Die gefährlichste Täuschung für den Klimaschutz ist derzeit “Net Zero 2050”. Alle Klimasünder – Big Oil und konzernfreundliche Regierungen – haben dies schnell als neues Klimaziel übernommen. Aber es weist zwei fatale Fehler auf. Der eine ist “Netto-Null”. Der andere ist “bis 2050”. Beide erschaffen ein falsches Gefühl der Sicherheit. Netto-Null ist physikalisch nicht möglich, und wir haben auch nicht den Luxus von drei Jahrzehnten (bis 2050). Aber die Kernbotschaft “Netto-Null bis 2050” wird absichtlich verwendet, um realistische, wirksame Klimaschutzmaßnahmen weiter zu verzögern.
Die gefährliche Täuschung des “Net Zero bis 2050″
Teil 3 der 10-teiligen Reihe „Der Kampf um die Rückgewinnung unseres Planeten Erde“
Von Fred Hageneder
Wie der Klimawissenschaftler Peter Kalmus in The Guardian schreibt: “Diese beiden Fehler bieten den Ölkonzernen und Politikern, die den Status quo erhalten wollen, Deckung. Zusammen bilden sie ein tödliches Rezept für Untätigkeit und ein katastrophales Ausmaß an unumkehrbarem Klima- und Naturzerfall.” (1)
Zunächst einmal scheint der Termin 2050 in angenehmer Ferne zu liegen und ermutigt zu weiterem Aufschieben des Klimaschutzes. “Wer empfindet schon Dringlichkeit bei einem Termin im Jahr 2050?”, fragt Kalmus. Im Gegensatz dazu schlägt der Green New Deal, den die US-Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez Anfang 2019 vorstellte, einen Zeitrahmen von nur zehn Jahren vor. (2) Weil die Menschheit schon viel zu lange gewartet hat, bleibt uns nicht mehr viel vom Kohlenstoffbudget übrig, um die globale Erwärmung unter 1,5 Grad Celsius zu halten.
Zweitens ist ein “Netto-Null”-Lebensstil für eine lebende Säugetierart wie den Menschen schlicht und einfach nicht möglich. Wir müssen essen. Wir müssen uns bewegen. Wir müssen uns warm halten. Dafür brauchen wir Energie. Und selbst “nachhaltige” oder “grüne” Energien (aus Sonne, Wind, Wellen) haben einen gewissen Kohlenstoff-Fußabdruck (wenn auch viel kleiner als fossile Brennstoffe), und auch ihre Produktion und ihr späterer Rückbau erzeugen partielle Verseuchung, Lebensraumzerstörung und ökologische Schäden. Die Menschheit muss das Mantra des unendlichen Wirtschaftswachstums in Frage stellen und eine nachhaltigere und solidarischere Wirtschaft entwickeln.
Aber stattdessen ist die Idee, die Auswirkungen einer zügellosen Wirtschaftsweise auf das Erdsystem zu “kompensieren”, sehr populär. Denn sie verspricht, dass das Business as usual wie gewohnt fortgesetzt werden kann, nur mit einer “Kompensation” des Schadens durch eine Art “Reparatur-Versprechen” an anderer Stelle. Diese Absurdität ist das ökologische Äquivalent zu einer Lizenz zum Töten, wenn man nur anderswo einen Hebammenkurs oder ein Impfprogramm für Kleinkinder sponsert.
Es stimmt, dass wir im Hinblick auf den Klimanotstand und unseren Treibhausgas-Fußabdruck über Methoden zur Kohlenstoffbindung nachdenken und handeln müssen, auch weil die Treibhausgase, die bereits in die Atmosphäre gepumpt wurden, wieder abgebaut werden müssen. Doch zunächst einmal tut das die Natur, wenn wir sie nur lassen:
Es besteht inzwischen weitgehend Einigkeit darüber, dass großflächige Baumpflanzungen aka Aufforstungen sowie die Regeneration lebendiger Böden, insbesondere von Feuchtgebieten und Torfmooren, enorme Mengen an Kohlenstoff binden und der beste Hebel für den Klimaschutz sind. Die besten und nützlichsten negativen Emissionsstrategien, die wir haben, sind natürlich: Waldschutz, Aufforstung, regenerative Landwirtschaft und Rewilding. Doch ihre Implementierung kann nur einhergehen mit einer Umorientierung der Wirtschaft und unseres Bewusstseins.
Die Regeneration der Wälder und Böden könnte sogar eines Tages die gesamte Klimakrise lösen, aber das wird Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte dauern, und so viel Zeit haben wir nicht mehr. Vor allem bei den Mengen an Emissionen, die wir noch freisetzen. Die einzige vernünftige Lösung ist der unverzügliche Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen. Wie Kalmus sagt: “Um die Wahrscheinlichkeit eines zivilisatorischen Zusammenbruchs zu verringern, muss die Gesellschaft in den Notfallmodus wechseln.” Und zwar jetzt.
Nach Ansicht von Klimaforschern wie Manfred E. Mann hat der Handel mit Kohlenstoffzertifikaten ein großes Potenzial, um weltweit einen Wandel in der fossilen Wirtschaft einzuleiten. Niemand bezweifelt, dass er ein nur ein unvollkommenes Instrument ist, aber wir sind in arger Bedrängnis.
Wie ein korruptes System jedoch jede Idee verzerrt, um seine krummen Ziele zu erhalten, ist eine andere Sache. Bisher hat der Kohlenstoffhandel die Emissionen nicht so stark gesenkt, wie erhofft. Was passiert, ist, dass Unternehmen und Konzerne begonnen haben, im großen Stil Wald- oder Feuchtgebiete zu kaufen, mit dem “Versprechen”, ihr Kohlenstoffbindungspotenzial zu schützen. Dafür dürfen sie im Gegenzug die Atmosphäre weiter verschmutzen. Diese rasante Zunahme der Landkäufe für den “Kohlenstoffausgleich” hat bereits begonnen, die Preise und Pachten in die Höhe zu treiben und lokale Gemeinschaften zu untergraben und Kleinbauern und Einheimische zu verdrängen.
Schottland ist eine der ersten Frontlinien in diesem globalisierten neuen Geldmachersystem, das außerdem dazu beiträgt, die generelle Kluft zwischen Arm und Reich noch mehr zu vergrößern. Peter Peacock, ein ehemaliger Abgeordneter der Highlands and Islands und erfahrener Kämpfer für eine Landreform, hat es kürzlich so formuliert: “Die Highlands werden wieder einmal unter den Füßen der lokalen Bevölkerung an externe Kräfte verkauft.” (3) In der Tat werden in Schottland schlimme Erinnerungen an die Highland Clearances vor etwa zweihundert Jahren wach. Und auch in Wales und anderen Ländern beginnen große Konzerne, den Einheimischen riesige Landflächen unter den Füßen wegzureißen.
Im globalen Süden wird sogar befürchtet, dass diese neue Welle der Landnahme zu kommenden Hungersnöten beitragen wird. Aber diese weitreichenden wirtschaftlichen Folgen des Kohlenstoffhandels werden bisher selten diskutiert.
Darüber hinaus gibt es zahlreiche ethische Gründe, warum Net Zero und der Emissionshandel falsch sind. In ihrem neuen Buch “Wahre Wirtschaft – Von der Geldgier zu einer Ökonomie der Fürsorge” fasst Vandana Shiva zusammen, wie der Kohlenstoffhandel gegen alle ethischen Vorstellungen der irdischen Rechtssprechung verstößt: (4)
“– Erstens verletzen die Verschmutzung durch fossile Brennstoffe und die Überschreitung der planetarischen Grenzen die Rechte von Mutter Erde, von Gaia. Der Kohlenstoffhandel verletzt die Rechte der Natur, indem er die Integrität der ökologischen Prozesse der Erde leugnet. Die Erde existiert nicht für die Milliardäre, damit sie sie weiter ausbeuten können, um grenzenlose Profite herauszuschlagen. Die Erde ist die Grundlage für unser Leben und unser Wohlergehen. Sie schafft die Infrastruktur durch ihre komplexen, selbst organisierten ökologischen Prozesse, um damit Leben zu schaffen, zu erhalten und zu regenerieren. Der Handel mit Kohlenstoff ist eine Verletzung des Rechts der Erde an ihrem lebenden Kohlenstoff, der die Grundlage des Lebens ist.
– Zweitens können der tote, fossile Kohlenstoff und seine Verschmutzung nicht mit dem lebenden Kohlenstoff in Pflanzen und Böden gleichgesetzt werden. Ein »Schlechtes« kann nicht gegen ein »Gutes« ausgetauscht werden. Die Rede von der Dekarbonisierung verkennt, dass »wir kohlenstoffbasierte Lebensformen sind« (André Leu). Leben ist lebendiger Kohlenstoff. Die Gleichsetzung von lebendem Kohlenstoff mit totem fossilem Kohlenstoff ist eine falsche Gleichsetzung.”
Größenwahn: CCS und Geo-Engineering
Ohne Rücksicht auf Ethik und soziale Gerechtigkeit fährt Big Oil fort, die Öffentlichkeit zu täuschen (siehe Teil 1). “Net Zero” basiert auf einem unrealistischen technokratischen Traum namens “Carbon Capture and Storage” (CCS) (CO2-Abscheidung und -Speicherung). Ja, es gibt eine berühmte Kohlenstoffabscheidungsanlage in Island, die verspricht, Kohlenstoff aus der Luft zu extrahieren, zu verarbeiten und unterirdisch zu speichern. In Island kann das in begrenztem Umfang auch funktionieren, denn dort gibt es reichlich vulkanische Wärmeenergie, die dafür genutzt werden kann, und geeignete Hohlräume in den unterirdischen Gesteinsschichten. Aber selbst dort ist diese Methode sehr teuer und daher nicht für den weltweiten Einsatz geeignet.
Es gibt weltweit um die fünfzig kleinere CCS-Anlagen, von denen etwa zwanzig in Betrieb sind. Die übrigen befinden sich im Entwicklungsstadium. Mit Hilfe der Anlagen wird versucht, Kohlenstoff direkt aus den Emissionen von Kohlekraftwerken abzutrennen. Dies soll angeblich zu “sauberer Kohle” führen. Eine “Lösung”, die von der polnischen Kohleindustrie auf der COP24-Klimakonferenz in Polen schamlos propagiert wurde. (5) Aber selbst im besten Fall kann CCS nur 90 Prozent der Kohlenstoffemissionen abfangen. Und wenn man dies auf globaler Ebene versucht und von Kohlekraftwerksbetreibern verlangt, ihre Werke mit CCS-Anlagen auszustatten, würde das die Kohle noch unrentabler machen, als sie es ohnehin schon ist. Warum also nicht gleich das Geld für erneuerbare Energien ausgeben?
Aber CCS wird nicht nur zur Werbung für den Kohlesektor eingesetzt. Alle Hersteller fossiler Brennstoffe und ihre rechtsliberalen Think Tanks (siehe Teil 6) lieben Techno-Fixes wie CCS. Jeder Hoffnungsschimmer, in der Zukunft den Kohlenstoff bändigen zu können, wird sofort als Vorwand benutzt, um den fossilen Betrieb weiterhin aufrechtzuerhalten. “Oh, sie planen, unseren Dreck in Zukunft zu beseitigen? Dann lasst uns doch mehr Dreck produzieren! “Selbst wenn eine vorgeschlagene Technologie eindeutig keine Lösung ist, hat die ständige Wiederholung solcher Fake News eine hypnotisierende Wirkung. Wenn man genügend Einfluss auf die Medien hat, was bei Big Oil offensichtlich der Fall ist (siehe Teil 7), wird es Jahre dauern, bis die Öffentlichkeit die Lüge erkennt.
Die Kohlenstoffverarbeitung bei CCS ist enorm energieintensiv, und das Einbringen des Kohlenstoffs in die Gesteinsschichten würde an vielen Stellen natürliche Kohlenwasserstoffe freisetzen, so dass durch CCS leicht mehr atmosphärischer Kohlenstoff entstehen könnte als überhaupt entfernt wird. (6) Die ganze Sache ist eine Farce, und Wissenschaftler haben sie schon lange als globale Lösung verworfen. Dennoch wirbt Bill Gates in seinem Buch How to Avoid a Climate Disaster (Wie man eine Klimakatastrophe vermeidet) aus dem Jahr 2021 für CCS, Geo-Engineering-Techniken und andere träumerische Scheinlösungen. (7)
Gates hat insofern damit recht, dass die Technologie zur Kohlenstoffspeicherung effektiv ist, als dass sie öffentliche Gelder von den Regierungen an die fossile Brennstoffindustrie umleitet. Durch die Investition in solche Scheinlösungen kann die fossile Brennstoffindustrie noch mehr Subventionen und Steuervergünstigungen erhalten. Hier ist eine gut gemachte australische Satire darüber:
„Honest Government Ad | Carbon Capture & Storage“
Satirischer Videoclip von The Juice Media über CCS und den Missbrauch von Subventionen
Warnung: enthält Beschimpfungen.
“Net Zero 2050” und das Netz der Täuschung
Seit der COP26 in Glasgow (November 2021) scheinen sich alle großen Ölkonzerne (z.B. Exxon, Shell, BP, Chevron) (8) plötzlich einig zu sein und haben flink “Ambitionen” (Exxon) oder “Ziele” (Chevron) für “Netto-Null 2050” bekannt gegeben. Sind sie wirklich plötzlich mit dem Klimaschutz einverstanden, als hätte es die vierzig Jahre ihrer Leugnung der Klimaveränderung nie gegeben? Schöne Werbung bringt den Verbrauchern die selbstbewussten, tief grün(-gewaschen)en Konzernidentitäten näher. Doch hinter dieser beruhigenden Kulisse finanzieren die Milliardäre, die die Gewinne aus den fossilen Brennstoffen abschöpfen, massive Kampagnen, um jeden Fortschritt im Klimaschutz zu boykottieren (mehr dazu in Teil 6).
Doch dieses Netz der Täuschung ist brüchig geworden. Nur wenn es fortwährend genügend Ablenkung gibt (Covid-19, Affenpocken, Ukraine-Krieg), wird niemand die Zeit oder das Publikum finden, etwas zu hinterfragen. Auch viele wohlmeinende Klimaaktivisten und -gruppen fallen auf die “Net Zero 2050”-Lüge herein, die echte, sinnvolle Klimaschutzmaßnahmen nur weiter hinausschiebt. Und das ist genau das, was Big Oil will (siehe Teil 1).
Die Antwort lautet: Streichung des Unsinns, d.h. das “net” in “net zero”. Und Änderung des 2050 in 2035.
Lesen Sie weiter in Teil 4 „Dirty Oil: Es geht nicht nur um Kohlenstoff, verdammt nochmal!“
Teil 4 und folgende werden demnächst hier auf Pressenza veröffentlicht.
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Die gesamte 10-teilige Reihe:
„Der Kampf um die Rückgewinnung unseres Planeten Erde“
Teil 1: Die verblüffenden Strategien der fossilen Brennstoffindustrie (1)
Teil 2: Die verblüffenden Strategien der fossilen Brennstoffindustrie (2)
Teil 3: Die gefährliche Täuschung des “Net Zero bis 2050″
Teil 4: Dirty Oil: Es geht nicht nur um Kohlenstoff, verdammt nochmal!
Teil 5: Die Fossilgiganten, Freihandel und Krieg
Teil 6: Wie das rechtsextreme Netzwerk (nicht nur) die Klimadebatte beherrscht
Teil 7: Das schockierende Ausmaß des rechtsextremen Einflussnetzwerks
Teil 8: Klimakrise, Corona und Verschwörungstheorien
Teil 9: Wie Verschwörungstheorien nur einem Herrn dienen
Teil 10: Der “Great Reset” und Totalitarismus gegen die echte grüne Revolution
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Quellenangaben zu Teil 3
1 https://www.theguardian.com/commentisfree/2021/sep/10/net-zero-2050-deadly-procrastination-fossil-fuels
2 https://s3.documentcloud.org/documents/5729033/Green-New-Deal-FINAL.pdf#page=8
3 https://www.opendemocracy.net/en/oureconomy/scotland-is-on-the-global-frontlines-of-the-great-net-zero-land-grab
4 https://www.pressenza.com/de/2022/07/manifest-zu-oekonomien-der-fuersorge-und-erddemokratie/
5 https://www.desmog.com/2018/11/27/polish-coal-company-announced-first-sponsor-un-climate-talks-katowice/
6 https://www.resilience.org/stories/2021-06-17/the-shining-lies-canadians-are-told-about-lowering-emissions/
7 https://www.newsweek.com/fact-check-bill-gates-block-sun-conspiracy-theory-scopex-1573108
8 https://corporate.exxonmobil.com/News/Newsroom/News-releases/2022/0118_ExxonMobil-announces-ambition-for-net-zero-greenhouse-gas-emissions-by-2050
https://www.shell.com/energy-and-innovation/the-energy-future/our-climate-target.html#iframe=L3dlYmFwcHMvY2xpbWF0ZV9hbWJpdGlvbi8
https://www.bp.com/en/global/corporate/news-and-insights/reimagining-energy/net-zero-by-2050.html
https://www.chevron.com/stories/chevron-sets-net-zero-aspiration-and-new-ghg-intensity-target
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Fred Hageneder ist Autor des Buches „Nur die eine Erde – Globaler Zusammenbruch oder globale Heilung – unsere Wahl“.