Mit dem Sieg Lulas liegen viele Herausforderungen vor uns, die wir beobachten und über die wir ernsthaft nachdenken müssen. Die erste davon ist der Übergang der Regierung, der erst am 1. Januar 2023 stattfinden soll.
Das Kapitel des Putsches, der in Brasilien durch das betrügerische Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma im Jahr 2016 und die illegale Inhaftierung von Lula im Jahr 2018 vollzogen wurde, beginnt sich zu drehen, aber es ist noch zu früh, um zu feiern.
Auch wenn die Liebe den Hass auf nationaler Ebene besiegt hat, müssen wir bis zum Amtsantritt der neuen Regierung sehr vorsichtig sein, denn Lulas Sieg war knapp, er hat in vielen Bundesstaaten verloren und es gibt große Irritationen in den Sektoren, die Bolsonaros Milizen unterstützen.
Trotz der Unterstützung und der öffentlichen Anerkennung, die mehrere führende Persönlichkeiten der Welt und des Landes bereits für den Sieg Lulas erklärt haben, dürfte der Machtwechsel unter Bolsonaro noch turbulenter verlaufen als der Übergang zwischen Trump und Biden in den Vereinigten Staaten.
Einen kleinen Vorgeschmack darauf gab es bereits bei der Wahl am 30. Oktober 2022, als eine weitere beispiellose autoritäre Maßnahme stattfand, bei der Hunderte von Polizeieinsätzen auf Straßen und Autobahnen im ganzen Land durchgeführt wurden, um die Bevölkerung am Wählen zu hindern, zu destabilisieren, zu verzögern und zu entmutigen. Interessanterweise fanden die meisten dieser Einsätze im Nordosten statt, wo die Mehrheit für Lula gestimmt hatte.
Darüber hinaus hat die von Lula angeführte breite Front für Demokratie die Gouverneurswahlen in vielen wichtigen Bundesstaaten verloren, muss mit einem polarisierten Kongress regieren und sich mit einer stark radikalisierten und konservativen Opposition auseinandersetzen.
Die schwierigste Herausforderung für das brasilianische Volk wird jedoch wahrscheinlich nicht in den Bereichen Geopolitik, Soziales oder Wirtschaft liegen, in denen die Regierung Lula bereits einen klaren Kurs verfolgt und die Situation einigermaßen im Griff hat.
Die größte Herausforderung für die Regierung und für die Bevölkerung wird der Streit um die Narrative im kulturellen Bereich und in den Medien sein. In diesem Bereich müssen wir dringend humanistische Agenden fördern, da die Debatte von fundamentalistischen Meinungsmachern aller Art beherrscht wird.
Kommunikator:innen, Pastor:innen, Polizist:innen, Politiker:innen und einflussreiche Personen nutzen Fehlinformationen, um Vorurteile zu verstärken, Hassreden zu verbreiten und zu bewaffneter Gewalt und politischer Verfolgung gegen Andersdenkende anzustiften.
Mit einer zunehmend verengten und fragmentierten Denkweise ist ein Großteil der Bevölkerung zur Geisel von Fake News geworden und wartet sehnsüchtig auf die nächste Meldung, um eine Meinung zu haben, ihren Spannungen Luft zu machen, sich als Teil von etwas Größerem zu fühlen und einen Sinn im gemeinsamen Leben zu finden.
Allein in der zweiten Runde dieser Wahlen wurden wir Zeug:innen, wie ein pro-bolschewistischer Kongressabgeordneter und eine Kongressabgeordnete Videos aufnahmen, während sie ein Attentat auf Polizist:innen und einen Journalisten verübten. Sie waren nicht nur stolz auf ihre zügellose Gewalttätigkeit, sondern ermutigten auch andere, in ihre Fußstapfen zu treten und Hassverbrechen zu begehen.
Im Gegensatz zu dem, was viele denken, wurden die Wahlen durch diese beiden gewalttätigen Vorfälle, die sich während der zweiten Runde ereigneten, nicht wesentlich beeinträchtigt, was vor allem auf den Fanatismus und Fundamentalismus zurückzuführen ist, der tagtäglich intensiv geschürt wird.
In diesem Szenario mit vielen Fehlinformationen ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir neue humanistische Bezugspunkte und eine „antifundamentalistische“ Kultur schaffen, die auf der Freiheit der Ideen und des Glaubens basiert.
Selbst wenn die künftige Regierung Lula erfolgreich regiert und die wirtschaftlichen Versprechen zur Verbesserung des materiellen Lebens der Bevölkerung erfüllt, darf das kulturelle Leben nicht den Banken der Bibel, der Kugel und des Ochsen überlassen werden. Wir können auch nicht die Strategien der Fundamentalisten und Neofaschisten wiederholen; die Geschichte hat bereits gezeigt, wohin dies führen kann.
Mit einigen humanistischen Strategien ist es angesichts der Rückschläge möglich, den Absurditäten dieser fundamentalistischen und konservativen Bewegungen auf kreative Weise zu begegnen, indem wir die Methodik der aktiven Gewaltlosigkeit anwenden, lokale Gruppen organisieren und eine andere Art von Agenda, eine andere Art von Ästhetik und einen anderen Stil auf der politischen Bühne installieren.
Wir, die Humanist:innen aus São Paulo, sind erschöpft aber glücklich, dass wir einen so anstrengenden und schwierigen Wahlkampf siegreich beendet haben, glücklich und dankbar, dass es uns gelungen ist, das Narrativ in der zweiten Runde der Wahlen zu ändern, dass wir viele Künstler:innen und Kommunikator:innen davon überzeugt haben, ihre Kreativität einzusetzen und nicht wie der Gegner schmutzig zu spielen, glücklich, dass wir andere zu einer segmentierten und humorvollen Kommunikation inspiriert haben, die dazu beigetragen hat, den Spuk zu beenden und andere, noch unentschlossene Zielgruppen zu erreichen.
In einer Zeit, in der sich die Strategie, Fake News mit noch mehr Fake News zu bekämpfen, als unwirksam erwies, um die öffentliche Meinung zu verändern, entstanden innovative Aktionen im öffentlichen Nahverkehr, Videos, Lieder und kreative Materialien, mit denen es gelang, die Kampagne für Demokratie auf verschiedene Nischen und Zielgruppen auszuweiten.
Wir wissen nicht, ob es durch „Osmose“ oder durch einen „Demonstrationseffekt“ geschah, aber wieder einmal trugen wir zu einem pittoresken Phänomen bei, das Silo als „Fliege in der Waageschale“ bezeichnete, und wir leisteten in diesem letzten Abschnitt des Wahlkampfs einen grundlegenden Beitrag, indem wir sowohl bei den Straßenaktionen als auch bei den in den Netzwerken veröffentlichten Videos und Materialien einen deutlichen Wechsel in Ton, Farben und Stil vollzogen.
Nun, da die Wahlen vorbei sind, wird es notwendig sein, eine permanente Kampagne zu führen, um die andere Hälfte des Landes zu gewinnen. Dies ist eine Aufgabe, über die wir ernsthaft und in Zusammenarbeit mit anderen Bewegungen, Einrichtungen, Institutionen und Organisationen nachdenken müssen. Wenn wir eine kulturelle Lücke hinterlassen, wird diese Lücke von antihumanistischen und rückschrittlichen Kräften gefüllt werden, die sich international mit zunehmender Gewalt artikulieren.
Es reicht nicht aus, dass wir Bilder von einer Zukunft voller Möglichkeiten vermitteln, wir brauchen einen einfachen Weg, dem gewöhnliche Menschen folgen können, um außergewöhnliche kollektive Erfahrungen zu machen.
Und weit über das Anzweifeln von Narrativen oder Positionen innerhalb eines Landes, weit über die Humanisierung einer bestimmten nationalen Kultur hinaus, müssen wir lernen, die kulturellen Strukturen unserer zukünftigen universellen menschlichen Nation aufzubauen.
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Anita Köbler vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!