Deutscher Experte übt scharfe Kritik an den Russland-Sanktionen: Diese wirkten „anders als erwartet“ – zum Nachteil des Westens. Indien will die Sanktionsallianz im G20-Rahmen zur Rede stellen.
Zum ersten Mal wird im außenpolitischen Establishment der Bundesrepublik scharfe Kritik am Wirtschaftskrieg des Westens gegen Russland laut. Wie es in einem Beitrag für die Fachzeitschrift Internationale Politik (IP) heißt, haben die Staaten Nordamerikas und Europas mit ihren Sanktionen einen „Irrweg“ eingeschlagen, den sie rasch verlassen müssten. Falsch eingeschätzt habe die westliche Sanktionsallianz nicht nur die Fähigkeit der russischen Bevölkerung, die Zwangsmaßnahmen durchzustehen, sondern auch die Folgen im internationalen Finanzsystem: Dort zeichne sich eine zunehmende Abkehr von westlichen Finanzinstrumenten und Währungen ab, um etwaige künftige Sanktionen der transatlantischen Mächte von vornherein auszuhebeln. Zudem habe die Sanktionsallianz den Unmut in den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas unterschätzt, die keinen Einfluss auf die Sanktionsentscheidungen hätten, aber teils schwer durch sie geschädigt würden. Indiens Finanzministerin Nirmala Sitharaman kündigt an, die westlichen Mächte im Rahmen der G20 wegen ihrer Sanktionspolitik zur Rede stellen zu wollen. New Delhi übernimmt in Kürze den Vorsitz in dem Zusammenschluss.
Sanktionserfahren
Im außenpolitischen Establishment der Bundesrepublik werden mittlerweile erste Stimmen laut, die den Wirtschaftskrieg gegen Russland als „Irrweg“ einstufen und zu einer raschen Beendigung der Sanktionen raten. So heißt es in einem Beitrag, den Heribert Dieter von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) für die aktuelle Ausgabe des Fachblattes Internationale Politik (IP) verfasst hat, zwar zeigten die Sanktionen durchaus Wirkung – jedoch „ganz anders, als von den Sanktionsbefürwortern erwartet“.[1] „Die Sanktionsallianz hat mindestens drei Dimensionen ihrer Maßnahmen entweder falsch eingeschätzt oder nicht bedacht“, schreibt Dieter. Das gelte zunächst für „die Fähigkeit der russischen Gesellschaft, Sanktionen zu bewältigen“; diese sei viel größer als vermutet: „Die Menschen in Russland kennen Sanktionen und wissen damit zu leben.“ Ursache sei, dass schon die Sowjetunion im Kalten Krieg „immer wieder mit Wirtschaftssanktionen konfrontiert“ worden sei. „Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen“, konstatiert Dieter, „dürfte die russische Gesellschaft ein Maß an Improvisationskunst und Leidensfähigkeit entwickelt haben“, das dasjenige „westlicher Gesellschaften deutlich übersteigt“.
Alternativen zum Westen
Falsch eingeschätzt hat die Sanktionsallianz laut Dieter zweitens die Folgen der Sanktionen für den Finanzsektor. So habe etwa der Ausschluss russischer Banken vom Zahlungssystem SWIFT „die Suche nach Alternativen“ befeuert; der chinesische Konkurrent CIPS habe bereits von Mai bis Juli „eine starke Zunahme von Transaktionen“ verzeichnet.[2] Je länger die Sanktionen beibehalten würden, „desto mehr werden nichtwestliche Länder Wege zur Abwicklung von Zahlungen außerhalb des westlichen Finanzsystems finden“; damit schade die Sanktionsallianz sich selbst. Hinzu komme, „dass Währungsreserven an Attraktivität verlieren“, weil seit dem Einfrieren russischer Währungsreserven stets „das latente Risiko“ bestehe, dass „Forderungen in fremder Währung beschlagnahmt werden“. „Künftig werden Reserven verstärkt in anderer Form gehalten werden“, sagt Dieter voraus – „etwa in Gold, Kryptowährungen oder möglicherweise sogar in Form von Staatsanleihen von Schwellenländern“. Eine mögliche „Umschichtung der Währungsreserven nichtwestlicher Länder“ werde dabei aller Wahrscheinlichkeit nach auch „einen weiteren Beitrag zum Anstieg des Zinsniveaus in OECD-Ländern leisten“.
Neoimperialismus
Nicht vorausgesehen hat die Sanktionsallianz laut Dieter darüber hinaus die Reaktion der nichtwestlichen Welt. Die Sanktionen träfen „alle mit Russland Handel treibenden Staaten“ – „aber nichtwestliche Länder wurden vor Verhängung der Sanktionen nicht konsultiert oder gar um Zustimmung gebeten“, hält der SWP-Experte fest, der auch am National Institute of Advanced Studies im indischen Bengaluru lehrt und dort beobachtet hat: „In Indien etwa sorgt dies für anhaltende Verstimmung.“[3] „Die Verärgerung asiatischer, südamerikansicher und afrikanischer Länder über die Art und Weise der Sanktionsverhängung“ sei „für den strategisch sehr viel wichtigeren geopolitischen Konflikt mit China … ein schlechtes Omen“. Schon im März habe die vormalige Chefökonomin der Weltbank Pinelopi Goldberg gewarnt, die westlichen Russland-Sanktionen schadeten allen Ländern und seien „der letzte Sargnagel für die regelbasierte internationale Handelsordnung“. Dieter zitiert zudem den britischen Guardian, in dem es bereits im Juli kritisch über die Sanktionen hieß: „Sie basieren auf der neoimperialistischen Annahme, dass westliche Staaten berechtigt seien, die Welt zu ordnen, wie sie wollen.“[4]
Im Interesse der Bevölkerung
Dieter weist darauf hin, dass die Folgen der Sanktionen und der russischen Gegensanktionen „in vielen Ländern der Europäischen Union, aber auch in Entwicklungs- und Schwellenländern“ bereits „schmerzlich zu spüren“ sind: „Schon im Interesse der eigenen Bevölkerung wäre es geboten, die Wirtschaftssanktionen gegen Russland aufzuheben.“[5] Letzteres scheint Umfragen zufolge zumindest in Deutschland noch nicht notwendig zu sein. So waren Anfang Oktober bei einer Umfrage zwar 57 Prozent aller Befragten überzeugt, die Sanktionen träfen die Bundesrepublik härter als Russland; gerade einmal 21 Prozent gingen vom Gegenteil aus. Dennoch sprachen sich 33 Prozent dafür aus, die Russland-Sanktionen beizubehalten; weitere 30 Prozent wollten sie sogar noch verschärfen. Nur 18 Prozent waren für eine Lockerung, 12 Prozent für eine Aufhebung der Zwangsmaßnahmen.[6] Ob die Unterstützung für die Sanktionen den herannahenden Winter übersteht, ist freilich ungewiss.
Zur Rede stellen
Wachsende Unruhe zeichnet sich allerdings in den Schwellen- und Entwicklungsländern ab, die unter den Folgen der Sanktionen leiden. In der vergangenen Woche kündigte die indische Finanzministerin Nirmala Sitharaman an, man werde über die Russland-Sanktionen im G20-Rahmen sprechen: Die aktuelle Nahrungsmittelkrise und weitere gravierende Probleme seien „eine Folgewirkung bestimmter Entscheidungen, und diese müssen diskutiert werden“.[7] Es wäre das erste Mal, dass der Westen sich für seine Gewaltpolitik in einem für die praktische Politik wichtigen internationalen Zusammenschluss verteidigen muss. Indien übernimmt zum 1. Dezember den G20-Vorsitz für das nächste Jahr.
[1], [2], [3] Heribert Dieter: Die Irrtümer der Sanktionsbefürworter. In: Internationale Politik 6/2022. S. 70-73.
[4] Simon Jenkins: The rouble is soaring and Putin is stronger than ever – our sanctions have backfired. theguardian.com 29.07.2022.
[5] Heribert Dieter: Die Irrtümer der Sanktionsbefürworter. In: Internationale Politik 6/2022. S. 70-73.
[6] Mehrheit unterstützt Russland-Sanktionen. n-tv.de 13.10.2022.
[7] G20 must discuss ‘spillover impact‘ of Russia sanctions: FM Nirmala Sitharaman. cnbctv18.com 01.11.2022.