlichen Judenpogroms, an das nicht nur noch Stadthistoriker erinnern.
Schuld plagt deshalb schon lange keinen Würzburger mehr, und niemand käme auf die Idee, die Erinnerung daran zur Pflicht zu machen – vielleicht auch deshalb, weil uns sonst unter den sich so angestauten Schuldbergen der Atem versagte. Oder weil wir dann nicht mehr dazu kämen, unbeschwert neue Schuld in neuen Kriegen und neuen Massenmorden auf uns zu laden.