Berlin reagiert mit nichtssagenden Floskeln auf die türkischen Luftangriffe auf Syrien und den Irak, legt sich mit Ankara aber mit dem Ziel an, die Russland-Sanktionen durchzusetzen.
Die Bundesregierung reagiert mit allgemeinen Phrasen auf die völkerrechtswidrigen Luftangriffe der Türkei auf Syrien und den Irak und sucht Ankara zur Beihilfe für die westlichen Russland-Sanktionen zu nötigen. Wie ein Regierungssprecher in Berlin gestern vorsichtig mahnte, solle die Türkei bei ihren militärischen Operationen „verhältnismäßig“ agieren. Den Bombardements fielen zahlreiche Zivilisten zum Opfer. Gleichzeitig bereiten sich Berlin und Brüssel darauf vor, mit Hilfe ihres achten Sanktionspakets in ihrem Wirtschaftskrieg gegen Russland einen Keil zwischen Moskau und Ankara zu treiben. Das Paket umfasst extraterritoriale Sanktionsbestimmungen, die es ermöglichen, Lieferungen von Waren aus der EU über die Türkei nach Russland zu unterbinden. Zudem setzt es Ankara mit seinen Bestimmungen für den Preisdeckel auf Erdöl aus Russland unter Druck, die zum 5. Dezember in Kraft treten sollen. Die türkischen Behörden haben sich nun veranlasst gesehen, russische Schiffstransporte durch den Bosporus und die Dardanellen neuen Kontrollen zu unterwerfen. Zugleich liefert die Türkei Öl aus Russland in verarbeiteter Form in die EU – eine Option, das Embargo zu umgehen.
Gespräche über „Terrorismus“
Mit allgemeinen Phrasen reagiert die Bundesregierung auf die völkerrechtswidrigen Luftangriffe der Türkei auf die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien und auf kurdisch besiedelte Gebiete im Nordirak. Bei den Angriffen waren allein in Nordsyrien mindestens 27 Menschen ums Leben gekommen, darunter mindestens 11 Zivilisten.[1] Ankara suchte den Überfall mit dem Anschlag in Istanbul zu legitimieren, bei dem kürzlich sechs Menschen getötet und mindestens 80 verletzt wurden; während die türkischen Behörden ihn syrischen Kurden in die Schuhe schieben wollen, spricht viel dafür, dass er fingiert wurde. Zu dem Angriff erklärt ein Sprecher der Bundesregierung jetzt nur, man fordere die Türkei auf, „verhältnismäßig zu agieren und dabei das Völkerrecht zu achten“.[2] Innenministerin Nancy Faeser ist unterdessen zu Gesprächen unter anderem über „Terrorismus“ in der Türkei eingetroffen. Die türkische Regierung behauptet, mit ihren Luftangriffen bloß „Terrorismus“ bekämpft zu haben. Faktisch setzt die Bundesregierung mit ihren Stellungnahmen ihre bisherige Praxis fort, den völkerrechtswidrigen Einmarsch der Türkei nach Syrien und die Okkupation syrischen Territoriums einschließlich der Eingliederung einiger Gebiete in türkische Verwaltungsstrukturen umstandslos zu dulden.[3]
Das Russlandgeschäft der Türkei
Berlin hat, was die Türkei betrifft, vor allem anderes im Blick. Das Land hat seinen Handel mit Russland seit dem Beginn des Ukraine-Krieges erheblich gesteigert; belief er sich im Jahr 2021 auf rund 30 Milliarden US-Dollar, so hat er bereits in den ersten zehn Monaten 2022 ein Volumen von rund 60 Milliarden US-Dollar erreicht und wird Schätzungen zufolge im Gesamtjahr auf einen Wert von wohl gut 72 Milliarden US-Dollar in die Höhe schnellen.[4] Dabei dürften die Einfuhren der Türkei aus Russland einen Wert von über 31 Milliarden US-Dollar erreichen, deutlich mehr als im Vorjahr (knapp 26 Milliarden US-Dollar); darin schlägt sich die rasche Ausweitung der Öl- und der Gasimporte nieder. Viel stärker nimmt allerdings der Export der Türkei nach Russland zu, der – die statistischen Angaben variieren je nach Quelle ein wenig – von etwa 7 Milliarden US-Dollar auf wohl mehr als 40 Milliarden US-Dollar steigen wird. Als sicher gilt, dass türkische Hersteller damit einige Lücken füllen, die der Rückzug westlicher Exporteure aus dort Russland gerissen hat. Als wahrscheinlich gilt freilich auch, dass eine ganze Reihe westlicher Produkte, die sanktionsbedingt nicht mehr auf direktem Weg nach Russland geliefert werden dürfen, heute auf dem Umweg etwa über die türkische Schwarzmeerküste dorthin gelangen.
Extraterritoriale EU-Sanktionen
Diese Lieferungen könnten nun ins Visier der EU geraten – auf der Grundlage von deren achtem Sanktionspaket, das sie am 6. Oktober beschlossen hat. Es enthält, wie Spezialisten konstatieren, erstmals ein extraterritoriales Element ganz nach dem Vorbild extraterritorialer US-Sanktionen, die Berlin und die EU bislang stets verurteilt haben. So ist es nun möglich, Personen, denen unterstellt wird, die Russland-Sanktionen der EU zu unterlaufen, auch dann mit Sanktionen zu belegen, wenn sie Bürger eines Drittstaates sind und in diesem leben. Das gilt gleichermaßen für Unternehmen wie für Organisationen.[5] Setzt die EU ihre neuen extraterritorialen Sanktionen tatsächlich durch, dann gerieten vermutlich Teile der Russland-Exporte der Türkei in Gefahr; dies ruft in Ankara aktuell Sorgen hervor.[6] Dabei bleibt bemerkenswert, dass die EU mit dem Schritt ihre bisherige Rechtsposition bricht. So hieß es etwa in einer Entschließung des Europaparlaments vom 6. Oktober 2021, „die exterritoriale Anwendung von Sanktionen“, wie sie etwa die USA praktizierten, sei eine Vorgehensweise, „die gegen das Völkerrecht verstößt“.[7] Wieso diese Feststellung sich nicht ebenso auf extraterritoriale EU-Sanktionen anwenden lassen soll, ist nicht ersichtlich.
Das Embargo umgehen
Zusätzlich gerät die Türkei immer stärker mit Blick auf Russlands Erdölexporte ins Visier Deutschlands und der EU. Auch das hat zum Teil mit dem achten Sanktionspaket zu tun. Die Türkei hat zuletzt nicht nur ihren Rohölimport aus Russland deutlich erhöht, sondern auch ihren Export von Ölprodukten; so wurden laut einer Analyse des Centre for Research on Energy and Clean Air (CREA) im September und Oktober zusammengenommen 85 Prozent mehr Ölprodukte aus der Türkei in die EU und die Vereinigten Staaten exportiert als im Juli und August. Zu den größten Kunden zählten die Häfen im rumänischen Constanța und im lettischen Ventspils.[8] Trifft die naheliegende Vermutung zu, dass türkische Raffinerien zuletzt im großen Stil russisches Öl verarbeitet und weiterverkauft haben, wäre das mit Blick auf das Erdölembargo der EU von Bedeutung. Das Embargo tritt für Rohöl am 5. Dezember in Kraft, für Ölprodukte aber erst am 5. Februar. Faktisch könnte die EU auf dem Umweg über die Türkei also noch zwei Monate länger völlig legal mit russischem Öl beliefert werden. Interessant wäre dann unter anderem, ob sich auch Lettland über Ventspils mit dem in der Türkei weiterverarbeiteten Rohstoff beliefern lassen wird. Lettland ist einer der Staaten, die am härtesten auf Russland-Sanktionen dringen.
Kontrollen am Bosporus
Mit dem achten Sanktionspaket hat eine neue türkische Vorschrift zu tun, die zum 1. Dezember in Kraft tritt. Das Paket sieht vor, dass Transporte russischen Öls per Schiff von Finanzkonzernen aus der EU nur noch finanziert und versichert werden dürfen, wenn der Preis des Öls nicht oberhalb eines von der EU festgesetzten Preisdeckels liegt. Russland hat angekündigt, sich dem Preisdeckel zu widersetzen. Seit Wochen kursieren Berichte, nach denen Russland dabei ist, eine größtmögliche Flotte nicht an westliche Staaten gebundener Öltanker zusammenzustellen, um seine Ölexporte ohne Restriktionen abwickeln zu können. Als ein wunder Punkt gelten Versicherungsleistungen. Bislang wurden sie zu einem weit überwiegenden Teil in Westeuropa erbracht, ganz besonders in London. Zwar unternimmt Moskau alles, um auch diesbezüglich Alternativen aufzutun; doch halten Branchenexperten es für kaum möglich, rechtzeitig zum 5. Dezember in ausreichendem Umfang Abhilfe zu schaffen. Ankara hat jetzt angekündigt, ab dem 1. Dezember müssten alle Öltanker, die den Bosporus und die Dardanellen passieren, explizit nachweisen, dass sie über den erforderlichen Versicherungsschutz verfügen. Das werde, so heißt es, wegen der EU-Sanktionen verlangt.[9] Die Bestimmung ist geeignet, den Druck auf Russland zu erhöhen und die Spannungen zwischen Moskau und Ankara zu vertiefen.
[1] Nick Brauns: Bomben auf Kobani. junge Welt 21.11.2022.
[2] Bundesregierung mahnt Türkei zur Einhaltung der Menschenrechte an. n-tv.de 21.11.2022.
[3] S. dazu Die Invasionsmacht als Partner.
[4] Ben Aris: Russia’s imports recover as trade pivots to the east. intellinews.com 20.11.2022.
[5] Trade Compliance: EU ratchets up the pressure on Russia with robust new sanctions. dwfgroup.com 21.10.2022.
[6] Rainer Hermann: Erdogans riskantes Spiel mit Putin. Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.11.2022.
[7] Entschließung des Europäischen Parlaments vom 6. Oktober 2021 zu der Zukunft der Beziehungen zwischen der EU und den USA. 2021/2038(INI).
[8] October monthly update: EU fossil fuel payments to Russia in first fall below pre-invasion level in October. Türkiye provides a new outlet for Russian crude oil. CREA, 16.11.2022.
[9] Alex Longley, Ugur Yilmaz, Ercan Ersoy: Turkey Adds Teeth to Russia Sanctions With Tanker-Insurance Rule. gcaptain.com 17.11.2022.