Regenerierung der Biodiversität auf unseren Bauernhöfen, in unseren Wäldern und unserem Darmmikrobiom für Null Hunger und Gesundheit für alle 

Mutter Erde ist selbstorganisiert. Mutter Erde hat die Vielfalt geschaffen und erhält sie.

Von Dr. Vandana Shiva

Der Kolonialismus hat Mutter Erde – Vasundhara, Pachamama, Terra Madre – in Terra Nullius, „leere Erde“, in Niemandsland verwandelt. Unsere lebendige, üppige Erde, die reich an Biodiversität und kultureller Vielfalt ist, wurde auf einen leeren Planeten reduziert. Den Völkern in den kolonisierten Ländern wurde ihre Menschlichkeit abgesprochen, um die Aneignung ihres Bodens, ihrer Heimat und ihrer Ressourcen zu rechtfertigen. Die biologische Vielfalt der Erde verschwand in den Köpfen derjenigen, die die Erde zu Privateigentum und zu einem Rohstoff machten, der abgebaut werden kann.

Die koloniale Monokultur des Denkens trennte die Menschen vom Land, die Wälder von den Bauernhöfen, das Saatgut von der Nahrung, die Nahrung von der biologischen Vielfalt, der Gesundheit und der Ernährung, um durch Extraktivismus (Raubbau) die Gewinne zu maximieren. Die Völker der kolonisierten Kulturen und die biologische Vielfalt der Pflanzen und Tiere wurden zu Objekten gemacht, versklavt und in Eigentum umgewandelt, das es zu besitzen galt.

Das kolonial-industrielle Paradigma konnte Vielfalt und Selbstorganisation nicht dulden und definierte „wild“ als einen Ort oder eine Region, die von Menschen unbewohnt und unkultiviert ist.

Das ist eindeutig eine mangelhafte Definition. Die Orte und Ökosysteme, die heute als „wild“ gelten, sind dort, wo indigene Völker die Natur, das Land und die biologische Vielfalt schützen.

Auf 22 % des Landes, das noch in der Obhut der ursprünglichen Hüter und Wächter liegt, schützen indigene Völker 80 % der globalen biologischen Vielfalt.
https://www.nationalgeographic.com/environment/article/can-indigenous-land-stewardship-protect-biodiversity-

Wildnis ist nicht die Abwesenheit von Menschen, sondern die liebevolle, mitfühlende Anwesenheit von fürsorglichen Gemeinschaften.

Wildnis ist das Gegenteil von kolonisierten, eingehegten, kontrollierten und ausgebeuteten, manipulierten Monokulturen und von Uniformität.

Wildnis ist dort, wo Menschen Partner der Natur sind, die Biodiversität und kulturelle Vielfalt durch Kokreativität fördern und die Integrität und den ökologischen Raum aller Wesen respektieren.

Wildnis ist selbstorganisiert und selbstreguliert. Wild bedeutet, als Teil der Natur und nicht in der Illusion zu leben, dass wir von der Natur getrennt sind und sie beherrschen und besitzen. Wild bedeutet, wie die Natur zu leben.

Wilde Gesellschaften und Kulturen respektieren die Integrität aller Lebewesen, die Souveränität aller Kulturen und Völker und fördern das Wohlergehen Aller durch Kooperation, Souveränität, Gegenseitigkeit und Symbiose. Da das Netz des Lebens ein Nahrungsnetz ist, ist die Auswilderung der Nahrung der erste und wichtigste Schritt zur Wiederherstellung der Wildnis der Erde, zur Wahrung ihrer Rechte, zur Neubelebung ihrer Artenvielfalt und ihrer selbstorganisierten Freiheit.

Um die biologische Vielfalt zu regenerieren und mehr Arten und mehr Menschen mit Nahrung zu versorgen, damit niemand hungert, unterernährt oder chronisch krank ist, müssen wir unser Denken, unsere Lebensmittel und unsere Ernährungssysteme umkrempeln.

Wie Albert Howard zur indischen und chinesischen Landwirtschaft in seinem Buch „Ein landwirtschaftliches Testament“ schreibt:

„In der Agrikultur Asiens sehen wir uns mit einem System bäuerlicher Landwirtschaft konfrontiert, das sich im wesentlichen schon früh stabilisiert hat. Was heute auf den kleinen Feldern in Indien und China geschieht, geschah auch vor vielen Jahrhunderten. Es ist nicht nötig, historische Aufzeichnungen zu studieren oder die Überreste der megalithischen Landwirtschaft in den Anden zu besichtigen… Die landwirtschaftlichen Praktiken des Orients haben die höchste Prüfung bestanden – sie sind fast so beständig wie die des rivalisierenden Waldes, der Prärie oder des Ozeans.“

Landwirtschaft wie der Wald zu betreiben, bedeutet Wildnis wieder herzustellen

Die koloniale Forstwirtschaft trennte die Wälder von den Bauernhöfen und reduzierte sie auf Holz-Monokulturen, ohne Menschen, ohne Nahrung. Heilige Wälder verschwanden. Gemeinschaftswälder verschwanden. Die Artenvielfalt und ihre ökologischen Funktionen verschwanden.

Wenn keine Einnahmen und Gewinne aus dem Land gezogen werden konnten, wurde es von den Briten zu Ödland erklärt – obwohl die Wälder reich an Biodiversität waren, die lokalen Gemeinschaften von der Nahrung aus den Wäldern und den Gewässern lebten und die Wälder lebenswichtige ökologische Funktionen erfüllten, zum Beispiel Schutz vor Wirbelstürmen boten. Die Mangrovenwälder der Sundarbans in Indien wurden in britischen Verzeichnissen als Ödland aufgeführt.

Bauernhöfe, auf denen es mehr Bäume als in den Wäldern gab, wurden zur Gewinnmaximierung in Monokulturen von Rohstoffen der Grünen Revolution umgewandelt.

Die Pflanzen wurden so manipuliert, dass sie sich zunächst an die äußere Zufuhr von chemischen Düngemitteln anpassten, um dann gentechnisch verändert zu werden, so dass sie zu Pestizidfabriken mutierten (Bt-Toxin-GVOs) oder gegen Herbizide resistent wurden (Roundup-resistente GVOs). Beide Anwendungen sind gescheitert. Anstatt Schädlinge zu bekämpfen, haben Bt-Pflanzen Superschädlinge hervorgebracht. Anstatt Unkraut zu bekämpfen, haben Roundup-resistente Pflanzen Superunkräuter geschaffen.

Alle nachhaltigen Lebensmittelsysteme, ob Wälder, Wiesen oder Bauernhöfe, haben Tiere integriert.

Die Wiederherstellung der Wildnis von Lebensmitteln bedeutet auch, die historische Ungerechtigkeit gegenüber indigenen Völkern und Stammesvölkern rückgängig zu machen. Es bedeutet, Menschen und Lebensmittel zurück in die Wälder und Bäume und Tiere zurück auf die Weiden zu bringen.

Die Wiederherstellung von Wildnis beinhaltet die Wiederentdeckung und Regeneration von Waldnahrung und wilden Lebensmitteln und die Schaffung von Food Forests (essbaren Wäldern). Das bedeutet auch, den Wald nicht zu zerstören.

Es bedeutet auch, Tiere aus Fabriken zu holen und sie wieder auf die Wiesen zu bringen, sie frei laufen zu lassen und sie wieder in landwirtschaftliche Systeme zu integrieren, um die Pflanzen zu düngen, die sie ernähren.

Die Wiederherstellung von Wildnis bedeutet zudem, die Artenvielfalt auf unseren Höfen und in den Wäldern sowie auch in unserem Darmmikrobiom, in unseren Körper und unserem Denken zu regenerieren.

Neun Prinzipien, um unsere Nahrung und die Erde wieder auszuwildern und die Welt zu ernähren:

  1. Wir sind Teil des Netzes des Lebens und leben nicht außerhalb davon. Wir sind Mitglieder der Erdfamilie, andere Arten sind unsere Verwandte. Wir sind nicht die Herren der Erde, wir sind nicht die Besitzer der biologischen Vielfalt. Öko-Apartheid, die Illusion, der Mensch sei von der Erde getrennt, ist die Wurzel der Gewalt gegen die Erde, ihre Artenvielfalt und ihre vielfältigen Kulturen. Die Rückkehr zu unserer Zugehörigkeit zur Erdfamilie in unserem Denken und Leben ist der erste Schritt zur Wiederauswilderung. Es ist ein Schritt, um Frieden mit der Erde zu schließen und gewaltfreie ökologische Zivilisationen zu schaffen.

  2. Das Netz des Lebens ist ein Nahrungsnetz. Nahrung ist die Währung, die durch den Nahrungskreislauf fließt und alles Leben ernährt. Der Nahrungskreislauf ist ein ökologischer Kreislauf, der das Netz des Lebens webt. In einer alten Upanishad heißt es: „Alles ist Nahrung, alles ist die Nahrung von etwas anderem.“

  3. Der Mensch ist Teil des Nahrungsnetzes, als Bewahrer der Artenvielfalt, als Mitschöpfer zusammen mit anderen Arten, als Esser und als Erzeuger. Nahrung macht uns zu Mitgliedern der Erdfamilie, die sich von Mikroorganismen im Boden, von Insekten, Pflanzen und Tieren ernährt.

  4. Jedes Ökosystem ist die Heimat verschiedener Arten. Jedes Ökosystem bietet verschiedenen Arten unterschiedliche Nahrung. Wälder, Bauernhöfe und Wiesen sind durch den Nährstoff- und Wasserkreislauf ökologisch miteinander verbunden und können nicht geteilt und getrennt werden.

  5. Selbstorganisation und Selbstregulierung sind das Prinzip des Lebens und des Wildseins, vom kleinsten Molekül und der kleinsten Zelle bis hin zu Mikroben, Pflanzen, Tieren, Ökosystemen und Mutter Erde selbst.

  6. Biodiversität ist das Organisationsprinzip aller lebenden Systeme und der Wildnis. Biodiversität webt das Netz des Lebens durch gegenseitige Verbindungen und Symbiosen. Biodiversität produziert mehr Nahrung und erhöht die Widerstandsfähigkeit.

  7. Die Gesundheit des Planeten und unsere Gesundheit sind ein und dasselbe. Die Artenvielfalt im Bodenmikrobiom, die Artenvielfalt der Pflanzen, die wir essen, und die Artenvielfalt in unserem Darmmikrobiom sind eine einzige, miteinander verbundene Gesundheit.

  8. Die Auswilderung der Nahrung ist eine Auswilderung der Erde. Je mehr Artenvielfalt wir anbauen, desto bessere Bedingungen schaffen wir für die Erde, um selbst mehr Artenvielfalt zu erzeugen und so den Verlust der Artenvielfalt und das Artensterben aufzuhalten.

  9. Das Klimasystem der Erde wurde von der lebenden Erde selbst durch Photosynthese geschaffen. Der Klimawandel ist eine Folge der Störung des Klimagleichgewichts und der Selbstregulierung der Erde durch den Energiemüll aus fossilen Brennstoffen. Die Auswilderung unserer Nahrung und der Erde ist eine Klimalösung.

 

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Domenica Ott vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!

Weitere Infos zur Autorin gibt es unter www.vandana-shiva.de

 

Der Originalartikel kann hier besucht werden