In einem Moment der Offenheit sagte Präsident Biden vor Teilnehmern der Demokratischen Partei, das Risiko eines nuklearen „Armageddon“ sei das höchste seit der Kubakrise 1962, als die Sowjetunion Atomraketen auf Kuba, 90 Meilen von Florida entfernt, stationierte. Unter Bezugnahme auf die unverhohlene Drohung des russischen Präsidenten Putin, in der Ukraine Kurzstrecken-Atomwaffen einzusetzen, fügte der Präsident hinzu, dies sei das erste Mal seit der Kubakrise, dass eine solche „direkte Drohung“ ausgesprochen worden sei.

Von Marcy Winograd und Medea Benjamin

Das ist nicht wahr.

Die USA haben eine lange Geschichte der nuklearen Erpressung.

Im Jahr 1950, während des Koreakrieges, erklärte Präsident Truman, dass der Einsatz von Atomwaffen gegen die chinesischen Truppen in Nordkorea „aktiv in Erwägung gezogen“ werde.

Im Jahr 1953 drohte Präsident Eisenhower – der später den militärisch-industriellen Komplex anprangerte – mit dem Einsatz von Atomwaffen, falls die Chinesen sich weigerten, über einen Waffenstillstand im Koreakrieg zu verhandeln.

1969, während des Vietnamkriegs, befahl Präsident Nixon heimlich, B-52-Atombomber in höchste Alarmbereitschaft zu versetzen, um die Nordvietnamesen zur Kapitulation zu zwingen. Nixon vertrat die „Verrückten-Theorie“: Mach deinen Feind glauben, dass du verrückt genug bist, Atomwaffen einzusetzen, und er wird einknicken. Diese Theorie erwies sich jedoch als unwirksam, und die US-Truppen mussten 1973 aus Vietnam fliehen, nachdem schätzungsweise zwei Millionen Vietnamesen tot waren und fast 60.000 US-Soldaten in Leichensäcken lagen.

Die Liste der atomaren Erpressungsdrohungen der USA wird 2007 mit der Aussage von Präsident George W. Bush fortgesetzt, dass „alle Optionen auf dem Tisch liegen“, sollte der Iran ein Atomprogramm verfolgen.

Im Jahr 2017 drohte Präsident Donald Trump – nach nordkoreanischen Raketentests – Nordkorea mit „Feuer und Zorn … wie es die Welt noch nie gesehen hat“.

Im Jahr 2020 ließen die USA B-52-Kampfjets, die sowohl konventionelle als auch nukleare Waffen einsetzen können, über das Schwarze Meer und die Ostsee fliegen, um Angriffe auf russische Militärstützpunkte und Häfen zu simulieren.

Die unbequeme Wahrheit ist, dass wir alle, solange es Atomwaffen gibt, Geiseln der wenigen Personen sind, die ihren Einsatz befehlen können.

Am Jahrestag der Kubakrise besteht die Antwort nicht darin, mehr Atomwaffen zu bauen, sondern zu den Rüstungskontrollverträgen zurückzukehren, die Bush und Trump aufgekündigt haben, und den Vertrag über das Verbot von Atomwaffen zu unterzeichnen, um die Atomwaffen vom Angesicht der Erde zu verbannen.

Auf der Spendengala der Demokratischen Partei sagte Präsident Biden außerdem: „Wir versuchen herauszufinden, was Putins Ausweg ist. Wo findet er einen Ausweg?“

Der Ausweg besteht darin, dass Präsident Biden und alle Mitglieder des Kongresses unverzüglich zu einem Waffenstillstand aufrufen, Friedensverhandlungen unterstützen und die Waffenlieferungen einstellen, die ein Armageddon riskieren.

Skeptiker argumentieren, dass die Diplomatie einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen würde, der es jedem Autokraten einer nuklear bewaffneten Nation erlauben würde, das Damoklesschwert über unseren Kopf zu halten.

In Wirklichkeit wurden die Weichen für eine nukleare Erpressung schon vor langer Zeit gestellt, nämlich 1945, als Präsident Truman gegen Ende des Zweiten Weltkriegs Atombomben auf Hiroshima und drei Tage später auf Nagasaki abwarf, um schätzungsweise 200.000 Menschen in einer Explosion aus Feuer und Asche zu verstrahlen und zu vernichten.

Die Weichen für die nukleare Erpressung wurden gestellt, als Präsident George W. Bush 2002 den ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile) aufkündigte, der die Anzahl der Raketensysteme begrenzte, die die USA und Russland zur Zerstörung ankommender Raketen einsetzen konnten. Beide Länder hatten erkannt, dass defensive Raketensysteme das Wettrüsten durch die Entwicklung neuer Waffen zur Überwindung der Abwehrschilde eskalieren könnten und dass solche Schilde – wenn sie als wirksam versprochen werden – ein Land dazu ermutigen könnten, ohne Angst vor Vergeltung einen Erstschlag zu führen.

Die Voraussetzungen für eine nukleare Erpressung wurden 2019 geschaffen, als der ehemalige Präsident Donald Trump den INF-Vertrag (Intermediate-Range Nuclear Forces) zwischen den USA und Russland aufkündigte. Zuvor hatten die beiden Supermächte fast 3.000 Kurz- und Mittelstreckenraketen zerstört.

Erst im vergangenen Jahr stimmte der US-Kongress unter Verletzung seiner Verpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag (NVV) für die weitere Finanzierung eines Billionen-Dollar-Atom-„Modernisierungsprogramms“. Im Rahmen dieser jahrzehntelangen nuklearen Aufrüstung werden die USA 400 Minuteman-Interkontinentalraketen (ICBMs), die im Mittleren Westen in Alarmbereitschaft sind, durch 600 neue Atomraketen ersetzen. Diese neuen, tief in unterirdischen Silos vergrabenen Raketen werden mit Nuklearsprengköpfen bestückt, die jeweils 20-mal stärker sind als die, die die USA auf Japan abgeworfen haben.

Von expliziten Drohungen bis hin zu impliziten Drohungen haben die USA im Laufe der Jahre zu nuklearen Erpressungen gegriffen.

Präsident John F. Kennedy löste die Kuba-Krise nicht mit Waffen, sondern mit Diplomatie. Die USA boten an, die in der Türkei installierten Atomwaffen zu entfernen, wenn die Sowjetunion im Gegenzug ihre Raketen aus Kuba abziehen würde.

Präsident Biden könnte in die Fußstapfen von JFK treten und anbieten, Anti-Ballistik-Raketen aus Polen und Rumänien zu entfernen. Er könnte anbieten, die Neutralität der Ukraine zu unterstützen. Dies sind Auswege.

Am Jahrestag der 13-tägigen Kubakrise, in der die Welt gewartet und gebetet hat, besteht die Antwort nicht darin, noch mehr Waffen in die Ukraine zu entsenden und einen Atomkrieg zu riskieren, sondern einen sofortigen Waffenstillstand zu unterstützen und eine diplomatische Lösung anzustreben, die uns vom Abgrund zurückbringt.

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Alina Kulik vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!


Marcy Winograd ist Ko-Vorsitzende des außenpolitischen Teams der Progressive Democrats of America und Mitglied des Lenkungsausschusses der Peace in Ukraine Coalition.

Medea Benjamin ist Mitbegründerin von CODEPINK und Mitautorin des in Kürze erscheinenden Buches „War in Ukraine: Making Sense of a Senseless Conflict“.