Die Motive der sogenannten cancel culture mögen ehrenhaft sein, jedoch werden die Probleme, die sie zu bekämpfen versucht, dadurch lediglich größer. Warum eine wahre links-progressive Politik nicht auf cancel culture setzen sollte, diskutiert Florian Maiwald in seinem neuen Beitrag.
(Beitrag vom 28.7.2020)
Als Sisyphos, der König von Korinth, den Zorn der Götter auf sich zog, haben sich diese eine ganz besondere Strafe für ihn ausgedacht. Die Strafe bestand darin, dass Sisyphos immer wieder aufs Neue einen riesigen Felsblock den Berg hochschieben musste, um dann an der Spitze des Berges zu der Erkenntnis zu gelangen, dass der Felsblock wieder runterrollte und die ganze Prozedur von vorne losging. Ein Leben, geprägt durch die Determination des Repetitiven und der Entfremdung jeglicher Zwecksetzungen, hat Sisyphos von nun an begleitet. Lässt sich nicht ein ähnlicher Gedankengang auf das Phänomen der ,,cancel culture“ applizieren? Handelt es sich hierbei nicht ebenfalls um jenes determinierende Element des Repititiven? Indem am laufenden Band gecancelt wird (der Felsblock den Berg hinauf gerollt wird) wird der eigentliche Zweck (ein produktiver Wandel zu einem gerechteren System) effektiv blockiert. Der Felsblock rollt wieder hinunter und der Kampf um mehr Gerechtigkeit beginnt von vorne – ohne jegliches Ergebnis zu erzielen. Denn der derzeitige Kampf um Gerechtigkeit ist ebenfalls – wie die Strafe des Sisyphos – immanenter Bestandteil des Systems.
Ende der Debatte
Vor einigen Wochen haben einige namhafte Intellektuelle – darunter Salman Rushdie, Noam Chomsky und J.K. Rowling – einen
Brief veröffentlicht, in welchem sie für eine liberalere Debattenkultur eintreten. In dem Brief heißt es unter anderem:
Die Kräfte des Illiberalismus nehmen weltweit Fahrt auf und haben in Donald Trump einen mächtigen Verbündeten, der die Demokratie ernsthaft bedroht. Aber Widerstand darf nicht – wie unter rechten Demagogen – zum Dogma werden. Die demokratische Inklusion, die wir wollen, kann nur erreicht werden, wenn wir uns gegen das intolerante Klima wenden, das überall entstanden ist (2020).
Paradoxerweise haben einige
Reaktionen auf den Brief genau das bestätigt, was ebendieser zu kritisieren intendierte. Die Annahme der Unterzeichner, dass unsere gesamtgesellschaftlichen Debatten durch ein zunehmendes Klima der Intoleranz geprägt sind, hat sich durch die Kritiken, die gegen den Brief hervorgebracht wurden, also unmittelbar bestätigt.
Es gibt jedoch auch weitere Fälle anhand derer sich klar verdeutlichen lässt, dass eine derartige Form der Intoleranz Teil unseres gesellschaftlichen Diskurses geworden ist.
Zunächst ließe sich an dieser Stelle der Rücktritt von
James Bennett, dem Ressortleiter der Kommentarseite der
New York Times, erwähnen. Der Rücktritt erfolgte aufgrund massiven Drucks von Bennets Kolleginnen und Kollegen, aufgrund der Tatsache, dass Bennett damit einverstanden war, den republikanischen Senator Tom Cotton einen Beitrag veröffentlichen zu lassen, in welchem dieser den Einsatz des Militärs im Hinblick auf die gegenwärtigen Proteste in den USA fordert. Ungeachtet der Tatsache, dass Bennett den Artikel vor der eigentlichen Veröffentlichung nicht einmal gelesen hat, wurde der Druck auf ihn letztendlich so groß, dass er sich zu seinem eigenen Rücktritt gezwungen sah.
Ein weiteres interessantes Beispiel bietet in diesem Zusammenhang der Datenanalyst
David Shor, welcher via Twitter auf eine Studie des Princeton Professors Omar Wasow hingewiesen hatte. Wasows Studie hatte die Auswirkungen von friedlichen und unfriedlichen Demonstrationen auf die öffentliche Meinung nach der Ermordung an Martin Luther King Jr. untersucht, um letztendlich herauszufinden, dass unfriedliche Demonstrationen mehr Kritik in der Öffentlichkeit hervorgerufen haben. Laut Wasow haben diese Umstände und die durch sie erzeugten Spaltungen in der Gesellschaft, Nixon letztendlich zum Sieg verholfen. Trotz öffentlicher Entschuldigung wurde Shor, ein 28 – jähriger Demokrat, aufgrund seines Verweises auf Wasows Studie entlassen.
Nicht zuletzt sei an dieser Stelle die Harry Potter Autorin
J.K. Rowling zu nennen, welche aufgrund ihrer Bemerkung, dass es ein biologisches Geschlecht gäbe, mit shitstorms übersät wurde.
Die drei zuvor erwähnten Fälle sind exemplarisch für das, was der französische Historiker und Publizist Alexis de Tocqueville in seinem 1835 erschienenen Buch Über die Demokratie in Amerika (1) als die „Tyrannei der Mehrheit“ bezeichnete.
In diesem Kontext hebt Tocqueville – während seiner Amerika Reise – äußerst treffend hervor:
In Amerika zieht die Mehrheit einen drohenden Kreis um das Denken. Innerhalb dieser Grenzen ist der Schriftsteller frei; aber wehe, wenn er sie zu überschreiten wagt! Er hat zwar keine Autodafé zu fürchten, aber er ist allen erdenklichen Unannehmlichkeiten und täglichen Nachstellungen ausgesetzt. Die politische Laufbahn ist ihm verschlossen; er hat die einzige Gewalt, die sie ihm eröffnen könnte, beleidigt. Man versagt ihm alles, selbst den Ruhm. Ehe er Ansichten veröffentlichte, glaubte er, Anhänger zu haben; nun er sich allen entdeckt hat, besitzt er, so scheint es ihm, keinen mehr; denn wer ihn ablehnt, bringt das öffentlich zum Ausdruck, und wer denkt wie er, ohne so mutig zu sein, schweigt und entfernt sich. Er gibt nach, erliegt schließlich dem täglichen Ansturm und zieht sich ins Schweigen zurück, als hätte er ein schlechtes Gewissen, die Wahrheit gesagt zu haben (ebd. 1985, 151).
Lassen sich Tocquevilles Gedanken nicht wunderbar auf die zuvor erwähnten Fälle anwenden? Es sind diese unsichtbaren diskursiven Grenzen, welche zwar nicht juristisch klar einzugrenzen sind, aber dennoch wirkmächtig im Hinblick auf die praktischen Konsequenzen, durch welche das jeweilige Individuum letztendlich zu leiden hat. Persönlichkeiten wie J.K. Rowling mögen diese Konsequenzen nicht in einer derartigen Drastik verspüren. Aber was ist mit den eher unbekannten Menschen, welche bisher einen guten Job erledigt haben? Ein falsches Wort, eine falsche Meinung… und die Karriere liegt in Trümmern.
Phänomene wie die sogenannte
„cancel culture“ beschreiben eben jenen Prozess, bei dem Andersdenkende ausgegrenzt werden und in vielen Fällen sogar ihren Job verlieren und mit gesellschaftlicher Verachtung gestraft werden. Oftmals wird das Phänomen dem linken politischen Spektrum zugeordnet. Jemand, der sich jedoch wirklich zu dem linken politischen Spektrum zählt, sollte dieses Phänomen nicht nur als problematisch, sondern auch als gefährlich erachten. Nicht zuletzt, da Phänomene wie die „cancel culture“ keine sinnbringenden Mittel für die Ziele eines produktiven linkspolitischen Programms darstellen.
Ehrenwerte Absichten, verwerfliche Mittel
Zunächst ist jedoch klarzustellen – und das macht die ganze Dramatik der Situation aus -, dass die Motivationen und Absichten derjenigen, welche für mehr politische Korrektheit und moralische Sanktionen bei kritischen Meinungsäußerungen sorgen wollen, durchaus ehrenwerter Natur sind und damit auf einer empathischen Ebene völlig nachvollziehbar. Dennoch sei an dieser Stelle zu konstatieren, dass die Mittel zur Realisierung eben jener Absichten höchst problematisch sind. Zudem tritt an dieser Stelle ein Paradox zutage, da die Mittel mit welchen Minderheiten geholfen werden soll, traditionell und auch gegenwärtig zur Unterdrückung von eben jenen Minderheiten genutzt wurden. Man denke nur an Baruch de Spinoza, welcher aufgrund seiner kritischen Bibel Auslegung jahrelang ins Exil verbannt wurde! – aus historischer Perspektive ließe sich diese Liste selbstverständlich noch beliebig lang fortsetzen. Aber auch gegenwärtig lässt sich beobachten, was Zensur – ob nun im Kopf oder legal durchgesetzt – verursachen kann. Dies wird nicht zuletzt deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, was derzeit in
Hongkong passiert. Drei Wochen nach Einführung des neuen Sicherheitsgesetzes durch die Peking-Regierung müssen die Bewohner Hongkongs unter massiven Freiheitseinschränkungen leiden. Dies wird unter anderem dadurch deutlich, dass unliebsame Bücher – meist von Aktivisten oder kritisch gegenüber der Peking Regierung – nun aus den Schulbibliotheken verschwinden. Darüber hinaus ist der Protestslogan der Demonstrationsbewegung >>Befreit Hongkong, Revolution unserer Zeit << ebenfalls verboten worden. Aufgrund des neuen Sicherheitsgesetzes trauen sich viele Leute gar nicht mehr auf die Straße.
Man mag an dieser Stelle natürlich berechtigterweise die Frage stellen, was dieses Beispiel überhaupt mit Phänomenen wie der „cancel culture“ zu tun hat. Handelt es sich nicht um völlig unterschiedliche Phänomene? In den zu Beginn erwähnten Beispielen hat der Staat doch gar nicht aktiv eingegriffen – also warum lamentieren über ein Verschwinden der Meinungsfreiheit?
An dieser Stelle gilt es jedoch vorsichtig zu sein, da die Durchsetzungsmechanismen sich zwar auf unterschiedliche Kausalfaktoren – staatliche Einschränkung und diskursive Ausgrenzung/Schmähung – zurückführen lassen, die Konsequenzen jedoch in vielerlei Hinsicht ähnlich sind. Ob die Zensur nun vom Staat ausgeht oder im Kopf stattfindet – Zensur bleibt Zensur.
Gerade einer linken Politik sollte an einer offenen und konstruktiven Debatte gelegen sein, um ihre eigenen Ziele zu erreichen. Shitstorms auf Twitter tragen nur zur weiteren gesellschaftlichen Spaltung bei. Dies ist umso tragischer vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Probleme, welche Linke zu bekämpfen versuchen, durch derartige Spaltungen unweigerlich weiter perpetuiert werden.
Ein problematisches Statement: Der Fall Grant Napear
Ein treffendes Beispiel in diesem Zusammenhang bietet der Fall um den US-amerikanischen Sport-Kommentator
Grant Napear. Nachdem Napear gefragt wurde, wie er zu den “Black Lives Matter“ – Protesten stehe, hat dieser mit “ALL LIVES MATTER. … EVERY SINGLE ONE!!!” geantwortet, woraufhin Napear aufgrund des zunehmenden öffentlichen Drucks freiwillig von seinem Job als Kommentator zurück getreten ist. Die Tragik der gesamten Situation wird umso mehr dadurch verdeutlicht, dass Napear später selbst zugegeben hat, dass es nicht seine Intention war, irgendjemanden auszugrenzen und dass er der Meinung ist, dass die BLM-Proteste einen gesellschaftlichen Fortschritt darstellen. Zudem hat Napear hinzugefügt, dass er sich nicht genug mit BLM auseinandergesetzt habe und dass er mit seinem Statement eigentlich die Proteste unterstützen wollte.
Im Hinblick auf den Fall Napear sei zunächst in aller Deutlichkeit hervorzuheben, dass sein Statement im Hinblick auf die kontextuellen politischen Rahmenbedingungen selbstverständlich kontrovers war, da die BLM Proteste zum Ziel haben, auf die Probleme der schwarzen US-amerikanischen Bevölkerung aufmerksam zu machen. Aber selbst, wenn man die Prämisse akzeptiert, dass Napears Statement problematisch war, war eine derartige Form des „cancelns“ der richtige Weg? Und war es vor allem ein Mittel, das kohärent mit den Werten einer wahrhaft links-progressiven Gesinnung ist? Wäre es nicht viel sinnvoller gewesen mittels eines offenen argumentativen Diskurses Napear darauf hinzuweisen, dass sein Statement vom Inhalt zwar wahr, aber unter den gegenwärtigen Umständen höchst problematisch ist?
Zudem sei zu erwähnen, dass Napears Statement höchstwahrscheinlich aus einer gewissen Unwissenheit und nicht aus rassistischen Motiven resultierte. Und – um es der Provokation halber etwas zuzuspitzen – selbst wenn Napears Statement auf rassistische Motive zurückzuführen sein sollte, blieb an dieser Stelle folgende Frage zu stellen: Wäre Napear dadurch sein Rassismus wirklich ausgetrieben worden, indem seine Existenz zerstört wurde? Oder hätten sich seine rassistischen Denkschemata dadurch womöglich eher verstärkt?
Alles, was der Fall Napear verdeutlicht hat, ist, dass Menschen fehlbar sind – was nicht zuletzt durch Napears anschließende öffentliche Entschuldigung deutlich wurde. Man könnte an dieser Stelle schnell zu der Annahme verleitet werden, dass diese Fallibilität sich auf eine Inkongruenz des semantischen Gehalts von Napears Aussage und der dieser zugrunde liegenden Intention zurückführen lässt. Das scheint jedoch ein Fehlschluss zu sein. Vielleicht war Napears Absicht in völliger Übereinstimmung mit seiner Aussage – seine öffentliche Entschuldigung scheint diese Vermutung nahe zu legen. Möglicherweise schien Napear wirklich darauf hinweisen zu wollen, dass alle Leben zählen. Und möglicherweise konnte die wahre Bedeutung von Napears Aussage einfach nicht von denen, die ihn gecancelt haben, entschlüsselt werden, da ihnen hierzu schlichtweg die moralischen Codierungsschemata fehlten. Unabhängig von den kontextuellen Rahmenbedingungen: Ist es vielleicht möglich, dass Napears Aussage schlichtweg auf der Basis eines Glaubens an eine universalistisch fundierte Form der Solidarität formuliert wurde? Und ist nicht eine derartige Solidarität das, was eine wahrhaft links-progressive Politik verteidigen sollte?
Ohne einen Absolutheitsanspruch auf eine derartige Annahme zu legen, wäre dies nur über einen offenen Diskurs gelungen. John Stuart Mill hat in diesem Zusammenhang bereits treffend erkannt, dass wir Menschen fehlbare Wesen sind. Aber gerade aufgrund unserer Fehlbarkeit bedarf es laut Mill umso mehr des freien gedanklichen Austauschs. Um sich dem Prinzip der Wahrheit graduell immer weiter anzunähern – und damit einhergehend gesellschaftlichen und moralischen Fortschritt zu ermöglichen – müssen sämtliche Gedanken in ihrer ganzen Tragweite von verschiedenen Seiten beleuchtet werden. Egal, welcher politischen Gesinnung man angehört, Mills Gedanke scheint in jeglicher Hinsicht sinnvoll zu sein. Dies gilt auch für Leute wie den deutschen
Bundesinnenminister Horst Seehofer, wenn dieser sich weigert, über sein Ministerium eine Studie zum „racial profiling“ in Auftrag zu geben. Auch hier wird ein gesellschaftlicher Erkenntnisfortschritt auf eklatante Art und Weise verhindert und somit auch die Chance, den Rassismus in unseren Gesellschaften und effektive Art und Weise zu bekämpfen.
Zudem lässt sich nicht abstreiten, dass Mills Ansatz im Hinblick auf den Fall Napear weitaus sinnvoller gewesen wäre. Und nun zurück zur vorherigen Überlegung: Ist es nicht tatsächlich möglich, dass der semantische Gehalt von Napears Aussage deckungsgleich mit der ihr zugrunde liegenden Intention ist? Ist es nicht gut möglich, dass Napear einfach nur für eine allgemeine Solidarität aller Menschen eintreten wollte – ein Urprinzip jeglicher linksprogressiven Politik? Hier scheint es sinnvoll sich noch einmal zu vergegenwärtigen, was eine traditionell linke Politik im Hinblick auf ihre ideelle Essenz eigentlich ausmacht.
Was will die Linke?
In seinem Buch Linke, hört die Signale! (2) stellt der australische Philosoph Peter Singer mittels einer Negativformulierung sehr treffend dar, durch was sich eine traditionelle linke Gesinnung (nicht) auszeichnet:
Wenn wir mit den Schultern zucken beim Anblick des vermeidbaren Leids der Schwachen und Armen, derjenigen, die ausgebeutet und abgezockt werden, oder die einfach nicht genügend haben, um ein Leben auf bescheidenem Niveau zu erhalten, dann gehören wir nicht zur Linken. Wenn wir sagen, dass die Welt nun einmal so ist und immer so sein wird und dass wir nichts daran ändern können, sind wir nicht Teil der Linken. Die Linke möchte etwas an dieser Situation verändern (ebd. 1999, 12).
Wenn man Singers Formulierung genau liest, wird zunächst deutlich, dass die teleologische Ausrichtung einer linken Gesinnung primär darin besteht, sich mit den Armen und Schwachen zu solidarisieren und ihr Leid zu vermindern. Zudem macht Singer darauf aufmerksam, auch das wird relativ klar deutlich, dass eine linke Mentalität den Zustand der Stagnation – und damit eine konservative Politik des Bewahrens – ablehnt, was sich in einem Willen zur Veränderung äußert. Neben diesen zwei relativ offensichtlichen Aspekten enthält Singers Aussage, wenn man zwischen den Zeilen liest, noch eine dritte Information. Singer sagt, dass es den Linken um eine Reduzierung „[…] des vermeidbaren Leids der Schwachen und Armen […]“ geht. Es geht also nicht darum, für partikulare Interessen zu kämpfen, sondern um eine umfassende Solidarität, welche alle gesellschaftlich Benachteiligten berücksichtigt. Um die Systemfrage sinnbringend zu stellen, bedarf es folglich der Solidarität und nicht der Abschottung. Die normative Forderung danach, die eigenen Partikularinteressen zu einem universalistischen Zusammenschluss zu transzendieren, sollte der Kerngedanke eines links – progressiven Programms sein. Erst durch die Transzendierung auf das universell Gültige und Unabänderliche wird wahrhafte Solidarität möglich. Ist jene Transzendierung vom Partikularen hin zum universell Gültigen und Unabänderlichen nicht in Napears Formulierung enthalten? Enthält sie nicht das Element des Zusammenschlusses aller gesellschaftlich Benachteiligten? Es geht an dieser Stelle keineswegs darum – das sei in aller Deutlichkeit hervorzuheben – Napear zu verteidigen. Es scheint unstrittig, dass seine Aussage im Hinblick auf die Proteste durchaus problematisch war. Um zu ihrem semantischen Gehalt vorzudringen, bedarf es, wie bereits erwähnt, einer Dekontextualisierung. Wenn man es jedoch gedanklich wagt, eine derartige Dekontextualisierung vorzunehmen, so tritt das solidarische Element in Napears Aussage unverkennbar zutage. Ist es nicht gerade im Hinblick auf die durch die Corona – Pandemie verursachten sozioökonomischen Folgen mehr denn je notwendig, die Pluralität aller Schwachen und Armen in den Blick zu nehmen?
Solidarität statt Abschottung!
Josef Joffe hebt im Feuilleton der
Zeit treffend hervor:
Kulturkampf ist Symbolpolitik, die den Klassenkampf ignoriert. Kratzt man die Farbe ab, ist der so real wie die Kluft zwischen Ghetto und umgrünten Vorort. Afroamerikaner sind statistisch eher arm und häufiger krank; ihre Kinder sind gefangen in kaputten Schulen, welche die >>progressiven Aktivisten<< für ihre Kinder meiden wie den Beelzebub. Folglich fehlt die Ausbildung, die in der postindustriellen Wirtschaft Aufstieg verheißt.
Joffe macht auf den wichtigen Punkt aufmerksam, dass Regulierungen durch „cancel culture“ und durch die politische Korrektheit die wahren Probleme verschleiern, mit welchen es sich zu befassen gilt. Joffe weist jedoch auf ein weiteres sehr wichtiges Phänomen hin. Aber um dieses Phänomen zu erkennen, muss auch hier wieder zwischen den Zeilen gelesen werden. Joffe weist darauf hin, dass Afroamerikaner „[…] statistisch eher arm und häufiger krank […]“ sind, und dass ihre Kinder gefangen sind in maroden Schulen, „[…] welche die >>progressiven Aktivisten<< für ihre Kinder meiden wie den Beelzebub.“ An dieser Stelle wird bereits mehr als deutlich, wo die eigentliche Problematik liegt. Symbolpolitik scheint vielmehr nur ein unbewusstes Ablenkungsmanöver zu sein, welches es ermöglicht, die wirklich wichtigen Fragen zu ignorieren. Ein primäres Problem vieler progressiver Aktivisten scheint heutzutage darin zu liegen, dass sie viele der wirklich wichtigen Fragen aus den Augen verloren haben. Solange man andere verurteilt aufgrund politisch unkorrekter Sprache und problematischer Meinungsäußerungen, hat man seinen Job erfüllt, während die eigenen Kinder selbstverständlich weiter auf die elitäre Privatschule gehen. Und die, für dessen Rechte man sich einzusetzen vorgibt, werden ohnehin weiterhin auf einer sozioökonomischen Distanz gehalten. Hier wird bereits deutlich, dass der einzige Weg, allen Schwachen und Benachteiligten zu helfen, darin besteht, die Systemfrage mit all den ihr inhärenten Komplexitäten zu stellen. Alles andere dient nur als Verschleierung, um den wirklichen Problemen auszuweichen.
In diesem Zusammenhang weist der österreichische Philosoph Robert Pfaller (3) ebenfalls treffend auf folgendes hin:
Pseudopolitik hat in den letzten Jahrzehnten regelmäßig darin bestanden, [….] anstelle der politischen Probleme vorzugsweise jene zu behandeln, welche erwachsene Menschen durchaus selbst handhaben können. Durch Ermunterung zu Empfindlichkeit hat sie Menschen infantilisiert. Dadurch hat sie sie auch entsolidarisiert. Anstatt wie erwachsene Menschen das Allgemeine im Auge zu behalten und sich zusammenzuschließen, wollten die empfindlich Gemachten nur noch ihre eigenen Besorgnisse bevorzugt behandelt oder wertgeschätzt sehen. Vieles, was in der Sache richtig scheint – viele berechtigte Engagements wie Antirassismus oder Antisexismus, Einsatz für minoritäre Positionen aller Art -, ist durch die perfide Funktion, die diese Engagements innerhalb der neoliberalen Politik innehatten, mit guten Gründen in Verruf geraten (ebd. 2017, 10).
Symbol – oder Pseudopolitik dienen als Verschleierungstaktik für die wirklich wichtigen Probleme, mit welchen sich eine links – progressive Politik befassen sollte. Durch eine neue Form der Viktimisierungskultur und die Rückberufung auf die eigenen partikularen Identitäten ist das Gegenteil von dem passiert, was notwendig ist, um einen nachhaltigen systemischen Wandel herbeizuführen: eine Solidarisierung aller gesellschaftlich Benachteiligten auf der Basis einer universellen Anerkennung der Menschenwürde. Eine derartige Solidarisierung wird jedoch nur möglich sein, wenn erkannt wird, dass eine Rückberufung auf die eigenen Interessen das Gegenteil von dem ist, was wahrhafte Solidarität bedeutet. An dieser Stelle sei nochmals hervorzuheben, dass jegliches Engagement gegen Rassismus, Sexismus oder Diskriminierung nicht nur ehrenwert, sondern sogar notwendig ist, um für eine bessere Welt zu kämpfen. Es bleibt jedoch lediglich die Frage zu stellen, wie diese Engagements im Einzelnen aussehen sollen. Dann würde unter Umständen die Erkenntnis zutage treten, dass die eigentlichen Probleme im System liegen und dass Phänomene wie Sexismus und Rassismus oftmals Symptome für systemimmanente Ungleichheiten sind.
Keine elitären Stellvertreter – Debatten!
Wenn man noch einmal den Fall Napear und andere Fälle, welche paradigmatisch für das Phänomen der „cancel culture“ sind, betrachtet, so müsste man spätestens jetzt erkennen, dass die Mittel, welche für diese durchaus ehrenwerten und wichtigen Ziele – das Eintreten für die gesellschaftlich Benachteiligten – die ursprünglichen Probleme ungemein weiter verstärkt haben. Ist es wirklich sinnvoll Leute zu canceln, sodass diese ihren Job verlieren? Wird dadurch wirklich Fremdenfeindlichkeit und Sexismus besiegt?
Trump bietet oft ein besonders geeignetes Bespiel dafür, wie mittels Symbolpolitik die eigentliche Systemfrage ausgeblendet wird. Auch hier sei zunächst klar zu stellen: Ja, Trump ist vulgär und rassistisch und moralisch in vielerlei Hinsicht zu verurteilen. Aber ist es wirklich sinnvoll – so amüsant das auch sein mag – sich über Trump und seine “ dummen, alten, weißen, männlichen“ Wähler lustig zu machen? Hier schiene es ebenfalls angebrachter, sich die Frage zu stellen, wie jemand wie Trump an die Macht kommen konnte. Das Problem an der „cancel culture“ und derartig elitärer Diffamierungskampagnen besteht vor allem darin, dass die Systemfrage nicht nur außer Acht gelassen wird, sondern dass diese Debatten vor der impliziten Hintergrundannahme stattfinden, dass das System eigentlich nicht verändert werden soll. In der Konsequenz werden die Spaltungen und die damit einhergehende Rückberufung auf die eigenen partikularen Interessen zunehmen, während das System, welches diese Probleme aufgrund sozialer und ökonomischer Ungerechtigkeiten erst verursacht hat, in seiner ursprünglichen Form unweigerlich weiter reproduziert wird.
Hier scheint es noch einmal besonders angebracht einen Ausschnitt aus Herbert Marcuses Aufsatz
Repressive Toleranz zu zitieren:
Die Gleichheit der Toleranz wird abstrakt, unecht. Mit dem faktischen Niedergang abweichender Kräfte in der Gesellschaft wird die Opposition in kleine und häufig einander widerstreitende Gruppen isoliert, die selbst dort, wo sie innerhalb der engen Grenzen toleriert werden, wie die hierarchische Struktur der Gesellschaft sie setzt, ohnmächtig sind, weil sie innerhalb dieser Grenzen verbleiben. Aber die ihnen erwiesene Toleranz ist trügerisch und fördert Gleichschaltung. Und auf den festen Grundlagen einer gleichgeschalteten Gesellschaft, die sich gegen qualitative Änderung nahezu abgeriegelt hat, dient selbst die Toleranz eher dazu, eine solche Änderung zu unterbinden, als dazu, sie zu befördern.
Auch wenn Marcuses Aufsatz selbstverständlich vor dem Hintergrund der damaligen 68er Bewegung gelesen werden muss, scheint er sich dennoch problemlos auf die gegenwärtige Thematik applizieren zu lassen. Das, was Marcuse hier als „[…] kleine und häufig einander widerstreitende Gruppen […]“ bezeichnet, ist das, was man im heutigen Jargon als eine auf Partikularinteressen beruhende Identitätspolitik bezeichnen würde. Besonders beeindruckend an Marcuses Feststellung ist, dass sie genau jene zuvor festgestellte Problematik der systemischen Reproduzierbarkeit beschreibt. Die verschiedenen Partikularinteressen werden innerhalb der durch das System festgesetzten Grenzen toleriert, was zur Folge hat, dass jene Interessen jedoch in den jeweiligen partikularen Räumen verbleiben. Durch die systemimmanente Duldung dieser Einzelinteressen wird ein nachhaltiger systemischer Wandel blockiert und eine systemübergreifende Solidarisierung der einzelnen gesellschaftlich benachteiligten Gruppen unmöglich gemacht. Die Annahme, dass Phänomene wie die „cancel culture“ eine Rebellion gegen das System darstellen, ist falsch, da sie selbst ein integraler Bestandteil des Systems sind, welcher einen wirklich nachhaltigen Wandel blockiert.
Was tun, Sisyphos?
Wäre es nicht an der Zeit, die von den Göttern auferlegte Strafe zu hinterfragen? Die Determinierung zur Wiederholbarkeit verliert ihr determinierendes Element, wenn wir die systemischen Rahmenbedingungen, die diese Strafe erst möglich machen, gezielt in Frage stellen. Oder man lässt den Felsblock einfach am Fuße des Berges liegen und schaut sich nach neuen Wegen um.
Buchquellen:
(1) Tocqueville, A. ¬. (1985). Über die Demokratie in Amerika. Stuttgart: Reclam.
(2) Singer, P. (1999) Linke, hört die Signale! –Vorschläge zu einem notwendigen Umdenken. Reclam, Universal-Bibliothek
(3) Pfaller, R. (2017). Erwachsenen
Der Originalartikel kann hier besucht werden