Im Vorfeld der Kampagne „24 Stunden für Assange“ haben viele nach der rechtlichen Situation des australischen Journalisten gefragt. Patrick Boylan von Free Assange Italien versucht, die komplexe Situation zusammenzufassen.
Wenn alles schief geht
Am 26. August reichten Julians Anwälte ihre letzte Berufung vor einem britischen Gericht ein. Im Wesentlichen forderten sie den High Court auf, das erstinstanzliche Verfahren wieder aufzunehmen. Das liegt daran, dass Richterin Baraitser alle Gründe, die sie gegen die Rechtmäßigkeit des Auslieferungsersuchens vorgebracht hatten, übergangen hat. Stattdessen begründete die Richterin ihr Auslieferungsverbot allein mit der Gefahr, dass Julian aufgrund der unmenschlichen Haftbedingungen, die ihn erwarten, Selbstmord begehen könnte.
Julians Anwälte legten damals keine Berufung wegen dieser „Zurückhaltung“ gegen das Urteil von Baraitser ein. Das lag daran, dass sie erreicht hatten, was sie wollten: ein Auslieferungsverbot. Aber jetzt wurde dieses Verbot aufgehoben (auf der Grundlage der, wenn auch verspäteten, „humanen Behandlungsgarantien“ des US-Justizministeriums). Und die Auslieferungsanordnung wurde am 17. Juni von der britischen Innenministerin unterzeichnet. Deshalb fordern die Anwälte erst jetzt, die Versäumnisse der Richterin Baraitser im ursprünglichen Prozess anzufechten.
Wird der Oberste Gerichtshof der Berufung stattgeben und den Fall neu aufrollen? Wir werden sehen, vielleicht schon nächsten Monat.
Vorerst bleibt der Auslieferungsbeschluss, wiewohl unterschrieben, unwirksam: Die Ministerin ist verpflichtet, die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs abzuwarten, bevor sie ihn vollstreckt.
Wenn der High Court der Wiederaufnahme des Verfahrens zustimmt, wird der Auslieferungsbeschluss weiterhin nicht vollstreckt, damit die Richter die Stimmigkeit, der von Julians Anwälten behaupteten Versäumnisse, prüfen können. Das bedeutet, dass Julian mindestens sechs Monate lang einen „Schutzschild“ hat, also die Mindestzeit, um die Entscheidung der ersten Instanz zu überprüfen. Keine Auslieferung vor März 2023 also.
Aber wenn das Gericht sich weigert, den Fall wieder aufzunehmen – und das werden wir wahrscheinlich in ein oder zwei Monaten wissen – könnte Julian schon am nächsten Tag ausgeliefert werden. Das bedeutet, dass Julian schon Ende des folgenden Monats in einem Flugzeug in die USA sitzen könnte.
„Könnte“ steht im Konditional, denn Julians Anwälte haben noch eine aller-allerletzte Karte zu spielen. Wenn die Berufungsmöglichkeiten im Vereinigten Königreich ausgeschöpft sind, können sie gegen die Auslieferung beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg klagen. Sie haben zweifellos bereits alle Dokumente vorbereitet, und sobald der britische High Court gegen eine Wiederaufnahme des Verfahrens entscheidet, werden sie ihren Einspruch beim EGMR einreichen – was Julian bis zur Entscheidung des Gerichtshofs, wahrscheinlich im nächsten Herbst, einen Schutzschild (diesmal einen europäischen) gegen die Auslieferung geben würde. Es ist wahrscheinlich, dass der Gerichtshof die Auslieferung verbieten wird, wie in ähnlichen Fällen in der Vergangenheit; damit würde der Schutzschild dauerhaft werden.
„Würde“ steht im Konditional, denn es ist nicht sicher, dass die Briten nicht einen Trick erfinden, um Julian sofort nach dem möglichen negativen Urteil des High Court in ein Flugzeug zu setzen, bevor Julians Anwälte Zeit haben, ihre Beschwerde beim EGMR einzureichen und sich auf den Schutzschild zu berufen.
„Würde“ steht auch darum im Konditional, weil es nicht sicher ist, dass das Vereinigte Königreich den europäischen Schutzschild für die Dauer der Anhörungen respektieren wird. Auch ein mögliches endgültiges Urteil des EGMR zu Gunsten von Julian und gegen eine Auslieferung könnte unberücksichtigt bleiben.
Tatsache ist, dass die britische Regierung zwar Respekt hat vor ihren eigenen Gerichten, aber weit weniger Respekt vor den Entscheidungen internationaler Gerichte.
Am 22. Juni legte die Regierung von Boris Johnson sogar einen Gesetzesentwurf vor (der in Wahrheit schon seit einiger Zeit in Erwägung gezogen wurde), der das Parlament „souverän macht und nicht mehr dem ‚Diktat‘ der Straßburger Richter unterwirft“. Es ist die British Bill of Rights (BBR), die die Europäische Menschenrechtskonvention und damit auch den Straßburger Gerichtshof ersetzen soll.
Über diesen Gesetzentwurf wurde im Parlament noch nicht debattiert und abgestimmt, weil die Regierung Johnson gestürzt ist. Aber jetzt, wo die neue Premierministerin Truss ihr Amt angetreten hat, ist es durchaus möglich, dass sie die britische Bill of Rights wieder aufgreift, sogar schon im nächsten Oktober. Und das nicht nur, um Julian den Schutz des EGMR zu entziehen, sondern auch, um die im Vereinigten Königreich lebenden Einwanderer, die die Johnson-Regierung nach Ruanda abschieben wollte, von diesem Schutz auszuschließen. Am 14. Juni verbot der EGMR den Abschiebeflug, aber die Regierung Truss kann es erneut versuchen, nachdem sie das Vereinigte Königreich der Rechtsprechung des EGMR entzogen hat.
Wenn die britische Bill of Rights vorgeschlagen und im nächsten Oktober angenommen würde, gäbe es für Julian keinen europäischen Schutzschild mehr. Und sollte das Oberste Gericht im nächsten Oktober die Wiederaufnahme des Verfahrens ablehnen, könnte die Auslieferung, wie bereits erwähnt, Ende Oktober stattfinden.
Deshalb dürften der Oktober – und vielleicht sogar der November – entscheidend für das Schicksal von Julian Assange sein. In diesem Monat kann so viel entschieden werden. Der Druck der öffentlichen Meinung muss daher auf dem höchstmöglichen Stand sein.
Wenn alles gut geht
Im Idealfall wird der High Court im nächsten Monat entscheiden, den Fall wieder aufzunehmen, und das Berufungsgericht wird im März ein Urteil fällen, das die Rechtswidrigkeit des Auslieferungsantrags des US-Justizministeriums anerkennt. Um Ostern 2023 wäre Julian dann ein freier Mann.
Aber selbst wenn das britische Gericht etwa im März nächsten Jahres die Berufung von Julians Anwälten für unzulässig erklärt, können wir immer noch davon ausgehen, dass die Anwälte ihre Berufung rechtzeitig beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einreichen werden und der EGMR daher im Herbst 2023 Julians Auslieferung an die Vereinigten Staaten endgültig verbieten wird. Dazu müssen wir auch davon ausgehen, dass die britische Bill of Rights nicht vom britischen Parlament verabschiedet wird und dass das Vereinigte Königreich daher das Urteil des EGMR respektieren wird. Das bedeutet, dass Julian an Weihnachten 2023 ein freier Mann sein könnte.
Diese Zeitachse ist meine persönliche Einschätzung: Ich habe sie im April letzten Jahres bei der italienischen Nachrichtenagentur DIRE vorgelegt und bis jetzt scheint sie zu stimmen. Aber sie ist sehr optimistisch, was den Zeitrahmen für die verschiedenen Verfahren und Berufungen angeht. Ich rechne damit, dass der Fall Assange, weil er so prominent ist, von den Richtern vorrangig behandelt wird. Aber das ist nicht sicher.
Eine letzte Überlegung
Die Haftzeit für Julian ist selbst im günstigsten Szenario sehr lang. Deshalb ist es nicht fair, dass er so lange unter den psychisch belastenden Bedingungen der totalen Isolation in einem Hochsicherheitsgefängnis inhaftiert ist. Er ist nicht vorbestraft und wird nur als Vorsichtsmaßnahme festgehalten. Das rechtfertigt nicht eine solche Härte, die physische und psychische Schäden verursacht. Da es sich um eine reine Untersuchungshaft bis zum Abschluss des Gerichtsverfahrens handelt, müssen wir für einen Hausarrest kämpfen, und sei es ein überwachter.
Patrick Boylan ist Autor des Buches „Free Assange“, Left editions.
Übersetzung aus dem Italienischen von Domenica Ott vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!