26 Jahre hat es von den ersten Strafanzeigen bis zur Auszahlung von Entschädigungen gedauert. Nun bekommen Chilenen, die in den 1990er Jahren Opfer von sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung in der Ex Colonia Dignidad (heute Villa Baviera) wurden, die Entschädigung, die ihnen rechtskräftig zusteht.
Eine erste Teilzahlung war bereits im Juni erfolgt. Nun bestätigt Rechtsanwalt Winfried Hempel, der selbst in der deutschen Sektensiedlung aufgewachsen ist: „Die zur Holding der Villa Baviera gehörende Immobiliengesellschaft ‚Bergneustadt‘ hat am 12.10.2022 die noch ausstehenden rund 450.000 Euro an ein chilenisches Gericht gezahlt, das die Entschädigungen an elf Chilenen und ihre Familien weiterleiten wird“.
Kinder mussten in der Colonia Dignidad viel arbeiten und waren sexualisierter Gewalt unterworfen
Villa Baviera ist der offizielle Name der 1961 von dem deutschen Laienprediger Paul Schäfer und 300 Anhänger*innen in Südchile gegründeten Siedlung, die als Colonia Dignidad bekannt wurde. In dieser gehörten sexualisierte Gewalt und Zwangsarbeit jahrzehntelang zum Alltag. Während der chilenischen Diktatur (1973 bis 1990) arbeitete die Führung der sektenartigen Gemeinschaft mit dem Geheimdienst DINA zusammen. Hunderte Oppositionelle wurden auf dem Gelände gefoltert, Dutzende ermordet, sie sind bis heute verschwunden. Der deutschen Regierung waren die Verbrechen der Colonia Dignidad seit Jahrzehnten bekannt. Doch sie unterbanden sie nicht.
In den 1990er Jahren wurden mehrere chilenische Kinder aus meist armen Familien aus der ländlichen Umgebung der Colonia Dignidad in der Siedlung festgehalten, einige besuchten dort ein sogenanntes Intensiv-Internat. Denn die sogenannte Kolonie der Würde gab sich wohltätig, unterhielt ein Krankenhaus und eine Schule. Einen regulären Schulbetrieb gab es jedoch nicht, die Kinder mussten viel arbeiten und waren Schäfers sexualisierter Gewalt unterworfen.
Familien der Kinder brachten Colonia Dignidad zu Fall
1996 gelang es einem von ihnen, dem damals 12 Jahre alten Cristóbal Parada, eine Nachricht aus der streng abgeriegelten Siedlung herauszuschleusen. Seine Mutter Jacqueline Pacheco erstattete bei einer als unbestechlich geltenden Polizeieinheit in der Hauptstadt Santiago Anzeige gegen Schäfer.
Weitere chilenische Familien, deren Kinder auch sexualisierter Gewalt durch Schäfer ausgesetzt waren, folgten. Sie waren es, die die Colonia Dignidad in ihrer alten Form zu Fall brachten. Denn sie gaben den Anstoß für die ersten Durchsuchungen und ernsthaften polizeilichen Ermittlungen gegen die Siedlung. Sektenchef Schäfer wurde wegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauchs, weitere Führungsmitglieder und Unterstützer*innen wegen Entführungs- oder Beihilfetaten zu Haftstrafen verurteilt. Schäfer war bereits 1997 nach Argentinien geflohen, wurde dort 2005 verhaftet und starb 2010 im Gefängnis in Santiago.
Rechtskräftige Ansprüche auf insgesamt 1,3 Millionen Euro Entschädigung
2013 verurteilte der Oberste Gerichtshof Chiles Führungsmitglieder der deutschen Siedlung in letzter Instanz zu Entschädigungszahlungen von umgerechnet etwa 1,3 Millionen Euro an elf Chilenen und deren Familien. Doch die Villa Baviera, die aus einer Firmenholding verschachtelter Aktiengesellschaften im Bereich Tourismus, Landwirtschaft und Immobilien besteht, verzögerte diese Zahlungen immer wieder. 2015 erstritten die Anwälte der Opferseite vor Gericht, dass vier Grundstücke des insgesamt etwa 17.000 Hektar großen Geländes der deutschen Siedlung zur Zwangsversteigerung vorgesehen wurden, um die Entschädigungszahlungen zu erwirken.
Nachdem mehrere Termine kurzfristig wieder abgesagt worden waren, wurde am 9. Juni 2022 ein gut 1.000 Hektar großes Grundstück für umgerechnet etwa 950.000 Euro an das Forstwirtschaftsunternehmen Fosforera Copihue versteigert. „Nach über zwanzig Jahren haben wir heute ein Stück Gerechtigkeit erfahren“, sagte Cristóbal Parada anschließend. Und Rodrigo San Martin Valenzuela – auch er hat Anspruch auf Entschädigung – war sich sicher: „Dieser Tag bedeutet einen Sieg für uns“.
Am 12. Oktober wendete die Villa Baviera mit der Zahlung von 450.000 Euro nun weitere Zwangsversteigerungen ab. Zwar mag der jetzige Schritt verwundern, war doch aus Darstellungen von führenden Personen der Firmenholding zuvor zu entnehmen, die betriebswirtschaftliche Lage der Villa Baviera sei schwierig, die Unternehmen seien verschuldet. Aber diese Aktion schafft Rechtsfrieden im zivilrechtlichen Streit mit den chilenischen Missbrauchsopfern. „Damit ist das Vollstreckungsverfahren beendet“, erklärt Rechtsanwalt Hempel, „eine der vier Opfergruppen der Colonia Dignidad wurde aus den Vermögenswerten der Siedlung entschädigt“.
„Unser wichtigstes Ziel ist Gerechtigkeit“
„Es ist gut, dass wir die Entschädigung bekommen haben, für die wir jahrelang gekämpft haben“, sagt Jaime Parra, der auch in der Villa Baviera festgehalten und vergewaltigt wurde. „Aber unser wichtigstes Ziel ist Gerechtigkeit. Die Täter sollen bestraft werden, und es gab außer Paul Schäfer weitere Täter. Es ist schmerzhaft, zu sehen, dass viele straflos bleiben – auch, dass Hartmut Hopp in Deutschland frei herumläuft“.
Hopp, der frühere Arzt der Colonia Dignidad, ist in Chile wegen Beihilfe zu Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch rechtskräftig zu fünf Jahren Haft verurteilt. Dieser Strafe entzog er sich durch Ausreise nach Deutschland, wo er als deutscher Staatsangehöriger nicht verfolgt wird. Seit 2011 lebt er weitgehend unbehelligt in Krefeld. Chile beantragte, Hopp solle seine chilenische Strafe in Deutschland verbüßen. Das OLG Düsseldorf lehnte diesen Antrag 2018 in letzter Instanz ab. Eigenständige strafrechtliche Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Krefeld gegen Hopp wurden 2019 ebenso eingestellt. Die deutsche Justiz hat in keinem Fall Anklage wegen Verbrechen der Colonia Dignidad erhoben. Der Fall Colonia Dignidad gilt als einer der größten Justizskandale in Deutschland.