Mit schwarzen Stoppschildern auf ungesunden Lebensmitteln geht Mexiko gegen die grassierende Fettleibigkeit im Land vor.
Ein nationaler Notstand
Worum geht’s? Um einen «nationalen epidemiologischen Notstand». Diesen hatte die mexikanische Regierung im November 2016 ausgerufen – angesichts «des Ausmasses und der Tragweite der Fälle von Übergewicht und Adipositas». Die jüngsten Zahlen dazu stammen aus der nationalen Gesundheitsstudie von 2020. Sie sind erschreckend: Unter den fünf- bis elfjährigen Kindern sind 38 Prozent übergewichtig oder gar fettleibig. Und unter den Mexikaner*innen ab 20 Jahren sind 74 Prozent zu dick. Über ein Drittel der Erwachsenen ist fettleibig. Damit ist Mexiko innerhalb der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) das «zweitschwerste» Land hinter den USA.
Die aus mexikanischen Akademiker*innen und Aktivist*innen bestehende «Allianz für gesunde Ernährung» sieht die Hauptursache der Übergewicht-Epidemie in einem «beschleunigten Verfall der Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung», der sich einerseits in einem Rückgang des Konsums von Früchten, Gemüse, Getreide und Hülsenfrüchten äussere und andererseits in einer «exponentiellen Zunahme» des Konsums von raffiniertem Mehl, Softdrinks und «allgemein von hoch verarbeiteten Lebensmitteln und Getränken». «Ultraverarbeitete Lebensmittel», in Englisch «ultra-processed foods», sind industriell hergestellte Produkte, die in der Regel kaum oder gar keine Vollwertkost enthalten: Sie bestehen hauptsächlich aus Substanzen, die aus Lebensmitteln extrahiert werden – Fette, Öle, Stärken, Zucker – und sind oft mit künstlichen Farb- und Aromastoffen oder Stabilisatoren versetzt.
Der Zusammenhang zwischen dem Konsum dieser Produkte und Übergewicht, Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen und Krebs ist hinlänglich belegt. 214 Kilogramm dieser «ultra-processed foods» wurden in Mexiko im Jahr 2013 pro Kopf verkauft. Weltweit lagen nur die USA, Kanada und Deutschland vor Mexiko.
Dr. Hugo López-Gatell, Epidemiologe und beim mexikanischen Gesundheitsministerium für Prävention und Gesundheitsförderung zuständig, sagte vor zwei Jahren an einer Pressekonferenz, im Jahr 2018 sei in Mexiko die Hälfte aller Todesfälle auf Erkrankungen zurückzuführen gewesen, die mit einer schlechten Ernährung zusammenhängen. Auf Anfrage von Public Eye bekräftigt er: «Die Hauptursache der Adipositas-Epidemie in Mexiko ist das Überangebot von ultraverarbeiteten Produkten. Sie machen mittlerweile den grössten Bestandteil der mexikanischen Ernährung aus.»
Fett machende Deregulierung
Als Anfang der unheilvollen Entwicklung hin zu einer immer ungesünderen Ernährung der mexikanischen Bevölkerung wird oft die Unterzeichnung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA mit den USA und Kanada im Jahr 1994 genannt. Doch gemäss López-Gatell hatte in Mexiko bereits in den 1980ern eine «Transformation hin zum Neoliberalismus, zur Deregulierung und damit auch zu einer Schwächung des Gesundheitsschutzes» eingesetzt. Unter der Prämisse von «Entwicklung, Wohlstand und Wachstum» sei diese «bewusste Deregulierung» bis vor wenigen Jahren konsequent weitergetrieben worden.
2014 unternahm das Land erste Versuche, dieser Bedrohung für die öffentliche Gesundheit entgegenzutreten: Mexiko führte einerseits eine Zuckersteuer auf Süssgetränke ein, andererseits ein obligatorisches Kennzeichnungssystem für Fertigprodukte: Auf deren Verpackung waren fortan der Gehalt von Zucker, Salz, Kalorien und gesättigten Fetten aufgelistet – ergänzt durch eine Angabe, welcher Anteil einer empfohlenen Tageszufuhr damit gedeckt würde. Der Verband der Konsumgüterindustrie ConMexico, in dem Nestlé aktiv mitmischt, hatte jedoch dafür gesorgt, dass die Referenzwerte höchst industriefreundlich bestimmt wurden. Und das nationale Gesundheitsinstitut INSP kam in einer 2016 publizierten Studie zum Schluss, dass sowieso lediglich ein Fünftel der Bevölkerung die Hinweise überhaupt beachtete. Aufgrund der Resultate sprach sich das Institut dafür aus, dass alternative Labels in Betracht gezogen werden sollten, die «von einem breiten Bevölkerungskreis verstanden und genutzt würden».
Das Vorbild Chile
Das Vorbild fand sich gut 6000 Kilometer südöstlich. Chile hatte im Sommer 2012 ein Gesetzesvorhaben verabschiedet, das auf drei Pfeilern fusste. Erstens schwarze Warnhinweise in der Form eines Stoppschilds mit der Botschaft «Alto en…»: hoher Gehalt von Zucker, Salz, gesättigten Fetten und Kalorien. Zweitens ein Verbot, mit Warnhinweisen versehene Produkte in der Grundschule zu verkaufen. Und drittens Vorschriften, die verhindern sollen, dass für diese Produkte an Minderjährige gerichtete Werbung geschaltet wird.
In Anspielung an einen beliebten Schokoladeriegel von Nestlé wurde das Gesetz im Volksmund «Ley del Súper Ocho» getauft. Gemäss Nestlé werden in Chile jede Sekunde drei dieser «Super 8» verzehrt. Nun also sollten all diese ikonischen Riegel und überhaupt ein Grossteil des Nestlé-Sortiments mit schwarzen Warnhinwiesen versehen werden. Das erschien dem Konzern aus Vevey offenbar dermassen bedrohlich, dass er die offizielle Schweiz um Unterstützung bat. Konkret: Das SECO, das unter anderem die Aufgabe hat, die «Interessen des Wirtschaftsstandorts Schweiz im Ausland» zu vertreten.
Am 22. März 2013 versandte das SECO aus Bern einen Brief an die chilenischen Behörden. Er findet sich – wie die eingangs zitierten Mails – in Dokumenten, die die Sendung «Temps Présent» des Westschweizer Fernsehens RTS letztes Jahr gestützt auf das Öffentlichkeit erhalten hat – und daraufhin erstmals Licht auf das Nestlé-Lobbying gegenüber den Schweizer Behörden warf.
Die Krux mit dem Codex
Adressiert ist das Schreiben an die «TBT-Kontaktstelle» Chiles. «TBT» steht für «Technical Barriers to Trade», deutsch: technische Handelshemmnisse. Das 1995 mit der Gründung der Welthandelsorganisation WTO ins Leben gerufene TBT-Abkommen setzt Rahmenbedingungen, die verhindern sollen, «dass technische Vorschriften den Handel negativ und unverhältnismässig beeinträchtigen». In diesem Sinne bittet die Schweiz die chilenischen Behörden darum, aufzuzeigen, wie sie zum Schluss gekommen seien, «dass die vorgeschlagene Änderung zum Schutz der menschlichen Gesundheit notwendig ist». Zudem möchte die Schweiz wissen, «ob Chile weniger handelsbeschränkende Massnahmen in Betracht gezogen» habe.
Als zweites führt die Schweiz den Grundsatz ins Feld, dass für die Erarbeitung neuer Vorschriften auf bestehende internationale Standards abgestellt werden soll. Den Standard bildet in diesem Fall der «Codex Alimentarius»: eine Sammlung von Normen für Lebensmittelsicherheit und -qualität, herausgegeben von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO und der Weltgesundheitsorganisation WHO. Der Codex lege keine Höchstwerte für bestimmte Nährstoffe fest. Deshalb würde man gerne erfahren, was Chile «dazu motiviert hat, ein Etikett mit einer negativen Botschaft («Hoher Gehalt von…») zu wählen», und wie die vorgesehenen Bestimmungen mit den Codex-Leitlinien vereinbar seien.
Nun muss man wissen: Die Frage, ob der Codex Länder tatsächlich daran hindert, eigene Warnsysteme zu entwickeln, wurde auf internationalem Parkett eingehend behandelt. Die Pan American Health Organization PAHO, der Amerika-Ableger der WHO, kommt in einem 2020 veröffentlichten Bericht zum Schluss: keineswegs. Die Diskussion und Entwicklung jedes Codex-Textes basiere auf den Erfahrungen einzelner Länder. «Das heisst, der Codex erwartet von den Mitgliedsländern, dass sie aktiv werden.» Länder hätten das Recht, Massnahmen zu ergreifen, um «die öffentliche Gesundheit zu schützen und die Lebensmittel- und Ernährungssicherheit ihrer Bevölkerung zu gewährleisten» – und könnten dabei auch «über die Codex-Leitlinien hinausgehen».
Und selbst die Schweiz, die im Komitee des Codex’ vom Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV vertreten wird, stellte sich dort im Herbst 2021 auf den Standpunkt, es sollte den Ländern «auf der Grundlage ihres nationalen Kontextes und Erkenntnissen, was bei den Verbrauchern am besten ankommt, freistehen», sich für das eine oder andere Kennzeichnungssystem zu entscheiden.
Fruchtlose Einflussnahmen
Drei Monate nach dem Versenden des Briefes interveniert das SECO im Sommer 2013 erstmals auch an einem Treffen des TBT-Komitees. Dieses versammelt sich drei Mal jährlich in Genf, um «spezifische Handelsprobleme» zu besprechen. Man habe «einige Bedenken» bezüglich des Entwurfs und fordere Chile zudem auf, den «freiwilligen Ansatz bezüglich der Angabe von Nährwertgrenzwerten auf Produkten zu prüfen», der in der Schweiz angewandt werde. In derselben Sitzung deponiert die Schweiz ihre Bedenken zu einem weiteren Gesetzesentwurf: dem «Gesetz für gesunde Ernährung» aus Peru, das ebenso wie das chilenische Pendant schwarze Warnhinweise vorsieht.
Ein Jahr später, im Juni 2014, nimmt die Schweiz an einem TBT-Komitee-Treffen einen weiteren Labelling-Ansatz ins Visier: das Vorhaben von Ecuador, mittels Farbkennzeichnung anzugeben, ob ein verpacktes Lebensmittel einen hohen, mittleren oder tiefen Gehalt eines bestimmten Inhaltsstoffes aufweist. Das System würde bestimmte Produkte «in unfairer Weise diskriminieren» und sei nicht geeignet, den Konsument*innen «fundierte Informationen zu vermitteln», moniert die Schweiz, und argumentiert zudem erneut damit, dass der Codex keine Nährstoffschwellenwerte festlege.
Doch es hilft nichts. 2014 bringen die Mitgliedstaaten der PAHO einstimmig einen Fünfjahresplan zur Verhinderung von Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen auf den Plan. Ein festgelegtes Ziel darin: die Entwicklung und Umsetzung von Normen für Warnhinweise auf der Vordersite von Verpackungen, die es ermöglichen, «Produkte mit hohem Energiegehalt und wenig Nährstoffen schnell und einfach zu erkennen». Ende 2014 setzt Ecuador sein Kennzeichnungssystem in Kraft. Und in Chile schickt sich nach der (erneuten) Wahl von Michelle Bachelet die neu geformte, sozialistische Regierung an, gegen massiven Widerstand der Industrie und insbesondere des von Nestlé und fünf weiteren Firmen ins Leben gerufenen Interessensverbands AB Chile eine griffige Verordnung auf den Weg zu bringen. Trotz der wiederholten Interventionen der Schweiz, der EU, der USA und weiterer Länder auf WTO-Ebene, trotz aller Bemühungen der Industrie, die Gesetzgebung zu behindern: Im Juni 2016 tritt das «Ley del Súper Ocho» in Chile in Kraft.
Pablo Devoto, CEO von Nestlé Chile, beklagt im April 2017 in einem Interview, die Warnhinweise klärten die Verbraucher*innen nicht auf, sondern machten ihnen lediglich Angst. «Als Land», sagt er dann, so als wäre er chilenischer Präsident, «müssen wir von der Alarmierung zur Aufklärung kommen». Bei Nestlé habe man nicht den Eindruck, dass sich durch die Verordnung die Konsumgewohnheiten «definitiv und radikal» geändert hätten. Wissenschaftliche Studien kommen zu anderen Schlüssen. Ein von drei Universitäten durchgeführtes Monitoring zeigt im Juni 2019, dass der Verkauf von mit Warnhinweisen versehenen Produkten deutlich zurückgegangen ist: bei gezuckerten Getränken um 25 Prozent, bei Frühstückscerealien gar um 36 Prozent.
Auch in Peru zeitigen die Lobby-Bemühungen – angeführt vom Industrieverband Sociedad Nacional de Industrías, bei dem Nestlé Mitglied ist – nicht die gewünschte Wirkung. Im Sommer 2019 setzt auch Peru sein «Gesetz für gesunde Ernährung» in Kraft – inklusive obligatorischer, achteckiger Warnhinweise nach dem Vorbild Chiles. Und etwa zur selben Zeit spricht sich auch in Mexiko der Gesundheitsausschuss der Abgeordnetenkammer für «einfach verständliche», «wahrheitsgemässe» und «sichtbare» Warnhinweise auf der Vorderseite von verpackten Lebensmitteln aus.
Die «Norma Oficial Mexicana 051», kurz NOM-051, ist geboren. Sie sieht fünf schwarze Stoppschilder vor, mit dem Schriftzug «Exceso», also «Übermass» – an gesättigten Fetten, Kalorien, an Salz, an Transfetten, an Zucker. Zudem soll – nach dem Vorbild Chiles – verboten werden, für mit Warnhinweisen versehene Produkte mit Comic-Figuren, Spielzeugen oder Berühmtheiten zu werben. Für Nestlé gehts nun ans Eingemachte: Während der Konzern in Chile und Peru je rund eine halbe Milliarde Schweizerfranken Umsatz pro Jahr erzielt, waren es in Mexiko im Jahr 2019 fast drei Milliarden Franken.
Was auf dem Spiel stand
Um uns eine Vorstellung davon machen zu können, was für Nestlé auf dem Spiel stand, haben wir uns beim renommierten Marktforschungsinstitut Euromonitor Marktdaten besorgt. Sie zeigen, welcher Umsatz im Jahr 2019 in Mexiko im Einzelhandel mit welchen Marken und Produkten von Nestlé erzielt worden ist. Zwar wissen wir nicht exakt, welcher Bruchteil des Umsatzes als Gewinn für den Einzelhandel abfiel. Doch die Zahlen erlauben es uns, zumindest eine Schätzung anzustellen, wie gross das Nestlé-Geschäft mit Produkten war, die einen Stempel erhalten sollten – und schliesslich auch erhielten. Denn, so viel vorneweg: Die NOM-051 trat im Oktober 2020 tatsächlich in Kraft.
Mit Nestlé-Produkten aus den Kategorien «Schokolade und Confiserie» (rund 270 Millionen Franken), Eiscreme (rund 150 Millionen) und «Getränke in Pulverform» (rund 140 Millionen) sind demnach 2019 im mexikanischen Einzelhandel über eine halbe Milliarde Schweizerfranken Umsatz erzielt worden. Jedem einzelnen Produkt aus diesen Kategorien drohte mindestens ein Warnhinweis.
Hinzu kommen mehrere Milchproduktmarken, von denen heute sämtliche Artikel mit Warnhinweisen versehen sind: Mit ihnen wurden 2019 im Einzelhandel rund 270 weitere Millionen umgesetzt. Und schliesslich müssen noch jene Produkte von Marken wie Nescafé, Maggi oder aus dem Cornflakes-Sortiment hinzugerechnet werden, die mit Warnhinweisen versehen sind. Gemäss unseren Berechnungen kommen wir für Produkte dieser Marken noch einmal auf rund 340 Millionen Franken. Heisst in der Summe: Der Einzelhandel-Verkaufswert von Nestlé-Produkten, denen ein oder mehrere Warnhinweise «drohten», belief sich im Jahr 2019 in Mexiko auf über eine Milliarde Franken. Nestlé teilt auf Anfrage mit: «Weniger als 30 % der Produkte, die wir in Mexiko verkaufen, sind mit Warnhinweisen versehen. Wir konzentrieren uns weiterhin darauf, unser Angebot an schmackhaften und gesunden Produkten zu erweitern.»
Die Schweiz interveniert
Darum also geht’s, als am 15. November 2019 ein Nestlé-Mitarbeiter (oder eine Mitarbeiterin, wegen der Anonymisierung in den Emails wissen wir das nicht) eine Mail an eine Person beim SECO schreibt. Es sei «eine grosse Freude» gewesen, sich letzte Woche in Vevey wiederzusehen, steht im Mail. Wie besprochen finde sich im Anhang der Mail «eine Zusammenfassung und Kernaussagen zu den beiden dringenden Problemen, mit denen wir in Mexiko zu tun haben». Das erste Problem: Verbote von Einweg-Plastiksäcken respektive -flaschen, gegen die sich Nestlé letztlich vergeblich wehrte. Das zweite Problem: natürlich, die NOM-051. «Wir würden uns über Ihre Hilfe und Ihre Empfehlungen für unsere Lobbyarbeit freuen», steht im Schreiben.
Beim SECO nimmt man die Angelegenheit offenbar ernst. Gerade einmal 17 Minuten dauert es, bis die Antwortmail auf dem Nestlé-Server eingeht. Der oder die SECO-Mitarbeitende schreibt: «Vielen Dank dafür». Man erwäge, nächste Woche zu intervenieren. Und dann: «Darf ich Sie fragen, an wen in Mexiko sich die in Erwägung gezogene Intervention richten muss, da Sie diese Entwicklungen genauer verfolgt haben als wir.» Bevor man interveniere, werde man sich wieder mit Nestlé in Verbindung setzen und darüber informieren, «was wir zu wem in Mexiko sagen werden».
«Unnötige Ängste»
Schauen wir uns jetzt erst den Inhalt dieses Memorandums an, das Nestlé dem SECO geschickt hat. Die von Mexiko vorgesehene Norm sei «viel restriktiver» als das chilenische Gesetz, weil es die achteckigen Warnhinweise mit einem restriktiveren Nährwertprofil verbinde. Zudem sehe der Vorschlag grössere Einschränkungen für die Bewerbung und den Verkauf «gelabelter» Produkte vor. Nestlé unterstütze Kennzeichnungssysteme, die darauf abzielten, den Konsument*innen mit «praktischen, relevanten und rasch verständlichen Nährwertinformationen» zu helfen, «gesündere Ernährungsentscheidungen» zu treffen. Die mexikanische Norm werde diesem Ziel jedoch nicht gerecht.
Denn abgesehen von dem «zu radikalen und restriktiven» Nährwertprofil, das für die Bestimmung der Schwellenwerte benutzt werden, sollten Warnhinweise, wie sie Mexiko vorsehe, grundsätzlich «vermieden» werden. Denn diese seien weder im Codex vorgesehen noch mit internationalen Standards kompatibel und könnten bei den Konsument*innen leicht «unnötige Ängste» wecken. Und das Verbot, gelabelte Produkte mit Comicfiguren oder Spielsachen zu bewerben, verstosse gegen mexikanisches wie internationales Recht des geistigen Eigentums. In den Tagen, bevor die Mail aus Vevey ans SECO verschickt wird, ist Nestlé auch in Mexiko selbst in die Offensive gegangen. Am 5. November hat der Konzern seine Stellungnahme zur Regulierung eingereicht, in der er prognostiziert, die vorgesehenen Warnhinweise würden «nicht die beabsichtigte Wirkung haben». Die Bevölkerung werde «weiterhin ungesunde Produkte konsumieren, obwohl sie sich deren gesundheitlicher Auswirkungen bewusst ist». Das tatsächliche Problem seien «nicht die Informationen, die der Konsument zu den Produkten erhalte», sondern «der Konsument selbst, der nicht genügend gebildet ist». Deshalb brauche es nicht Warnhinweise, sondern Informationskampagnen. Eine Woche später wendet sich Nestlé mit einem Schreiben, das die Konsument*innenorganisation «El Poder del Consumidor» öffentlich macht, an seine Zulieferer. Man bitte sie, gegenüber den mexikanischen Behörden ihre «Besorgnis» über den Norm-Entwurf kundzutun, der vorsehe, dass gewisse Fertigprodukte als «schädlich für die Gesundheit» eingestuft würden, «mit dem Ziel, die Mexikaner von deren Konsum abzubringen». Eine Intervention der Zulieferer sei «unabdingbar», um zu verhindern, dass «zu einem Zeitpunkt, in dem die nationalen Wirtschaftsaussichten herausfordernd sind», Arbeitsplätze zerstört würden. Alejandro Calvillo, Direktor von El Poder del Consumidor, bezeichnet diese Aufforderung an die Zulieferer auf Anfrage als «ein Versuch, die Entwicklung der Norm zu bremsen». Nestlé sei einer jener Konzerne gewesen, die sich am vehementesten gegen die neue Norm gestellt hätten. Die zuständige Person kommt in ihrer Analyse, die sie tags darauf abteilungsintern in die Runde schickt, zu folgenden Schlüssen: Tatsächlich fehle für die von Mexiko festgelegten Schwellenwerte «eine wissenschaftliche Begründung». Diesen Punkt sollte man aufnehmen, wird geraten. Zudem könne die Schweiz auf den Codex-Standard verweisen, «ähnlich wie anlässlich der Intervention im TBT im Zusammenhang mit Chile», sowie auf «eigene Erfahrungen» mit der Einführung eines Labels «auf einer freiwilligen Basis und unter Einbezug der relevanten Stakeholder». Kehrtwende an der Ampel Dieser letzte Punkt wird tags darauf erneut aufgenommen. Eine Person schreibt in die Runde: «Für die weitere Bearbeitung dieser Anfrage ist wichtig zu bedenken, dass wichtige Lebensmittelhersteller und -importeure, darunter auch Nestlé (Schweiz), angekündigt haben, das vereinfachte Nährwertkennzeichnungssystem ‹Nutri-Score› in der Schweiz einzuführen.» Dieser Ansatz unterscheide sich vom mexikanischen insbesondere darin, dass es «sich hierbei um eine freiwillige Massnahme handelt». Tatsächlich hatte Nestle im Juni 2019 erklärt, man unterstütze «den Nutri-Score als bevorzugtes Nährwertkennzeichnungssystem für Lebensmittel und Getränke in Kontinentaleuropa». Dies sei ein «Bekenntnis zu guter Ernährung und einer informierten Essenswahl». Es war eine Kehrtwende: Jahrelang hatte Nestlé zuvor – zuweilen im Verbund mit weiteren Konzernen – versucht, die Lebensmittelampel erst zu verhindern, dann zu verwässern und zu verzögern.
Was also veranlasste nun den Konzern, dessen Management 2021 intern selbst einräumte, dass über 60 Prozent seiner Produkte ungesund sind, sich für ein Ampelsystem einzusetzen? Die französische Ernährungswissenschaftlerin Mélissa Mialon sagt auf Anfrage: «Die Einführung von Warnhinweisen in Lateinamerika ist wohl einer der Hauptgründe für Nestlés Umschwenken beim Nutri-Score.» Denn im Vergleich zu schwarzen Warnhinweisen hat die Ampel für Nestlé eindeutige Vorteile: Erst einmal sieht eine farbenfrohe Skala deutlich schmucker aus als schwarze Stoppschilder.
Wichtiger noch: Während das in Mexiko und Chile angewandte System ein Übermass eines gewissen Stoffes «brandmarkt», können beim Nutri-Score negative mit positiven Nährwerteigenschaften wettgemacht werden. Heisst: Muss ein Hersteller beim «südamerikanischen» System den Zucker-, Salz- oder Fettgehalt reduzieren, damit er um ein schwarzes Stoppschild auf der Verpackung herumkommt, kann der Nutri-Score durch eine Zugabe von positiv bewerteten Nährstoffen wie Ballaststoffe oder Proteine in den grünen Bereich gedrückt werden.
Die PAHO, von der wir es schon hatten, verglich Ende 2020 die schwarzen Warnhinweise mit fünf weiteren Labelling-Systemen, unter anderem mit «Zusammenfassenden Systemen» wie dem Nutri-Score. Sie kam zum unmissverständlichen Schluss: «Eindeutige Warnungen auf der Vorderseite der Verpackung von Lebensmitteln, die zu viel Fett, Zucker und Natrium enthalten, sind der beste Weg, um Menschen dabei zu helfen, die ungesundesten Einkäufe zu vermeiden.» Wenn wie beim Nutri-Score positive und negative Eigenschaften eines Produktes miteinander verrechnet würden, werde «der Zweck (der Kennzeichnung) verfälscht, die Wirkung abgeschwächt und die Verwirrung unter den Konsumenten vergrössert».
Im Schreiben, welches das SECO schliesslich am 9. Dezember 2019 an die mexikanischen Behörden verschickt, erinnert die Schweiz dennoch daran, dass sich in der Schweiz «grosse Lebensmittelhersteller – und importeure» bereit erklärt hätten, auf «rein freiwilliger Basis» den Nutri-Score einzuführen. Man möchte Mexiko «höflich fragen», ob auch «weniger handelseinschränkende Massnahmen» in Betracht gezogen worden seien. Ansonsten repetiert das Schreiben im Wesentlichen die Punkte, die Nestlé per Memorandum übermittelt hat: Man sei besonders interessiert zu erfahren, auf welcher Grundlage die Schwellenwerte für die Warnhinweise festgelegt worden seien. Warum Mexiko negative Warnhinweise einführen wolle, obwohl diese im Codex nicht vorgesehen seien und Konsument*innen Glauben machen könnten, bestimmte Lebensmittel sollten «gänzlich vermieden werden, obwohl sie Teil einer ausgewogenen Ernährung sein können».
Mexiko bleibt standhaft
Anfang 2020 reicht die Schweiz gemeinsam mit der EU, den USA und weiteren Ländern beim TBT-Komitee einen «Specific Trade Concern» ein – eine Meldung, dass man bei der von Mexiko vorgesehenen Gesetzgebung «spezifische Handelsprobleme» sehe. Im Februar 2020 interveniert der SECO-Mitarbeiter am TBT-Treffen an der Seite der EU und der USA, wiederholt die im Schreiben geäusserten Bedenken. Und kurz sieht es so aus, als hätte der geballte Widerstand gegen das mexikanische Vorhaben tatsächlich Erfolg: Aufgrund der Beschwerde eines Industrieverbandes suspendiert ein mexikanisches Gericht Ende Februar das Inkrafttreten der neuen Norm.
Doch nur wenige Tage später wird der Entscheid von der nächsthöheren Instanz schon wieder kassiert. «Leider ist unser Stand, dass die NOM Ende März/Anfang April veröffentlicht werden könnte, ohne grosse Änderungen gegenüber dem Entwurf, den wir gesehen haben», schreibt die Nestlé-Person am 12. März ans SECO, nachdem sie sich noch einmal artig für die «wertvolle Hilfe in dieser wichtigen Angelegenheit» bedankt hat.
Am 27. März wird die NOM-051 im mexikanischen Amtsblatt publiziert, ohne dass an den Bestimmungen noch etwas geändert worden wäre. Am 03. April meldet sich das SECO noch einmal bei Nestlé. Man habe von «US-Quellen» erfahren, dass gemäss der dortigen Industrie das Inkrafttreten der Norm wegen «Covid-19 und der derzeit hohen Nachfrage nach Lebensmitteln» verschoben werden sollte. «Teilt Nestlé diese Einschätzung/Besorgnis?». Offenbar schon. Am nächsten TBT-Treffen vom Mai fordert die Schweiz die mexikanischen Behörden jedenfalls «mit einer gewissen Dringlichkeit» auf, das Inkrafttreten der Änderungen «auf einen späteren Zeitpunkt» zu verschieben. Die USA und die EU werden konkreter: Sie fordern einen Aufschub von zwei Jahren.
Doch wie Sie schon wissen: Am 1. Oktober 2020 tritt die NOM-051 in Kraft. Die PAHO bezeichnet die Norm als «die fortschrittlichste und umfassendste Regelung weltweit». Dass die Schweiz das Land am nächsten TBT-Meeting von Ende Oktober noch einmal auffordert, die Norm zu «überprüfen, um eine angemessene Versorgung des mexikanischen Marktes mit Lebensmitteln und Getränken insbesondere während der COVID-19-Pandemie sicherzustellen», ändert nichts mehr daran. Offenbar beginnen die Lebensmittelkonzerne aufgrund der neuen Gesetzgebung rasch damit, die Rezepturen ihrer Produkte anzupassen. Und die mexikanischen Behörden scheinen demonstrieren zu wollen, dass sie es mit der Umsetzung der neuen Norm ernst meinen: Im April ziehen sie über 10 000 Produkte von 80 Marken aus dem Verkehr, die nicht korrekt beschriftet sind – darunter zwei Sorten Cornflakes von Nestlé.
Die Reaktionen
Nestlé beantwortet die konkreten Fragen von Public Eye (etwa bezüglich der «Zusammenarbeit» mit dem SECO, zur Entwicklung des Umsatzes seit Einführung der Warnhinweise oder zur Kehrtwende in Sachen Nutri-Score) nicht einzeln, sondern mit einem summarischen Statement. Es sei Nestlé «ein Anliegen, die Menschen bei einer ausgewogenen Ernährung zu unterstützen», teilt Christoph Meier, «Global Head of Corporate Media Relations», mit. Man sei aber der Meinung, dass die «besondere Form der Kennzeichnung mit Warnhinweisen», wie sie Chile und Mexiko implementiert haben, «nicht dabei hilft, gesündere Optionen in einer bestimmten Produktkategorie zu wählen».
Beim Nutri-Score dagegen hätten Auswertungen in Europa gezeigt, dass dieser «den Konsumenten hilft, gut informierte Entscheidungen zur Ernährung zu treffen». Aber: «Wir pflegen einen transparenten und konstruktiven Austausch mit Behörden und Stakeholdern und halten uns selbstverständlich streng an die Kennzeichnungsvorschriften in beiden Ländern.»
Das Staatssekretariat für Wirtschaft nimmt relativ ausführlich Stellung, weicht in Bezug auf gewisse Aspekte aber auch auffallend aus. Auf die Frage, ob die Interventionen in Mexiko und Chile auf Bitte von Nestlé hin erfolgten, schreibt das Staatssekretariat, es werde «in der Regel durch die interessierte Anspruchsgruppen und Wirtschaftsteilnehmer auf WTO-Notifikationen anderer WTO-Mitglieder aufmerksam gemacht.» Diese Anliegen würden daraufhin jeweils überprüft, und nur bei «begründeten Zweifeln und Fragen» werde «ein schriftlicher Kommentar oder eine Intervention im TBT-Komitee zusammen mit den anderen WTO-Mitgliedern angestrebt».
Ob es üblich ist, dass sich das SECO von privaten Akteuren bezüglich des geeigneten Adressaten einer Intervention beraten lässt? «Die Schweiz verfügt über entsprechende Vertretungen im Ausland, um die bilateralen Beziehungen zu pflegen und in Kontakt mit Vertretern unserer Partnerländer zu treten.» Ob die Intervention des SECO gegenüber Mexiko mit dem EDA und/oder dem BLV abgesprochen gewesen sei? «Im WTO TBT Komitee wird die Position der Schweiz vertreten, welche gegebenenfalls mit den jeweiligen zuständigen Ämtern abgestimmt wird.» Die verschiedenen Bundesstellen arbeiteten «eng zusammen und koordinieren ihre Bemühungen». Zwischen der Position der Schweiz im Rahmen des Codex (gemäss der es den Ländern freistehen sollte, welches Kennzeichnungssystem sie wählen) und der Schweizer Position im WTO TBT-Komitee schliesslich besteht laut SECO «kein Widerspruch». Fortsetzung folgt bestimmt
2021 hat auch Uruguay ein Gesetz mit Warnhinweisen implementiert. Brasilien und Kolumbien haben entsprechende Gesetze verabschiedet, in Kanada schlägt das Gesundheitsministerium ein solches vor, und zuletzt wurde im März 2022 in Argentinien das «Gesetz zur Förderung einer gesunden Ernährung» publiziert – inklusive schwarzer, achteckiger Warnhinweise.
In der Schweiz sagte derweil die abtretende Staatssekretärin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch im Mai an einer Diskussionsrunde ganz unumwunden: «Eine Hauptaufgabe meiner letzten elf Jahre als SECO-Direktorin war es, mehr Regulierung abzuwehren.» Dr. Hugo López-Gatell, der Experte aus dem mexikanischen Gesundheitsministerium, sagt dazu:
«Unsere Regierung hat sich vorgenommen, die politische Macht von der wirtschaftlichen Macht zu trennen. Wenn Länder wie die Schweiz die Interessen ihrer Konzerne verteidigen wollen, sollen sie das im Rahmen ihrer nationalen Gesetze oder in internationalen Gremien tun. Aber wir werden niemals zulassen, dass ein anderes Land oder ein ausländischer Konzern uns unsere Gesundheitspolitik diktiert.»