Deutschland verfehlt seine Klimaziele und steigert, um den Machtkampf gegen Russland mit aller Macht führen zu können, den Verbrauch fossiler Energieträger, erklärt sich aber zum Klimaschutz-Vorreiter.
Die Bundesregierung verfehlt ihre Klimaziele, räumt dem Machtkampf gegen Russland Vorrang vor dem Kampf gegen den Klimawandel ein und lobt sich selbst als Vorreiterin bei der Reduzierung der Emission von Treibhausgasen. Wie unmittelbar vor Beginn der UN-Klimakonferenz in Sharm El Sheikh bekannt wurde, genügt die Reduzierung der Treibhausgasemissionen in Deutschland bisher nicht, um das für 2030 vorgesehene Einsparziel zu erreichen. Die Instrumente, die nötig wären, um in den kommenden acht Jahren aufzuholen, sind laut dem Expertenrat für Klimafragen nicht vorhanden. Weil die Bundesregierung – anders als etwa die Regierung Japans – zudem auf russisches Erdgas verzichten will, werden die Laufzeiten deutscher Kohlekraftwerke verlängert. Die Flüssiggasinfrastruktur, die Berlin zudem errichtet, wird Kritikern zufolge die Nutzung von Erdgas voraussichtlich deutlich in die Zukunft strecken. Außenministerin Annalena Baerbock behauptet vor der UN-Klimakonferenz in Sharm El Sheikh, man „wisse“ genau, was „zu tun“ sei: „schnellstmöglich raus aus fossiler Energie“. Ignoriert wird dies freilich von der Bundesregierung.
Klimaziele verfehlt
Die Bundesrepublik hat bereits in den vergangenen Jahren ihre klimapolitischen Ziele komplett verfehlt. Dies geht aus dem jüngsten Zweijahresgutachten des Expertenrates für Klimafragen hervor, das Ende der vergangenen Woche veröffentlicht wurde. Demnach sind die Treibhausgasemissionen in Deutschland zwar von 2000 bis 2021 um gut 26,6 Prozent gesunken. Doch reicht dies dem Expertenrat zufolge „bei weitem nicht aus, um die Klimaschutzziele für das Jahr 2030 zu erreichen“ – und zwar „weder in der Summe noch in den einzelnen Sektoren“.[1] Die höchsten Reduktionen hat demnach der Energiesektor erzielt, der im Jahr 2021 36 Prozent weniger Emissionen verursachte als noch im Jahr 2000. Erheblich geringer waren die Reduktionen im Verkehr (18 Prozent) und in der Industrie (13 Prozent), wobei deren stärkster Rückgang schon zwischen 2000 und 2010 erfolgte; seit 2017 waren zeitweise sogar wieder Emissionssteigerungen zu verzeichnen. Solle Deutschland bis 2030 bei der Emissionsminderung wieder im Plan sein, dann müsse man das Tempo im Vergleich zur Entwicklung von 2011 bis 2021 ab sofort „mehr als verdoppeln“, schreibt der Expertenrat. Im Verkehr sei nun sogar „eine 14-fache Erhöhung der durchschnittlichen Minderungsmenge pro Jahr notwendig“.
Macht vor Klima
Dies zu erreichen ist unter den gegebenen politischen Verhältnissen offenkundig unmöglich. Zum einen genügen, wie der Expertenrat festhält, die „bis zum Jahr 2021 implementierten Politikinstrumente“ dafür „in keinem Sektor“.[2] Zum anderen führt die Tatsache, dass Berlin dem Wirtschaftskrieg gegen Russland umfassend Priorität gegenüber dem Kampf gegen den Klimawandel einräumt, dazu, dass gewisse mittlerweile erreichte Fortschritte rückgängig gemacht werden; so steigt inzwischen der Anteil von Kohlekraftwerken an der deutschen Stromerzeugung wieder an. Schon im ersten Halbjahr 2022 erreichte er 31,4 Prozent; in den ersten sechs Monaten 2021 hatte er noch bei 27,1 Prozent gelegen.[3] Zugleich verlängert die Bundesregierung die Laufzeit von Kohlekraftwerken und nimmt bereits stillgelegte Kohlekraftwerke wieder in Betrieb. Der drohende Erdgasmangel, der dies notwendig macht, ist eine Folge der Tatsache, dass Deutschland und die EU den raschestmöglichen Ausstieg aus dem Bezug russischen Erdgases angekündigt haben und Russland darauf mit Kürzungen reagiert. Japan, das russisches Erdgas komplett von seinen Sanktionen ausgenommen und die Kaufverträge verlängert hat, wird von Moskau umstandslos weiterhin beliefert (german-foreign-policy.com berichtete [4]).
Zusätzliche Emissionen
Weitreichende klimapolitische Folgen hat laut dem Urteil von Kritikern auch der Umstieg von russischem Pipeline- auf US-amerikanisches Flüssiggas. Letzteres wird vor allem durch Fracking gefördert, eine Methode, die erhebliche Umweltschäden mit sich bringt und darüber hinaus die Bevölkerung rings um die Förderstellen gefährdet; diese – oft ärmere ländliche Gemeinschaften, nicht selten Nicht-Weiße – haben „ein erhöhtes Risiko, an Krebs und einer Reihe anderer medizinischer Störungen zu erkranken, wobei Schwangere und Kinder ein noch größeres Risiko verzeichnen“, stellt die belgische Nichtregierungsorganisation Food & Water Action Europe fest.[5] Der Organisation zufolge hat der Import von 50 Milliarden Kubikmetern Flüssiggas, den die EU den US-Gasexporteuren zugesagt hat, Emissionen von rund 400 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten zur Folge; das entspricht, heißt es, jährlichen Emissionen von 100 Kohlekraftwerken. Bis einschließlich 2029 belaufe sich die Menge des importierten US-Flüssiggases auf fast 2,9 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalente – so viel wie die Jahresemissionen von über 621 Millionen Autos. Die Klimabilanz von Flüssiggas falle dabei eindeutig schlechter als diejenige von russischem Pipelinegas aus.
Auf Jahrzehnte angelegt
Hinzu kommt, wie Food & Water Action Europe konstatiert, dass der Import von vor allem US-amerikanischem Flüssiggas den Bau neuer Export- und Importterminals mit sich bringt. So sei in den Vereinigten Staaten, die zur Zeit über sieben große Exportterminals verfügten, der Bau von 24 weiteren Terminals in Planung oder bereits genehmigt; deren Emissionen würden auf 90 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente pro Jahr geschätzt.[6] In Europa seien – zusätzlich zu den 41 bestehenden Importterminals – sieben weitere im Bau und 26 geplant; hinzu kämen mindestens 20 schwimmende Terminals (Floating Storage Regasification Units, FSRUs). FSRUs hätten eine Betriebszeit von mehr als 20, feste Importterminals von mehr als 40 Jahren; ein Terminal, das heute in Betrieb gehe, sei also bis mindestens zum Jahr 2062 funktionsfähig, hält Food & Water Action Europe fest. Mit dem Bau der Anlagen sowie der zugehörigen Pipelines, die schließlich benötigt würden, um das Gas von den Importterminals weiterzuleiten, errichte man für teures Geld zusätzliche Infrastruktur für klimaschädliche Energie. Dies stehe „in deutlichem Kontrast“ zur Ankündigung der EU, den Verbrauch von Erdgas bis 2030 um 60 Prozent zu senken, schreibt die belgische Organisation.
„Unsere deutsche Antwort“
Unterdessen lobt sich die Bundesregierung anlässlich der UN-Klimakonferenz in Sharm El Sheikh als angebliche globale Vorreiterin im Kampf gegen den Klimawandel. Man „wisse“, was „zu tun“ sei, erklärt Außenministerin Annalena Baerbock: „schnellstmöglich raus aus fossiler Energie und rein in Erneuerbare“.[7] In Sharm El Sheikh wolle die Bundesrepublik „mit anderen Staaten unsere Kräfte bündeln“ und sich „für mehr Ambition“ einsetzen. Der einfach umzusetzende Gedanke, zunächst einmal die eigenen Einsparverpflichtungen zu erfüllen, bleibt unerwähnt. Auch Wirtschaftsminister Robert Habeck behauptet, „mehr Klimaschutz“ sei „unsere deutsche wie auch unsere europäische Antwort“.[8] Gestern ließ sich zudem Bundeskanzler Olaf Scholz mit der Mitteilung zitieren, Berlin setze sich auf der UN-Klimakonferenz für ein „robustes Arbeitsprogramm zur Emissionsminderung“ ein.[9] Gemeint sind Schritte, um andere Länder zur Einhaltung der Klimaschutzziele zu bewegen. Sich selbst räumt Berlin faktisch eine Ausnahme ein.
[1], [2] Expertenrat für Klimafragen: Zweijahresgutachten 2022. Berlin, 04.11.2022.
[3] Energieversorgung in Deutschland. bpb.de 26.10.2022.
[4] S. dazu „Goodbye, Nord Stream“.
[5], [6] Food & Water Action Europe: LNG: The U.S. and EU’s Deal for Disaster. Brussels, October 2022.
[7], [8] Deutschlands Beitrag zur Weltklimakonferenz in Ägypten: Ambition und Solidarität. Pressemitteilung des Auswärtigen Amts. Berlin, 06.11.2022.
[9] Scholz verspricht Klimahilfen für die ärmsten Länder. Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.11.2022.