Vor dreißig Jahren erklärte ein amerikanischer Politikwissenschaftler namens Francis Fukuyama ohne Ironie, dass die Geschichte an ihr Ende gekommen sei[1]. Er meinte das natürlich im übertragenen Sinne, aber er machte auch keine Witze. Es war ihm durchaus ernst. Die angeblich nicht mehr relevante Geschichte, auf die sich Fukuyama in seinem damals viel beachteten Bestseller „Das Ende der Geschichte und der letzte Mensch“ bezog, war die Geschichte einer Welt, die sich seiner Meinung nach am 9. November 1989 völlig verändert hatte.

Der Fiebertraum von Francis Fukuyama

Es war der Tag, an dem die Berliner Mauer fiel und der Kalte Krieg zu Ende zu sein schien. Von diesem Moment an sollte es keine Hindernisse mehr geben, die dem neuen globalistischen Traum im Wege standen. Laut Fukuyama blieb der Menschheit ab 1990 nichts anderes übrig, als auf einer alles vereinigenden unipolaren kapitalistischen Welle des Fortschritts zu reiten, um schließlich globalen Wohlstand für alle zu erreichen.

Die Geschichte jedoch, ein begriffsstutziges Biest, das sie ist, hat Fukuyamas Memo nicht beachtet. Tatsächlich wurde Fukuyamas ahistorischer Kahuna in den ersten Monaten des Jahres 2008 unsanft aus seiner himmlischen Flugbahn gerissen und in ein höllisches Bardo gezogen. Ein dunkles, trostloses, uneiniges Reich voller verdrehter Gestalten aller Art. Diese rückwärtsgewandten Kreaturen tauchen in Scharen aus allen Regionen des Planeten auf und verlangen, dass wir unsere lange, ungelöste und immer noch sehr relevante Vergangenheit, unsere Geschichte, anerkennen.

Vier Reiter und die Zuhälter

Jair Bolsonaro (Brasilien), Wladimir Putin (Russland), Donald Trump (USA) und Giorgia Meloni (Italien) sind nur einige Beispiele unter Dutzenden von amtierenden und/oder aufstrebenden rechtsnationalistischen politischen Führern. In den Mainstream-Medien wurde der jüngste Aufstieg dieser Politiker ausgiebig kommentiert. Der übliche Chor der Mitte-Links-Status-Quo-Propheten, von denen ein Teil vor dreißig Jahren Mitte-Rechts-Status-Quo-Propheten waren, die das Buch von Fukuyama lobten, hat nun schon seit fast einem Jahrzehnt den Aufschwung dieser „neuen irrationalistischen“(2) „Demontagearbeiter der Demokratie“(3) kommentiert und dies zu Geld gemacht.

Heutzutage werden wir von Kommentatoren und Akademikern der Mainstream-Medien ständig damit konfrontiert, wie diese „rückständigen“ Charaktere die „untergebildeten Massen“ dazu gebracht haben, sich von der Demokratie abzuwenden[4]. Was diese Experten jedoch nicht erkennen und/oder nicht zugeben wollen, ist, dass der Aufstieg des neuen Rechtspopulismus ein direktes systemisches Produkt der antihistorischen, antidemokratischen, oligarchischen neoliberalen Verirrung ist, die diese „Experten“ in den letzten mehr als dreißig Jahren angepriesen haben[5].

Die Rache der mutierten Schildkröten des späten Mittelalters

Einerseits bekennen sich populistische Führer wie die oben erwähnten dazu, traditionelle christliche Werte zu verteidigen, die sie als Bedrohung durch relativistische, degenerative Kräfte ansehen[6]. Ihr nationalistischer Aufruf, zu traditionellen Werten zurückzukehren, ist ihrer Meinung nach ein Gegenmittel gegen die aus den Fugen geratene Dekadenz, die ihrer Meinung nach vom modernen Liberalismus ausgeht.

Andererseits sind diese neokonservativen Führer ironischerweise in ihren Lebenspraktiken, in ihrem Verhalten in Echtzeit, eigentlich postmoderne Karikaturen, die Lebensstile und Ideologien verkörpern, die im Grunde zutiefst zynisch und reaktionär sind und trotz aller anders lautenden Behauptungen, mit denen ihrer modernen liberalen Rivalen verwandt sind.

Was die meisten dieser Führer verkörpern, ist keine Rückbesinnung auf Werte, sondern eine Mutation, eine unverhohlene Verdoppelung der anti-utilitaristischen Dekadenz der neoliberalen Ordnung, die sie angeblich bekämpfen wollen.

Die von ihnen vorgeschlagene Lösung für Quasi-Oligarchien sind Quasi-Diktaturen. Ihre Antwort auf den globalistischen Militarismus ist nationalistischer Ethnozentrismus. Ihr Mittel gegen die wachsende Ungleichheit des Reichtums ist unregulierte private und/oder staatliche Kontrolle von oben nach unten (je nachdem, auf welchen Nationalisten man sich bezieht).

Hinzu kommt bei Führern wie Bolsonaro und Trump eine Vorliebe für anachronistischen, quasi-monarchischen Glanz. Bei Meloni und Putin findet man einen nicht ganz so subtilen Despotenfetisch und eine Tendenz, ehrfürchtig auf Potentaten vergangener Zeiten zurückzublicken[7].

Rechtspopulismus (das delinquente Liebkind des Neoliberalismus)

Dies ist der entscheidende Punkt. Dies ist der Moment in diesem Artikel, an dem ich hoffentlich mein Hauptziel erreiche. „Was ist dein Hauptziel, Mark?“, werden Sie sich vielleicht fragen. Nun, ich werde es Ihnen sagen.

Mein Hauptziel in diesem Artikel ist es, darauf hinzuweisen, dass der rechtspopulistische Nationalismus des 21. Jahrhunderts das delinquente Kind ist, das der neoliberale Kapitalismus zur Welt gebracht hat. Er ist der groteske Schatten, der degenerierte Ableger des derzeit zerfallenden Deregulierungstraums der Greenspan-Reagan-Clinton-Ära. Ein Traum, der im Wesentlichen darin bestand, den New Deal zu demontieren und den Geierkapitalismus zu globalisieren.

Der (überparteiliche) globalistische Neoliberalismus des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts hat einen beträchtlichen Teil der Weltbevölkerung in eine solche Verwirrung, Angst und Verzweiflung gestürzt, dass sie nun bereit sind, alles zu verlieren, was sie im letzten Jahrhundert gewonnen haben, um dem Leid und der Sinnlosigkeit zu entkommen, die ihnen das derzeitige System auferlegt hat.

Ein weiteres Jahrzehnt der gebrochenen Versprechen, der Sparmaßnahmen und der enttäuschten Hoffnungen ist für eine wachsende Mehrheit der entrechteten und verzweifelten Massen dieses Planeten einfach keine Option. Sie können nicht weiterhin ihre Hoffnungen in ein System setzen und es unterstützen, das sich auf Kosten der körperlichen und geistigen Gesundheit und des Wohlbefindens der Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten in eine Cashcow für die Reichsten der Reichen verwandelt hat.

J’Accuse!

Denjenigen im Westen, die in Unwissenheit und/oder in böser Absicht immer noch von der Notwendigkeit sprechen, dem gegenwärtigen neoliberalen militärisch-industriellen Unternehmenskomplex, dem gegenwärtigen System, um jeden Preis weiterhin bedingungslos zu dienen, und die behaupten, dass diejenigen, die es in Frage stellen, die Ziele des Feindes unterstützen, sage ich: J’Accuse! [8]

*Anmerkung: Ich habe eine Reihe von Artikeln verfasst, die sich ausführlich mit dem neoliberalen Kapitalismus befassen und damit, wie er in den letzten vier Jahrzehnten der zentrale Antrieb für wirtschaftliche Ungleichheit und Krieg in der modernen Welt war. Ich habe zwei dieser Artikel hier eingefügt (siehe unten), falls Sie tiefer in die Materie eintauchen möchten:

  1. https://www.pressenza.com/2020/12/the-fall-of-the-liberal-left-the-rise-of-neoliberalism-and-the-resulting-confusion-that-has-ensued/
  2. https://www.pressenza.com/de/2022/04/wir-sind-in-ein-postkapitalistisches-zeitalter-eingetreten/

Es muss eine dritte Option geben

Es muss eine dritte Option geben. Die beiden Optionen, die von den Mainstream-Medien angeboten werden, nämlich a) so weiterzumachen wie bisher, oder b) in den totalen Neofaschismus überzugehen, sind beides falsche Türen. Sie sind beide anti-evolutionäre Wege.

Was diese mögliche dritte Option ist oder sein könnte, wird Gegenstand eines Artikels sein, der irgendwann im Oktober hier in Pressenza erscheinen wird.

Zum Schluss: „Ich will eine Lösung, die der menschlichen Landschaft würdig ist“

Dieser Artikel endet mit einem Zitat aus einem Buch mit dem Titel „Die innere Landschaft“, das vor zweiundvierzig Jahren von dem humanistischen Philosophen Silo geschrieben wurde. Ich wollte es eigentlich paraphrasieren, aber stattdessen habe ich beschlossen, es hier (unten) so einzufügen, wie es ist.

„Ich lehne jedes Lager ab, das ein höheres Ideal als das Leben verkündet, und ebenso jede Sache, die Leid erzeugt, um sich durchzusetzen. Daher schau deine eigenen Hände an, bevor du mich dafür anklagst, dass ich mich auf keine Seite schlage. Schau zuerst, ob du nicht an diesen Händen das Blut des Mittäters entdeckst. Wenn du meinst, es sei mutig, sich auf eine Seite zu schlagen, was hältst du dann von dem, der von allen mörderischen Seiten an den Pranger gestellt wird, weil er sich auf keine dieser Seiten schlägt? Ich wünsche mir eine Sache, die der menschlichen Landschaft würdig ist, eine Sache, die sich der Aufgabe verpflichtet, Schmerz und Leid zu überwinden.

Gruppen, die in ihrer nahen oder fernen Geschichte der Unterdrückung des Lebens gedient haben, spreche ich jedes Recht zur Anklage ab. All jenen, die selbst ihre verdächtigen Gesichter verbergen, spreche ich jedes Recht zur Verdächtigung ab. Denen, die danach trachten, neue, für den Menschen notwendige Wege zu versperren, spreche ich jedes Recht dazu ab, selbst dann, wenn sie als wichtigsten Grund dafür die Dringlichkeit der Lage angeben.

Nicht einmal das Schlimmste im Verbrecher ist mir fremd. Und wenn ich es in der Landschaft erkenne, so erkenne ich es auch in mir. Daher will ich das überwinden, was in mir und in jedem Menschen danach trachtet, das Leben zu unterdrücken. Ich will den Abgrund überwinden!

Jede Welt, nach der du strebst, jede Gerechtigkeit, die du forderst, jede Liebe, die du suchst, und jeder Mensch,dem du folgen oder den du zerstören möchtest, sind auch in dir. Alles, was sich in dir verändert, wird deineAusrichtung in der Landschaft, in der du lebst, verändern. Wenn du also etwas Neues brauchst, so musst du dasAlte, das in deinem Inneren herrscht, überwinden. Und wie willst du das erreichen? Als erstes wirst du erkennen,dass du deine innere Landschaft immer mit dir trägst, selbst wenn du den Ort wechselst.“ [9]

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Alina Kulik vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!


Quellen:

[1] Fukuyama, Francis, “The End Of History And The Last Man”, Free Press, 1992
[2] https://www.wisdc.org/news/commentary/7054-the-roots-of-the-anti-democracy-movement
[3] https://lithub.com/the-republican-party-now-backs-an-anti-democratic-insurgency/
[4] https://www.hrw.org/news/2021/09/15/brazil-bolsonaro-threatens-democratic-rule
[5] https://www.theguardian.com/commentisfree/2019/jul/10/bernie-sanders-2020-neoliberal-pundits
[6] https://www.youtube.com/watch?v=JbtNtzS3PDM&t=154s
[7] https://www.theguardian.com/world/2022/sep/16/tough-determined-fascinated-by-mussolini-rome-neighbours-recall-giorgia-meloni
[8] https://en.wikipedia.org/wiki/J%27Accuse%E2%80%A6!
[9] Silo, “Die Innere Landschaft”, Kapitel IV., Edition Pangea, Zürich