Dass Kleider Leute machen, war bereits Gottfried Keller im 16. Jahrhundert bewusst. Was vielen jedoch darüber hinaus nicht augenblicklich in den Sinn kommen mag, ist die Tatsache, dass Kleider, beziehungsweise im Allgemeinen die Art und Weise wie diese produziert, konsumiert oder entsorgt werden, so viel mehr ‚macht‘ – von Menschenrechtsverletzungen bis hin zu Umweltschäden beispielsweise. Diana Sanabria, die sich als Referentin für Weltwirtschaft mit genau diesem Thema auseinandersetzt, gibt wertvolle Einblicke dazu.
Liebe Frau Sanabria, vielen Dank, dass Sie sich für Pressenza Zeit nehmen und mit uns über die globale Textilindustrie sprechen. Diese steht oft in der Kritik. Zahlreiche Berichte diverser Menschenrechtsorganisationen schildern beispielsweise die Missstände, welche in vor allem in Entwicklungsländern etablierten ‚Sweatshop Regimes‘[1],[2],[3] vorherrschen. Was genau versteht man darunter?
Im Grunde ist ein Sweatshop Regime ein Regime, unter welchem Arbeiter*innen unter schlechten Arbeitsbedingungen arbeiten. Oft befinden sich derartige Regimes in Ländern, in denen die staatliche Kontrolle über die Einhaltung von gesetzlichen Standards nahezu nicht existiert, wenn es überhaupt gesetzliche Standards im Bezug auf Arbeit oder Umwelt gibt.
Warum existieren diese Regimes?
Sweatshop Regimes existieren, weil das aktuelle Wirtschaftssystem dies erlaubt. Ein Wirtschaftssystem, welches profitorientiert und am besten frei von Regulierungen arbeitet, degradiert Menschenrechte und schädliche Folgen für die Umwelt zu Externalitäten, was in anderen Worten bedeutet, dass Mensch und Umwelt die von Unternehmen generierten Kosten tragen.
Können Sie ein konkretes Beispiel geben? Inwiefern bieten diese Raum für Menschenrechtsverletzungen?
Ein konkretes Beispiel hierfür sind Löhne. Gehen wir von einer Fabrik aus, die für eine europäische Modemarke produziert. Diese Modemarke will möglichst preisgünstig kaufen, was dazu führt, dass Produzenten, die einen Auftrag erhalten wollen, das billigste Angebot machen müssen. Dazu werden Kosten externalisiert, indem man unter anderem Hungerlöhne an die hierzu beschäftigten Arbeiter*innen zahlt. Diese systematische Ausbeutung wird durch verschiedene Rechtsordnungen weltweit ermöglicht.
Bedeutet ein Hungerlohn, dass man davon leben kann?
Nein, nicht unbedingt und oftmals ist ein gesetzlich festgelegter Mindestlohn auch ein Hungerlohn. In Ländern wie beispielsweise Kolumbien, Indien oder Pakistan, in welchen die Regierung den Mindestlohn festgesetzt hat, reicht dieser nicht aus, um eine Wohnung zu zahlen, sich zu ernähren oder sich Bildung und Krankenversicherung zu leisten. Das führt dazu, dass Familien sich schlechter ernähren, um beispielsweise die Bildungskosten der Kinder zu tragen.
Welche anderen Fälle von konkreten Menschenrechtsverletzungen werden durch dieses System verursacht?
Menschenrechtsverletzungen in diesem Kontext sind vielseitig. Zum einen sprechen wir beispielsweise von Kinderarbeit auf Baumwollplantagen, Gewalt oder sexuelle Belästigung entlang der Lieferkette. Man muss bedenken, dass ungefähr 80% der Arbeiter*innen in der Textilindustrie Frauen sind. Dann sprechen wir auch von Arbeitszeiten, die überhaupt nicht dem entsprechen, was gesetzlich oder international als Konsens betrachtet wird. Teilweise sprechen wir von Zwangsarbeit, von Risiken für die Gesundheit ebenso wie Einschränkung der Koalitionsfreiheit.
Warum hat sich die globale Textilindustrie in diese Richtung entwickelt?
Das liegt vor allem daran, dass Unternehmen als juristische Person mit vielen Privilegen verbunden sind, die sich nicht unbedingt in der Gesellschaft widerspiegeln. Kümmern sich Unternehmen beispielsweise um Ihren Beitrag zum Gemeinwohl der Gesellschaft? Damit meine ich nicht nur die Gesellschaft, in der ein Unternehmen seinen Hauptsitz hat, sondern alle Menschen, die in irgendeiner Weise mit dem unternehmerischen Handeln verbunden sind: Arbeiter*innen in Bangladesch, Kund*innen in Deutschland oder Landwirt*innen auf einer Baumwollplantage in Brasilien. Einige kommen dieser Verantwortung freiwillig nach während andere nur dann reagieren, wenn es gesetzliche Pflichten gibt. In vielen Fällen werden Profite nach wie vor über alles andere gestellt. Ist das jedoch wirklich immer zum Wohle aller?
Menschenrechte sind die eine Sache. Gibt es andere Bereiche, die zudem negativ beeinflusst werden?
Auch wenn man das vielleicht nicht unmittelbar verknüpft ist, so sind die Folgen für die Umwelt aufgrund der Textilindustrie verheerend. In der Bekleidungsindustrie werden beispielsweise viele gefährliche Chemikalien eingesetzt, um eine bestimmte Qualität des Stoffes zu gewährleisten. Die Ableitung dieser in naheliegende Flüsse zerstört Ökosysteme. Außerdem ist der Verbrauch von Wasser zur Kleidungsherstellung ein Thema. Für ein T-Shirt alleine werden ungefähr 2.700 Liter Wasser gebraucht. Wenn wir uns klar machen, dass jährlich 80 Milliarden Kleidungsstücke verkauft und viele mehr produziert werden, dann kann man sich ungefähr vorstellen, wie viel Wasser man hierzu benötigt. Ein weiterer Punkt ist der durch die Textilindustrie verursachte Treibhausausstoß, der Schätzungen zufolge 10% der weltweiten CO2-Emissionen ausmacht. Das ist mehr als der Luft- und Schifffahrtsverkehr zusammen produzieren. Der jedoch vermutlich schockierendste Aspekt betrifft Kleidungsabfall. Wir sprechen von 92 Millionen Tonnen pro Jahr, ergo drei Tonnen pro Sekunde. Das ist ein Skandal.
Paradoxerweise tangieren diese Auswirkungen den weltweiten Kleiderbedarf nicht. Woran liegt das?
Ich spreche hier ungern von Bedarf. Viele Leute kaufen Kleidung nicht nach Bedarf, sondern weil sie diese haben wollen. Das geht Hand in Hand mit der sog. Scheindemokratisierung des Privilegs auf schicke Kleidung, die durch gezielte Marketingmaßnahmen gefördert wird, welche potentielle Käufer*innen davon überzeugen, dass auch sie privilegiert aussehen können und wollen. Das und mangelnde Information über Missstände in der Textilindustrie führen letztendlich zu hohem Kleidungskonsum.
Liegt die Hauptverantwortung damit bei den Kunden, die sich nicht ausreichend informieren?
Ein Teil der Verantwortung liegt bei den Kunden. Man muss sich zum Beispiel über den Fashion Checker informieren. Man darf jedoch nicht den Fehler machen und die Hauptverantwortung für nachhaltigen Konsum vorschnell an Kunden abgegeben. Wer informiert sich denn schon wirklich vor jedem Kauf? Insbesondere wenn man bedenkt, dass Informationen oftmals nicht frei verfügbar sind und letztendlich Unternehmen für die Kleidungsproduktion verantwortlich sind, so muss man diese mehr in die Verantwortung nehmen.
Welche Rolle spielen politische Akteure hierbei?
Die Mehrheit der Unternehmen sieht sich nicht in der Verantwortung zu handeln, wenn es keine Regulierungen gibt. Menschen- und Umweltrechte brauchen jedoch effektiven Schutz, den nur Regulierungen gewährleisten können. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Pharmaindustrie. Man kann nicht irgendwelche Medikamente verkaufen, ohne bestimmte Anforderungen zu erfüllen. Das ist genau der Punkt, an dem politische Akteure ins Spiel kommen, da Unternehmen externalisierte Kosten ungern internalisieren. Ein gutes Beispiel für eine Regulierung, die genau das beabsichtigt, ist das Lieferkettengesetz, welches mehrere Regulierungen zum Schutz von Menschen- und Umweltrechten entlang der Lieferkette umfasst.
Das sehe ich genauso. Vielen Dank für die interessanten Einblicke in die Textilindustrie und alles Gute für Ihre weitere Arbeit!
[1] Mezzadri, A., (2016). The Sweatshop Regime. United Kingdom: Cambridge University Press.
[2] Tallon, E., (2018). The Tragedy of the Commons. Available at: https://amnesty.sa.utoronto.ca/2018/10/17/tragedy-of-the-commons-the-danger-behind-the-fast-fashion-industry/.
[3] N.a., (2021). Labor Rights in the Garment Industry. Available at: https://www.hrw.org/topic/womens-rights/labor-rights-garment-industry.