Geht es nach der EU-Kommission, können sich demnächst Weltkonzerne wie IBM von konkreten Klimaschutzmaßnahmen freihalten, indem sie Landwirtschaftsbetriebe dafür bezahlen, dass diese organische Anteile in den Boden einarbeiten. Carbon Farming nennt sich das neue Schlagwort für die eigentlich uralte, aber im Zuge der Industrialisierung des kunstdüngeraufgeblähten Agrarsektors vernachlässigte Praxis der regenerativen Landwirtschaft. Aus Klimaschutzgründen will die EU in Zukunft dafür sogar handelbare Kohlenstoffzertifikate ausgeben.
Einnahmen in Höhe von 38 bis 58 Milliarden Euro verspricht die EU-Kommission den Landwirtinnen und Landwirten aus den Öko-Regelungen (eco-schemes), zu denen auch Carbon Farming gerechnet wird. Der Preis, den die landwirtschaftlichen Betriebe für ihre auf den ersten Blick attraktive Beteiligung an einem System der Humusvermehrung im Boden bezahlen werden, ist hoch: Sie leisten damit einer Entwicklung Vorschub, die mit der Digitalisierung der Nahrungs- und Futtermittelerzeugung in die Wege geleitet wurde – Stichwort Landwirtschaft 4.0 – und sie langfristig durch billigere Lohnarbeitskräfte oder sogar automatische Systeme ersetzbar macht. Außerdem bestehen berechtigte Befürchtungen seitens der Bäuerinnen und Bauern, dass sich Carbon Farming zu einem weiteren Türöffner für Banken, Agrokonzerne und außerlandwirtschaftliche Akteure, die sich in die landwirtschaftliche Produktion einkaufen und letztlich Verfügungsgewalt über Landwirtschaft und Ernährung an sich ziehen, entwickelt.
Indem die Landwirtinnen und Landwirte ihre Schlagdaten und somit immer detailliertere Informationen unter anderem über den Zustand der Äcker, die verwendeten Produktionsmittel und Anbaumethoden sowie erzielten Ernteerträge preisgeben, geben sie ein Wissen aus der Hand, das sie bislang für die landwirtschaftliche Produktion unverzichtbar gemacht hat. Wenn diesem Trend nicht Einhalt geboten wird, könnte etwas Vergleichbares zu dem geschehen, was nach der Wiedervereinigung Deutschlands bei der Verteilung der ostdeutschen Ländereien durch die Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH (BVVG) passiert war: Lebensmittel- und Futterkonzerne sowie kapitalstarke Spekulanten auch aus dem Nicht-Agrarsektor konnten sich manches Schnäppchen aneignen, mitunter ohne dass sie die Absicht gehabt hätten, die Flächen zu bewirtschaften. Wohingegen hochmotivierte Junglandwirtinnen und -landwirte leer ausgingen.
Das jahrzehntelange Höfesterben und die Zentralisierung der Agrarproduktion werden sich voraussichtlich unvermindert fortsetzen, sollte die Landwirtschaft nicht nur Nahrungs- und Futtermittel, sondern neben der Produktion von Treibstoffen für die motorisierte Gesellschaft (Biosprit) und industrieller Rohfasern auch noch die Funktion von Klimaschutz für außerlandwirtschaftliche Akteure übernehmen.
Böden enthalten mehr als dreimal so viel Kohlenstoff wie weltweit alle Wälder zusammengenommen und etwa doppelt so viel wie in der Atmosphäre. Nach Angaben der EU-Kommission (2020) befinden sich 60 bis 70 Prozent der Böden in der Europäischen Union in keinem guten Zustand. Außerdem stammen laut der Europäischen Umweltagentur im Jahr 2020 über 382 Mio. Tonnen Kohlenstoffdioxid-Äquivalenten (CO2eq) aus der Landwirtschaft der 27 EU-Mitgliedsländer. Das macht knapp 11,8 Prozent ihrer Treibhausgasemissionen aus. Zu den Kohlenstoffdioxid-Äquivalenten werden andere Treibhausgase wie zum Beispiel Methan und Lachgas gerechnet, die in der Landwirtschaft beim Einsatz von Stickstoffdünger und bei einer bestimmten Viehhaltung freigesetzt werden. Da mutet die Idee des Carbon Farmings wie ein doppelter Gewinn an, einerseits für den Klimaschutz, andererseits für eine nachhaltige Landwirtschaft. Außerdem würde dem Verlust der Artenvielfalt entgegengetreten.
Carbon Farming ist ein Sammelbegriff für verschiedene Maßnahmen, die jedoch alle zum Ziel haben, entweder die eigenen Treibhausgasemissionen zu senken oder der Atmosphäre Treibhausgase zu entziehen. Beispiele hierfür sind:
- Steigerung des Humusaufbaus in den Böden durch den Anbau von Zwischen- und Deckfrüchten – insbesondere mit Hilfe von stickstoffbindenden Leguminosen (Hülsenfrüchten).
- Verringerung der mechanischen Bodenbearbeitung, beispielsweise kein Pflügen.
- Belassen von Ernterückständen auf dem Feld.
- Geringerer Einsatz von synthetischen Dünge- und Pflanzenschutzmitteln, so dass die Bodenlebewesen weniger geschädigt werden.
- Freilandhaltung und Beweidung von Ackerflächen (anstelle von Stallhaltung).
- Anbau von Mischkulturen.
- Agroforstwirtschaft, also die Kombination von Ackerbau und Forstwirtschaft.
Zunächst klingt es wie eine großartige Idee: Wer organische und damit kohlenstoffhaltige Anteile in den Boden einarbeitet und dafür sorgt, dass diese dort bleiben, erhält als Belohnung eine Gutschrift. Deren Höhe richtet sich nach der Menge an Kohlenstoff, der gebunden, das heißt der Atmosphäre entzogen wurde. Solche Gutschriften bzw. Kohlenstoffzertifikate können an Interessenten verkauft werden. Da lockt die Aussicht auf einen schönen Zusatzverdienst. Interesse an Kohlenstoffzertifikaten haben in der EU wiederum jene Unternehmen, die ihre Klimaschutzziele nicht erfüllen können oder wollen. Anstatt also ihre eigenen Emissionen zu senken, müssen sie diese kompensieren und beispielsweise Kohlenstoffzertifikate erwerben.
Als mögliches Vorbild für Carbon Farming wird das Europäische Emissionshandelssystem (ETS) diskutiert. Das war mit der Absicht eingerichtet worden, bestimmte Wirtschaftszweige der Europäischen Union zu dekarbonisieren, also zu „entkohlenstofflichen“ und auf die notwendigen Klimaschutzziele auszurichten, indem die Unternehmen genötigt werden, immer weniger Treibhausgase zu emittieren. Die Praxis des ETS indessen zeigt, dass inzwischen Spekulationen den Preis der Kohlenstoffzertifikate bestimmen und weniger die Notwendigkeit, Klimaschutz zu betreiben.
Konzernen wie dem Energieriesen RWE bereitet ein hoher Preis für Kohlenstoffzertifikate keine nennenswerten Sorgen, hat er sich doch mit ihnen so umfangreich eingedeckt, dass er seine zu erwartenden Aktivitäten bis mindestens zum Jahr 2035 ausgleichen kann. Hedging wird der vorsorgliche, teils weit auf die Zukunft ausgerichtete Erwerb von CO2-Zertifikaten genannt. Diese wurden erworben, als der Preis extrem niedrig lag. Jetzt, da der (starken Schwankungen unterworfene) Preis deutlich gestiegen ist, sollte durch das ETS theoretisch ein Lenkungseffekt eintreten und die Wirtschaft zu stärkerem Klimaschutz motivieren. Denn wer nicht genügend Energie spart und viel CO2 emittiert, wird genötigt, dies mit dem Erwerb von CO2-Zertifikaten auszugleichen.
Wer aber wie RWE Hedging betreibt, erfährt durch den Preisanstieg der CO2-Zertifikate sogar einen enormen Wertzuwachs. Die einst beispielsweise für fünf Euro/Tonne CO2-Äquivalent erworbenen Kohlenstoffzertifikate werfen eine phantastische Rendite ab. Am 7. August 2022 lag der Preis bei 85 Euro/Tonne CO2-Äquivalent. Nun könnte RWE die Zertifikate sogar dazu einsetzen, um zu expandieren und im außereuropäischen Ausland in „Dreckschleudern“ wie Kohlekraftwerke zu investieren, die keinem Emissionshandelssystem unterworfen sind. Damit würde sich das wichtigste Klimaschutzinstrument der Europäischen Union als Geldmaschine für klimaschädliches Wirtschaften außerhalb der EU erweisen.
Auf etwas Ähnliches könnte Carbon Farming, bei dem Zertifikate für eine klimafreundliche Landwirtschaft ausgegeben werden, hinauslaufen. Das ist einer der zahlreichen Kritikpunkte an dem Vorhaben der Europäischen Union. Wieder einmal scheint diese mit einem ihrer Klimaschutzvorhaben Forderungen seitens Nichtregierungsorganisationen vermeintlich aufzugreifen, doch wieder einmal könnte sich dies als Förderung von Konzernen und eines Strukturwandels herausstellen.
Am 14. Januar 2021 hat die Europäische Kommission eine Liste landwirtschaftlicher Praktiken veröffentlicht, die im Rahmen der geplanten Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EU-Mitgliedsländer unter die Öko-Regelungen fallen könnten, um einen wichtigen Beitrag zu den Zielen des „Grünen Deals“ zu leisten. Dazu zählen ökologische Anbaumethoden, Etablierung von Fruchtfolgen, beispielsweise mit stickstoffbindenden Leguminosen, grasbasierte Viehhaltung, Präzisionslandwirtschaft, Haltungspraktiken, die das Tierwohl fördern, Verringerung der Verwendung von Antibiotika in der Tiermast und nicht zuletzt Carbon Farming. Weitere förderfähige Praktiken sind Veränderung der Fütterungsstrategien, der Einsatz von Nitrifikationshemmern, um die mit der Düngung verbundenen Emissionen zu reduzieren, sowie die Lagerung und Verbesserung des Managements von Dung.
Carbon Farming – Entwicklung und Ziel
Dezember 2015 – Auf der Weltklimakonferenz von Paris (COP 21) wurde die 4-Promille-Initiative vorgestellt. Dahinter steht die Rechnung, dass die Zunahme der Treibhausgasemissionen durch menschliche Aktivitäten kompensiert werden kann, wenn der Kohlenstoffanteil in den obersten 30 bis 40 Zentimetern der Böden weltweit um vier Promille erhöht würde. Das ist allerdings ein theoretischer Wert, denn bei weitem nicht alle Böden lassen sich entsprechend behandeln. Zudem hat jeder Boden eine Obergrenze der Kohlenstoffaufnahmefähigkeit, bzw. es gibt sehr humusreiche Böden wie Moore, die landwirtschaftlich nur eingeschränkt nutzbar sind. Außerdem müsste das hohe Niveau dauerhaft gehalten werden, damit ein Boden nicht zur Kohlenstoffquelle wird.
April 2021 – Die EU-Kommission stellt den Abschlussbericht einer zweijährigen Studie zum Carbon Farming vor. Der Bericht trägt den Titel „Technical Guidance Handbook setting up and implementing result-based carbon farming mechanisms in the EU“.
Juli 2021 – Beginn der „Carbon Initiative“ des Bayer-Konzerns. Daran nehmen 28 Landwirtinnen und Landwirte aus acht europäischen Ländern (Frankreich, Spanien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Österreich, Großbritannien und Ukraine) teil und bewirtschaften zusammen rund 500 Hektar nach Methoden des Carbon Farmings.
Dezember 2021 – Die EU-Kommission stellt in einer Mitteilung zu „nachhaltigen Kohlenstoffkreisläufen“ ihre Initiative zum Carbon Farming vor.
April 2022 – Der EU-Agrarrat begrüßt den Vorschlag der EU-Kommission für Carbon Farming. Allerdings hat Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Die Grünen) grundsätzliche Bedenken geäußert und bei einer Sitzung des Agrarrats zu Protokoll gegeben, dass ihm Carbon Farming als neues grünes Geschäftsmodell „verfrüht“ erscheint. Für die Finanzierung von Carbon Farming dürften keine zusätzlichen EU-Finanzmittel in Anspruch genommen werden. Bei einer Vergütung der Kohlenstoffbindung im Boden dürfe man nicht nur die Speicherleistung berücksichtigen, sondern es müsse auch die Freisetzung von Kohlendioxid bedacht werden. Die Landwirtschaft solle nicht die CO2-Emissionen anderer Sektoren kompensieren. Bleibt Özdemir bei seinem Standpunkt, könnte das einen zukünftigen Zertifikatehandel im Rahmen von Carbon Farming in der EU unterbinden.
Ende 2022 – Die EU-Kommission will einen Legislativvorschlag für einen Rechtsrahmen präsentieren, in dem Carbon Farming stattfinden soll.
2030 – Durch die Veränderung der Landbewirtschaftung will die EU jährlich 310 Megatonnen (Mt) CO2eq netto aus der Atmosphäre herausholen.
2050 – Als Resultat ihres Green Deals will die EU bis Mitte des Jahrhunderts klimaneutral sein, was bedeutet, dass sie „netto“ nicht mehr Treibhausgase emittiert, als sie zu binden vermag. Da manche Produktionsprozesse weiterhin nicht ohne Emissionen laufen können, sollen die entsprechenden Mengen an Kohlenstoffemissionen der Atmosphäre entzogen werden. Dazu werden technische und natürliche Lösungen diskutiert, beispielsweise die industrielle Abscheidung, Verflüssigung und geologische Lagerung von Kohlenstoff aus Abgasen (CCS) und das Binden von Kohlenstoff in natürlichen Systemen wie Wäldern, Mooren und landwirtschaftlichen Flächen.
Überwachen, überprüfen, Bericht erstatten
Zu der Frage, wie sie die Kohlenstoffbewirtschaftung in der EU fördern will, teilte die EU-Kommission mit:
„Es muss ein System eingeführt und auf der Ebene der Landbewirtschafter gefördert werden, um Landwirte und Forstwirte für die von ihnen erzielte zusätzliche Kohlenstoffbindung zu belohnen. Gegenwärtig schränken Umsetzungsprobleme wie der finanzielle Aufwand für die Einführung neuer Bewirtschaftungsmethoden und das Fehlen zuverlässiger Überwachungs-, Berichterstattungs- und Überprüfungssysteme die Akzeptanz der Kohlenstoffbewirtschaftung in der EU ein. Die Komplexität der Messung der Kohlenstoffbindung in Verbindung mit unzureichend zugeschnittenen Beratungsdiensten führt auch zu Unsicherheiten bei den Einnahmemöglichkeiten der Landbewirtschafter.“ (QANDA/21/6688)
Überwachen, überprüfen, Bericht erstatten machen heute schon einen erheblichen Teil der Arbeit eines landwirtschaftlichen Betriebs aus, und keinesfalls soll hier als Alternative der Deregulierung das Wort gesprochen werden. Doch sollten sich die Beteiligten klar darüber sein, welcher Preis für diese Art von Klimaschutz und Landwirtschaft bezahlt werden muss und vor allem, wer ihn zu entrichten hat.
In den USA ansässige Konzerne kompensieren bereits ihre Emissionen mit Carbon Farming. So hat der Softwarekonzern Microsoft für mehr als vier Millionen Dollar (3,6 Millionen Euro) Emissionsgutschriften von US-Landwirten erworben, die seit dem vergangenen Jahr Pilotprojekte zur Kohlenstoffbindung durchführen. Das Institute for Agriculture and Trade Policy (IATP) verfolgt diese Entwicklung seit Jahren und hat das Konzept des Carbon Farmings wiederholt kritisiert bzw. seine Grenzen und Gefahren aufgezeigt. Zuletzt fasste Shefali Sharma, Leiterin des Berliner Europa-Büros des IATP, in einem Meinungsbeitrag im EU-Observer (19.07.2022) ihre Bedenken zusammen.
Bevor die EU-Kommission am 30. November ihren Vorschlag für eine Rechtsvorschrift zum Kohlenstoffabbau vorlegt, sollte sie noch einige Punkte klären, die einer Anpassung der europäischen Landwirtschaft an die Klimaziele der EU im Wege stehen, schreibt sie. Der Weltklimarat IPCC habe in seinem jüngsten Sachstandsbericht unmissverständlich festgestellt, dass das Herausnehmen von Kohlenstoff aus der Atmosphäre kein Ersatz für die Reduzierung von Kohlenstoffemissionen sein kann. Noch innerhalb dieses Jahrzehnts müssen die Treibhausgasemissionen deutlich gesenkt werden, um die globale Erwärmung zu begrenzen. Deshalb dürfe der gesetzliche Rahmen für Carbon Farming den großen Emittenten nicht als Schlupfloch dienen, um unverdrossen Treibhausgase zu produzieren.
Die Autorin begründet ihre Behauptung, dass der Erwerb von Kohlenstoffzertifikaten ein Schlupfloch sein kann, mit den Erfahrungen zum Carbon Farming in den USA. Das System sei vor mehr als zehn Jahren eingeführt worden und habe keine nennenswerten Auswirkungen auf den Klimaschutz gehabt. Problematisch sei beispielsweise die Leichtigkeit, mit der Kohlenstoff wieder aus den Böden entweicht, der Mangel an exakten Messverfahren zum Volumen der Kohlenstoffanteile der Böden und auch das wirtschaftliche Risiko für die landwirtschaftlichen Betriebe, die Carbon Farming betreiben.
So sei bei einem typischen Testverfahren die Menge an eingebrachtem Kohlenstoff deutlich zu hoch eingeschätzt worden, da die Proben zu nahe an der Oberfläche entnommen worden waren. Des weiteren sei festgestellt worden, dass der Kohlenstoff bei steigenden Temperaturen viel schneller wieder freigesetzt wird als vermutet. Der Kohlenstoff sei demnach nicht dauerhaft im Boden gebunden geblieben, wie es aber für den Klimaschutz erforderlich gewesen wäre.
Sharma kann sich auf eine wachsende Zahl von Untersuchungen berufen, in denen beispielsweise festgestellt wurde, dass eine andere Bewirtschaftung oder auch eine nachteilige Witterung einem Boden innerhalb nur eines Jahres wieder erhebliche Mengen an Kohlenstoff entziehen können. Und dass eine Erhöhung des Kohlenstoffgehalts eines Bodens dafür sorgt, dass sich die Bodenlebewesen zwar stärker vermehren, aber, kein Wunder, dabei verstärkt Kohlenstoff abbauen. Es müssen also Jahr für Jahr größere Mengen Kohlenstoff eingebracht werden, um ein hohes Niveau halten zu können.
Kohlenstoffzertifikate bringen den Landwirtschaftsbetrieben nicht nur Verdienste ein, sondern es entstehen auch Kosten, insbesondere aufgrund der strengeren Überwachung, der Prüfungen und der verpflichtenden Berichterstattung. Deswegen ist in den USA Carbon Farming in erster Linie Großbetrieben zugutegekommen, wohingegen kleine bis mittelgroße Betriebe benachteiligt wurden, schreibt die IATP-Direktorin. Zudem seien rechtliche Fragen nach wie vor ungeklärt. Beispielsweise welche Verpflichtungen und Risiken für Pächter bestehen, wer Eigentümer der erzeugten Kohlenstoffzertifikate ist und wie langfristige Kreditverpflichtungen den Verkauf von Ackerland beeinflussen können.
Ähnliche Bedenken zur unsicheren Rechtslage äußerten im November 2021 der WWF und rund 30 weitere Nichtregierungsorganisationen in einem Positionspapier zum Carbon Farming. Darin heißt es:
„Sollten nämlich die humusmehrenden Maßnahmen nicht zu der mit dem Zertifizierer vereinbarten Menge Kohlenstoff im Boden führen, besteht die Gefahr, dass Unternehmen, die den Humusaufbau ‚abkaufen‘, nicht erfüllte Ansprüche geltend machen.“
Aufgrund eines unverschuldeten Humusverlustes beispielsweise in Folge von Witterungseinflüssen drohen den Landwirtinnen und Landwirten Rückzahlungsforderungen. Weniger Bedenken hat dagegen die Internationale Vereinigung der ökologischen Landbaubewegungen (IFOAM). Sie begrüßte in einer Stellungnahme vom April 2022 den Vorstoß der EU-Kommission zur Erhöhung des organischen Anteils in den Böden.
Daten – die Währung des digitalen Zeitalters
Sharma macht auf einen weiteren Aspekt des Zertifikatehandels aufmerksam, der in der Berichterstattung über dieses Thema häufig unter den Tisch fällt. Die Regelungen verlangen von den Landwirtschaftsbetrieben auch die Weitergabe enormer Datenmengen über die Vorgänge in ihrem Betrieb, einschließlich jährlicher Informationen über Anpflanzung, Saatgut, Düngereinsatz, Ausrüstung und Ernte. Viele US-Landwirte seien besorgt und fragten sich, wer diese Daten kontrolliert und wer davon profitiert. „Große, weltweit tätige Agrarunternehmen wie Cargill, Bayer und Corteva haben ihre eigenen Datensysteme für landwirtschaftliche Betriebe entwickelt. Die bieten den Unternehmen einen beispiellosen Zugang zu den Abläufen auf den einzelnen Betrieben sowie auf die aggregierten Daten vieler landwirtschaftlicher Betriebe – die sich alle in Privatbesitz befinden und kontrolliert werden. Dies sind oft die gleichen Unternehmen, von denen die Landwirte beim Kauf von Betriebsmitteln abhängig sind, was zu einem Interessenkonflikt führt.“
Um ihre Klimaschutzziele zu erreichen, sollte die Europäische Union die Milliarden von Euro aus der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) auf Maßnahmen lenken, die den europäischen Landwirtinnen und Landwirten wirklich helfen, anstatt Abzocke mit Kohlenstoffzertifikaten zu betreiben, fordert die IATP-Direktorin.
Manche der hier genannten Bedenken Sharmas trägt auch die EU-Kommission vor. Als besondere Herausforderungen des Carbon Farmings bezeichnet sie das unkontrollierte Entweichen von Kohlenstoff aus den Böden, spezifische Messschwierigkeiten, mangelnde Überwachungsstandards und zu wenig Transparenz. Aber wird die EU-Kommission den Einwänden der NGOs Rechnung tragen und auf die Förderung von Bodenspekulationsgeschäften und damit der weiteren Akkumulation von Land verzichten?
Für Carbon Farming werden Monitoring-Methoden weiter verfeinert. Beispielsweise können mittels Laser-Spektroskopie selbst kleine Moleküle – zum Beispiel Kohlenstoff – im Boden nachgewiesen werden. In Kombination mit Satellitenbildern lässt sich die landwirtschaftliche Produktion umfänglich überwachen. Das birgt den Vorteil, dass auch tatsächlich nachgewiesen werden kann, wieviel Kohlenstoff ein Boden enthält oder, wie bei der Präzisionslandwirtschaft, an welcher Stelle wieviel Dünger die höchsten Erträge in Aussicht stellt. Aber dieses Wissen macht die ursprünglich Produzierenden austauschbar. Steht eine neue Welle des Landgrabbings bevor? Das befürchten Nichtregierungsorganisationen wie GRAIN, und sie können sich auf negative Erfahrungen mit sogenannten Ausgleichsprojekten für CO2-Emissionen berufen. Diese haben teils schwerwiegende Folgen für Menschen und ihre Umwelt. Sowohl die Förderung der Produktion von Biokraftstoff als auch die Aufforstung zwecks CO2-Bindung hatten Vertreibungen und Verdrängungen zur Folge.
Viele Fragen zum Carbon Farming sind noch offen und werden womöglich auch in absehbarer Zeit nicht zu beantworten sein: Wie will man unterscheiden, ob der Kohlenstoffaufbau im Boden eine zusätzliche Maßnahme ist oder ob die Landwirtschaftsbetriebe nicht sowieso dafür gesorgt hätten, dass der Humusgehalt ihrer Böden erhöht wird? Würde nicht ein Nullsummenspiel betrieben, falls das organische Material von einem benachbarten, nicht dem Carbon Farming unterworfenen Feld in einen Boden eingearbeitet wird, durch den dann Kohlenstoffzertifikate als vermeintlich zusätzlicher Klimaschutz generiert werden? Außerdem verringert sich zunächst der Humusgehalt des Bodens, wenn auf einer Fläche etwas angebaut wird. Humus wird abgebaut und wieder eingebracht – das ist ein Merkmal der regenerativen Landwirtschaft. Auch von daher ist es fraglich, ob Carbon Farming nennenswert zum Klimaschutz beitragen kann.
CO2-Emissionen bleiben Hunderte von Jahren in der Atmosphäre. Wohingegen Kohlenstoff im Boden binnen eines oder weniger Jahre verschwinden kann. Realistischerweise muss man sagen, dass angesichts dieser zeitlichen Diskrepanz eine Kompensation nicht stattfindet. Zumal die Finanzierung über ein Zertifikatsystem auf einige Jahre, nicht jedoch Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte, wie es für den Klimaschutz erforderlich wäre, angelegt würde. Sobald aber ein Betrieb keine CO2-Zertifikate für seine Böden erhält, könnte er zu der dann vielleicht vielversprechenderen mineraldüngerbetriebenen Landwirtschaft zurückkehren.
Betriebe, in denen bereits regenerative Landwirtschaft betrieben wird, können ihre Böden kaum mit weiterem Humus anreichern. Gehen diese vorbildlichen Höfe beim Carbon Farming leer aus? Werden ausgerechnet jene belohnt, die bisher Raubbau betrieben haben und ihre ausgelaugten Böden nun mit finanzieller Unterstützung aufpäppeln können?
Vor dem Hintergrund der bisherigen Klimaschutzpolitik der EU ist zu erwarten, dass Carbon Farming ein weiteres Beispiel dafür wird, wie Klimaschutz dem Primat der Ökonomie unterworfen wird und die soziale Frage zur Fußnote gerät. Enteignung der Bäuerinnen und Bauern ist keine Erfindung der Jetztzeit, aber sie hat auch noch nicht geendet. Es droht eine Fortsetzung der ursprünglichen Akkumulation mit den qualifizierten Mitteln moderner Überwachungs- und Messtechnologien. Die Ironie der Geschichte: Agrokonzerne wie Bayer haben davon profitiert, dass eine Landwirtschaft betrieben wird, durch die die Böden ausgelaugt werden. Nun sollen sie von der Schadensbehebung profitieren, indem sie den Humusaufbau im Boden fördern und sich darüber von eigenen Klimaschutzmaßnahmen freikaufen.
Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir hält Carbon Farming für eine „Riesenchance“ (Brüssel, Januar 2022), aber bezeichnet das neue grüne Geschäftsmodell als „verfrüht“ (Brüssel, April 2022). Wie wird er sich bei zukünftigen Abstimmungen im EU-Agrarrat verhalten?
Beitrag veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 176 vom 13. August 2022