In Mexiko sind immer mehr Menschen gezwungen, ihren Wohnort zu verlassen und Zuflucht in einem anderen Bundesstaat zu finden. Gründe hierfür sind unter anderem die Gewalt durch das organisierte Verbrechen, Geschlechterdiskriminierung, die Enteignung von Land und der Klimawandel. Zu den am stärksten betroffenen Gruppen gehören laut Cecilia Jiménez-Damary, UN-Sonderberichterstatterin für die Menschenrechte von Binnenvertriebenen Kinder, Jugendliche und Frauen. Bei einer Pressekonferenz am 9. Sepember in Mexiko-Stadt berichtete Jiménez-Damary über die vorläufigen Ergebnisse ihres Besuchs in Mexiko, der vom 29. August bis 9. September stattfand. Während ihrer Reise durch verschiedene Provinzen habe sie habe vor allem die Situation von intern vertriebenen Frauen, Jugendlichen und Kinder als besonderes Problem wahrgenommen. Laut der UN-Berichterstatterin ist die Situation unter anderem deshalb so komplex, weil offizielle Daten der mexikanischen Regierung fehlten, die für die Konzeption und Umsetzung wirksamer öffentlicher Maßnahmen für die betroffenen Personen benötigt würden. Aufgrund der fehlenden Daten könnte den Vetriebenen nicht geholfen oder den Vertreibungen vorgebeugt werden.

Was zwingt die Menschen zum Verlassen ihres Wohnorts? Wie sind ihre Lebensumstände?

In ihren vorläufigen Ergebnissen betonte die UN-Berichterstatterin, dass es in Mexiko für die interne Vertreibung viele verschiedene Gründe und damit viele betroffene Bevölkerungsgruppen gebe, wobei Frauen, Mädchen und Jugendliche jedoch doppelt betroffen seien. Die Berichterstatterin und Menschenrechtsanwältin beschrieb, dass dies in erster Linie mit der geschlechtsspezifischen Gewalt und der großen Zahl von Feminiziden in Mexiko zu tun habe. Diese Faktoren machen Frauen und Mädchen „besonders anfällig für Bedrohungen, Einschüchterung und Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt“. Die UN-Berichterstatterin stellte fest, dass in den meisten Fällen von Vertreibung aufgrund von geschlechtsspezifischer Gewalt die erste Reaktion Flucht sei, um das eigene Leben und das von Familienangehörigen und geliebten Menschen zu schützen. Die Gefahr für die Frauen und für ihnen nahestehende Personen verschwindet jedoch nicht einfach durch den Umzug an einen anderen Ort. Wörtlich berichtete Cecilia Jiménez-Damary: “Die Frauen, mit denen ich mich getroffen habe, erzählten mir von all ihren leidvollen Erfahrungen, vom Schmerz durch das Auseinanderbrechen ihrer Familien, dem Verlust ihrer Ersparnisse und ihrer Lebensgrundlage und von den schwerwiegenden Auswirkungen auf ihr Recht auf Gesundheit.”

Auch auf der Flucht übernehmen Frauen den Hauptteil der Care-Arbeit

Wenn sie ihre Wohnorte verlassen, verlieren die von gewaltsamer Vertreibung betroffenen Frauen nicht nur die sozio-emotionalen Bindungen zu ihren Familien. Sie verlieren auch Einnahmequellen und Sachwerte und riskieren Angriffe auf ihre sexuellen und reproduktiven Rechte. Zusätzlich haben sie große Schwierigkeiten, Zugang zu Recht, Gesundheit und vielen anderen Dienstleistungen zu bekommen. Weiterhin erklärte Jiménez-Damary, dass in Mexiko mehr Frauen als Männer von Binnenvertreibung betroffen sind. Der Großteil dieser Frauen trage die Hauptlast der Care-Arbeit für eine ganze Gruppe, denn in der Regel zögen Frauen nicht alleine an einen anderen Ort, sondern gemeinsam mit der Kernfamilie (Söhne, Töchter, Väter, Mütter, Geschwister etc., die in schwierigen Phasen der Instabilität auch finanziell von ihr abhängig seien). Hinzu kommt, dass die gewaltsam vertriebenen Frauen, Mädchen und Jugendlichen auch noch mit anderer systematischer Gewalt konfrontiert sind, gegen die die mexikanische Regierung etwas unternehmen muss.

Die mexikanische Politik braucht eine Genderperspekive, die zugleich intersektional und interkulturell ist.

Cecilia Jiménez-Damary wies unter anderem auf die Fortschritte Mexikos im Bereich der internen Vertreibung hin. Dazu gehören die Untersuchungsprotokolle für Fälle von Zwangsvertreibung im Bundesstaat Chihuahua und das Gesetz 487 in Guerrero zur Verhinderung und Bearbeitung von Fällen von gewaltsamer Vertreibung. Jedoch seien die Behörden auf offizielle Daten angewiesen, um die öffentliche Politik auf Grundlage konkreter Zahlen und Erfahrungen zu gestalten. Darüber hinaus solle die Regierung die Beteiligung von Organisationen der Zivilgesellschaft und von Opfern von Zwangsvertreibungen an der Gestaltung solcher Maßnahmen sicherstellen, so die Berichterstatterin. Andernfalls werde man nicht aus erster Hand erfahren, welche spezifischen Bedürfnisse sie haben. Die Berichterstatterin wies unter anderem darauf hin, dass ein einheitliches bundesweites Register für gewaltsam Vertriebene erforderlich sei, um ihnen den Zugang zu Ausweispapieren und Dienstleistungen zu erleichtern. Derzeit sei dies ein Problem, das dazu führe, dass vertriebene Kinder und Jugendliche keine Möglichkeit haben, weiterhin zur Schule zu gehen. Ohne Papiere haben sie und ihre Familien keinen Zugang zu grundlegender Basisversorgung wie Wohnung und Gesundheitsversorgung. Andererseits müsse die Regierung auch die besonderen Bedingungen der einzelnen Vertriebenen berücksichtigen. In Mexiko beispielsweise leben Journalistinnen unter anderen Bedingungen als indigene Frauen, wenn sie gezwungen sind, ihren Wohnort zu verlassen. Deshalb müssen sich auch ihre jeweiligen Schutzmechanismen unterscheiden.

Bei ihrem Besuch in Mexiko bereiste Cecilia Jiménez-Damary die Bundesstaaten Guerrero, Chiapas, Chihuahua und Mexiko-Stadt. Sie wird dem UN-Menschenrechtsrat im Juni 2023 ihren Abschlussbericht vorlegen. In der Zwischenzeit geben ihre Beobachtungen im Vorfeld bereits Aufschluss darüber, wie der Staat die Opfer von gewaltsamen Vertreibungen vernachlässigt.

Anmerkung:

Die NGO CIMAC hat eine Studie über Journalistinnen erstellt, die aufgrund ihrer Arbeit gewaltsam vertrieben wurden. Die Studie heißt “Dejar todo” und kann hier heruntergeladen werden.

Der Originalartikel kann hier besucht werden