Helmut Scheben für die Online-Zeitung INFOsperber
«Im Frühling würde alles anders, die Natur würde erwachen, die Vögel würden lauter singen als die Geschütze feuerten, weil die Vögel in der Nähe sangen, die Geschütze aber dort in der Ferne blieben. Nur manchmal würden die Artilleristen aus unbegreiflichem Grund, vielleicht weil sie betrunken oder müde waren, ein Geschoss zufällig auf das Dorf, auf Malaja Starogradowka, abfeuern. Einmal im Monat, nicht öfter. Das Geschoss würde dorthin fallen, wo es schon kein Leben mehr gab: auf den Friedhof oder den Kirchenvorhof oder das seit langem leerstehende Gebäude des alten Kolchosebüros.»
So denkt der Bienenzüchter Sergej Sergejitsch im Donbass. Er sieht keinen Sinn in diesem Krieg. Er versteht auch nicht, warum man auf sein Dorf schiesst, ein Niemandsland, aus dem fast alle Leute geflohen sind, die einen nach Osten, die andern nach Westen. Sergej fürchtet, dass seine Bienenstöcke Schaden nehmen könnten.
Der Roman «Graue Bienen» des ukrainischen Schriftstellers Andrej Kurkow erschien 2018, also zu einem Zeitpunkt, da die Angriffe der ukrainischen Armee auf den Donbass keine Schlagzeilen im Westen machten. Westeuropa war beschäftigt mit Greta Thunberg, mit Donald Trump, mit der Fussballweltmeisterschaft oder der Traumhochzeit von Prinz Harry und Meghan Markle.
Andrej Kurkow ist Vorsitzender des PEN-Clubs Ukraine und ein scharfer Kritiker des russischen Angriffs auf die Ukraine. Von einem solchen Autor wird man keine russische Propaganda erwarten, sondern eher schroffe Ablehnung der Politik des Kremls. Die kann man aus dem Buch klar herausfiltern.
Es gibt aber auch keine Sympathie für die Regierung in Kiew. Vielmehr merkt man bei der Lektüre von der ersten Seite an, dass dem Autor nichts ferner liegt als ein Propagandastück. Aber selbst wenn es eines wäre: Bücher können klüger sein als ihre Autoren. Denn da ist eine Erzählerstimme, die mit Genauigkeit und Bedächtigkeit – fast möchte man sagen mit teilnahmsloser Resignation – die Erlebnisse der Hauptfigur Sergej wiedergibt.
Es ist der Versuch zu schildern, welchen Einfluss das grosse historische Geschehen auf das kleine, private Leben eines Menschen hat. Kurkow ist russischsprachiger Ukrainer und ein Zeitzeuge, dem wir abnehmen können, dass er die Welt kennt, die er beschreibt.
Erzählende Literatur erfindet Ereignisse und Gestalten in einer «fictional world». So hat Kurkow wahrscheinlich die Protagonisten und das Dorf erfunden. Oder vielleicht nur die Namen eines realen Dorfes und realer Menschen geändert. Das kontextuelle Panorama ist jedenfalls unbestreitbar Realität. Dass in den Konfliktgebieten von Donezk und Luhansk ab 2014 über Jahre hinweg Kämpfe stattfanden, ist in den Rapporten der OSZE-Beobachter nachzulesen. Bis zum Einmarsch der Russen im Februar 2022 soll es fast 15’000 Tote gegeben haben.
Der ungarische Literaturtheoretiker Georg Lukács hat über die Romane Alexander Solschenizyns, die von der stalinistischen Verfolgung handeln, einmal gesagt, sie zeigten, dass fiktionale Literatur «ein deutlicheres Bild des gesellschaftlichen Seins geben könnte als dieses selbst.» Kunst kann demnach die Funktion haben, die Wirklichkeit poetisch zu überbieten, um sie zu durchschauen.
Roman Bucheli von der NZZ-Feuilleton-Redaktion bringt den Sachverhalt in wenigen Sätzen auf den Punkt: «So besteht das Paradox aller Kunst darin, dass sie über die Vorstellungskraft zurück in die Wirklichkeit führt. Die Imagination entwertet nicht das Faktische, sondern schärft die Sinne für dessen Verständnis. Darum haben wir in der Kunst wie im Sandkasten die Welt noch einmal neu zu erfinden gelernt, allerdings nicht, um in der Simulation das bessere Leben zu finden. Doch um die Wirklichkeit genauer zu lesen.» (NZZ 12.2.22)
Es ist somit ein fundamentaler Unterschied, ob wir Mitteilungen über den Krieg mittels Zeitungen, News-Ticker und Breaking News bekommen oder mittels «Kunst als Fiktion». Günther Anders hat in seinem Essay «Die Antiquiertheit des Menschen» bereits in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine realitätsvernichtende Wirkung der News-Medien beobachtet, welche uns «die Welt» ins Haus zustellen, vergleichbar mit der Lieferung von Gas oder Elektrizität:
«Wer ‹im Bild’ sein will, wer wissen will, was es draussen gibt, der hat sich nachhause zu begeben, wo die Ereignisse ‘zum Schauen bestellt’ schon darauf warten, Leitungswasser gleich für ihn aus dem Rohr zu schiessen. Wie sollte er auch draussen, im Chaos des Wirklichen, in der Lage sein, irgendein Wirkliches von mehr als lokaler Bedeutung herauszupicken?»
Wenn ein Ereignis erst als TV-Bild gesellschaftlich wirksam werde, dann seien die Bilder wichtiger als das Ereignis, dann sei der Unterschied zwischen Sein und Schein, zwischen Wirklichkeit und Bild, aufgehoben, argumentiert Anders. Mehr noch: Wenn erst die milliardenfache bildliche Reproduktion das Ereignis zum Ereignis macht, dann hat sich das Original nach den Anforderungen der Reproduktion zu richten. Die durchschnittliche Länge einer TV-Nachricht dürfte sich zwischen 120 und 180 Sekunden bewegen. Die Welt kommt zu uns als bezahlte Ware. Der Konsument, die Konsumentin kann über die so gelieferte Welt zuhause auf seinem Sofa bestimmen: Er kann sie anschalten oder ausschalten.
Wenn an dieser Kritik einiges zutrifft, dann ist die Sache mit der Verbreitung des tragbaren Spielzeugs namens Smartphone nicht besser geworden. Aber es besteht, wie oben angedeutet, Grund zur Hoffnung. Unsere «Benachrichtigung» ist nicht so fatal von Verkürzung, Verfälschung und Verfremdung geprägt, wie Anders andeutet.
Denn es gab zu allen Zeiten auch andere Darstellungen. Sie kamen und kommen von Menschen, die uns in selbstgewählten Formen mitteilen, was sie in der Welt gesehen haben. Leute, die Geschichten erzählen. Oder literaturtheoretisch genauer: Autorinnen und Autoren, die Erzählern das Wort geben. Nicht auf Twitter oder Instagram, sondern in Romanen, Kurzgeschichten, Essays, Filmen oder sogar in Liedern oder Gedichten.
Matthias Claudius hatte die ethische Grundhaltung eines Pazifisten, lange bevor es dieses Wort und die Bewegung gab. Er schrieb 1779 sein ergreifendes Gedicht «Kriegslied», dessen letzte Strophe lautet:
Was hülf mir Kron und Land und Gold und Ehre?
Die könnten mich nicht freun!
S’ ist leider Krieg – und ich begehre,
Nicht schuld daran zu sein!
In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts waren es vor allem Romane, die die katastrophalen Kriege reflektierten. Henri Barbusse, der als «poilu», als einfacher Infanterie-Soldat, das industrielle Schlachthaus des Stellungskrieges überlebte, publizierte 1916 seinen Roman «Le Feu». Es war eine Lektion über den Ersten Weltkrieg, wie viele Zeitungsberichte sie nicht liefern konnten. Das Gleiche gilt für «Im Westen nichts Neues» (1929) von Erich Maria Remarque. Im Vorwort schrieb Remarque, sein Buch solle «den Versuch machen, über eine Generation zu berichten, die vom Krieg zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam.»
Der Rückzug in die radikale Subjektivität eines fiktionalen Erzählers kann der gesellschaftlichen Realität näher kommen, als die vorgebliche Objektivität eines Journalismus, der sich den Machtstrukturen nicht entziehen kann, in denen er eingebettet ist. Das geschundene und zwischen den Fronten zerriebene Individuum in einem Roman wie «Graue Bienen» erscheint in seiner kleinen Welt als letzte Bastion von Glaubwürdigkeit und Menschlichkeit.
Was nicht bedeutet, dass fiktionales Schaffen stets der Wahrheit verpflichtet ist. Die Fiktion kann zur Propaganda verkommen. Hollywood hat in dieser Hinsicht eine unrühmliche Tradition. Ein Film wie «American Sniper» zum Beispiel zeigt den Irak-Krieg als patriotisches Heldenepos eines US-Scharfschützen und blendet aus, dass dieser Angriffskrieg des Westens mit Lügen gerechtfertigt wurde.
Autorinnen und Autoren sind Kinder ihrer Zeit. Sie können sich aus den Fesseln ihrer kulturellen und politischen Sozialisation kaum befreien. Dieses Framing erklärt, warum es für verschiedene Menschen so viele verschiedene «Wahrheiten» gibt, zumal die Gehirnforschung zeigt, dass wir lebenslange Erfinder und Dramaturgen unserer Erinnerungen sind. Oder, wie Werner Herzog es formulierte, «Ghostwriter unserer eigenen Realität». Die Journalistin Karin Leukefeld zitierte kürzlich einen Kameramann, der sagte: «Du siehst nur, was du weisst.»
Hemingways «Wem die Stunde schlägt» (1940) öffnet zum Beispiel einen anderen Zugang zum Verständnis des spanischen Bürgerkrieges als George Orwells bitter ernüchternde «Homage to Catalonia» (1938). Hans Magnus Enzensberger liefert in «Der kurze Sommer der Anarchie» drei Jahrzehnte später wertvolle Aufschlüsse über diesen Krieg, der die spanische Gesellschaft in zwei Lager teilte. Eine Vergangenheit, deren Aufarbeitung aus Angst vor einem Aufbrechen tiefer Wunden bis heute tabuisiert wurde.
«Der Roman ist die private Geschichte der Nationen», sagte Balzac. Zum Verständnis von Geschichte ist fiktionale Literatur unersetzbar. Nur sie ermöglicht ein Innehalten und behutsames Entdecken der Vergangenheit, ohne die es kein Entdecken der Gegenwart gibt. Denn auf Tagesjournalismus und «social media» ist in Kriegszeiten wenig Verlass.
Der Imker Sergej übt eine Tätigkeit aus, die vermutlich so alt ist wie die Menschheit. Er freute sich – wie es im Text heisst – im Sommer am Summen der Bienen und im Winter an der Stille und den schneeweissen Feldern:
«So hätte er das ganze Leben verbringen können, aber daraus war nichts geworden. Etwas im Land ging zu Bruch, dort in Kiew, wo immer irgendetwas nicht in Ordnung ist. Es ging derart zu Bruch, dass schmerzhafte Risse durch das Land liefen wie durch Glas, und aus diesen Rissen floss Blut.»