Amalia van Gent für die Online-Zeitung INFOsperber
Das Familienbild vom letzten NATO-Gipfel in Madrid sollte vor allem Einigkeit unter Gleichen symbolisieren: Männer und Frauen, die ihre Differenzen durch friedliche Debatten lösen und schwierige Beschlüsse in Einigkeit treffen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg pries auf der abschliessenden Pressekonferenz wortreich die «ungebrochene Geschlossenheit aller 30 Mitgliedsstaaten» an und nannte das neue Strategiepapier, das Russland erstmals «als grösste und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum» bezeichnet, wegweisend. Er begrüsste die Erweiterung des Bündnisses um zwei Mitglieder, namentlich Schweden und Finnland. Dass die Norderweiterung in erster Linie dank seinen unermüdlichen Bemühungen gelungen war, machte ihn offenkundig stolz.
Zur selben Stunde und unweit vom NATO-Generalsekretär beteuerte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan der Presse seines Landes, dass der Beitritt der beiden NATO-Anwärter keineswegs beschlossene Sache sei: «Das unterzeichnete Abkommen ist nur ein Anfang, eine Einladung», sagte der Gast aus dem Osten. Wie er ausführte, müssten Schweden und Finnland zunächst ihren Zusagen treu bleiben. Andernfalls würden ihre Mitgliedschaften dem türkischen Parlament nicht zur Abstimmung vorgelegt. «Dieses Abkommen wird nicht zustande kommen, wenn es nicht von unserem Parlament gebilligt wird», sagte er. Auch Erdoğan war in triumphaler Laune.
Was trifft in Wirklichkeit also zu?
Angst vor einer neuen Repressionswelle
Seitdem die beiden skandinavischen Länder Mitte Mai beschlossen haben, ihre historische Neutralität aufzugeben und eine Mitgliedschaft in der NATO anzustreben, ist die Türkei zum Zünglein an der Waage geworden. Die Regierung Erdoğan droht, ein Veto gegen deren Mitgliedschaft einzulegen und stellt Helsinki und Stockholm einen immer höheren Preis für ein Ja in Aussicht. Es ist bezeichnend, dass Ankara vor dem Gipfel in Madrid von Schweden und Finnland etwa die Auslieferung von 33 angeblichen „Terroristen“ forderte — und nach Madrid die Zahl auf 73 Personen erhöhte.
In beiden Ländern, insbesondere in Schweden, sind grosse kurdische Gemeinden zuhause. Die beispielhaft liberale Gesetzgebung und der Rechtsstaat in Skandinavien wirkte für Verfolgte aus aller Welt wie ein Magnet. Nach Madrid mache sich Verunsicherung unter den kurdisch-stämmigen Schweden breit, ihre Angst sei beinah greifbar, kommentierte der renommierte türkische Journalist Cengiz Candar, auch er ein Exilant. Die kurdisch-stämmigen Schweden fühlten sich nun von ihrer neuen Heimat verraten. Sie lebe in Schweden seit 25 Jahren, sagte die aus dem Iran stammende, unabhängige kurdisch-schwedische Abgeordnete Amineh Kakabaveh. «Nie zuvor habe ich so viel Angst gespürt wie in den letzten Tagen nach Madrid». Sie war über das in Madrid unterzeichnete trilaterale Memorandum zwischen Schweden, Finnland und der Türkei entsetzt.
Dieser «Deal» verunsichert inzwischen nicht nur die Bürger mit Migrationshintergrund, sondern die Gesellschaften beider skandinavischen Länder in ihrem Selbstverständnis. Wie konnte es geschehen, dass ihre Regierung sich mit «einem Autokraten wie Erdoğan zusammensetzt, um über die Prinzipien des schwedischen Rechtsstaats zu verhandeln?», wunderte sich die ehemalige Vize-Regierungschefin Lena Hjelm-Wallen. Auch sie empfand den Madrider Deal verstörend.
Eine Vereinbarung nach Erdogans Gusto
Das wichtigste Ergebnis dieser Vereinbarung sei die «Aufhebung des von Schweden und Finnland gegen die Türkei verhängten Waffenembargos», schreibt die einflussreiche, türkische Journalistin Nagehan Alci aus Erdoğans Hof. Europäische Länder verhängten 2019 ein Waffenembargo gegen die Türkei, nachdem türkische Truppen zum dritten Mal völkerrechtswidrig in das von Kurden besiedelte Nordsyrien einmarschiert waren, Abertausende Zivilisten in die Flucht getrieben und Teile des Nachbarlandes besetzt hatten. Seither hat die türkische Armee das syrische Territorium nie verlassen. Sie bombardiert weiterhin Dörfer und Kleinstädte und zerstört täglich die Lebensgrundlage von Zivilisten. Dennoch hat der Gipfel in Madrid beschlossen, das Waffenembargo gegen die Türkei aufzuheben.
Die NATO-Mitgliedstaaten schienen zu vergessen, dass Erdoğans rechtsradikale Regierung in der Türkei den Rechtsstaat systematisch ausgehöhlt hat und Abertausende politische Gefangene, etwa den Mäzen Osman Kavala und den Kurdenführer Selahaddin Demirtas, seit Jahren willkürlich hinter Gitter hält. Vergessen scheint auch, dass Ankara den EU-Mitgliedstaaten Griechenland und Zypern mit Krieg droht und in Nord-Syrien und Nord-Irak völkerrechtswidrig Krieg führt. Um die Türkei in der Ukraine-Frage bei Laune zu halten, beschloss der NATO-Gipfel mit dem Segen der USA, die Türkei Erdoğans weiss zu waschen.
Kriminalisierte Helden
Zum ersten Mal wurde die kurdische Bewegung Nordsyriens kriminalisiert. Zwar galt die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die seit 1984 in der Türkei einen Krieg um Selbstbestimmung der über 15 Millionen Kurden des Landes führt, in Schweden und Finnland bereits als Terrororganisation. Nun aber werden auch die kurdischen Volksschutzeinheiten (YPG) und ihr politischer Arm (PYD) zu Terroristen definiert. Der achte Artikel des Memorandums verpflichtet Schweden und Finnland dazu, «die notwendigen, bilateralen rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, um die Auslieferung und die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich zu erleichtern». Kurz gesagt: Der schwedische Nachrichtendienst Sapo und der türkische Geheimdienst MIT sollen künftig enger zusammenarbeiten, um Dissidenten respektive «Terroristen» in Skandinavien ausfindig zu machen und/oder auszuliefern.
Es mutet absurd an: Bei den kurdischen Milizen (YPG) handelt es sich um jene jungen Männer und Frauen, die zwischen 2015 und 2019 den fanatischen Dschihadisten des islamistischen Staates IS die Stirn boten und in enger Zusammenarbeit mit den USA und anderen europäischen Ländern diese besiegten. Bis zu 30.000 Opfer und nochmals so viele teils schwer Verletzte kostete sie der Sieg über die Islamisten. Und weil damals der IS auch eine ernsthafte Bedrohung für Europa war, wurden die bewaffneten kurdischen Frauen und Männer als Helden gefeiert.
Erdoğan habe «in Madrid alles erhalten, was er wollte», kommentierte die Journalistin Nagehan Alci. Von «demütigenden Zugeständnissen Schwedens und Finnlands» und von zynischer Doppelmoral ist unter Kritikern die Rede. Um den Autokraten Putin zu schwächen, wurde der Autokrat Erdoğan innen- und aussenpolitisch gestärkt. Die Logik der Männer und Frauen, die in Madrid mit dem Versprechen angetreten waren, weltweit die Demokratie gegen die Despotie zu verteidigen, erscheint schleierhaft.
Die Türkei werde nach diesem Gipfel einen „schrecklichen Preis für das grüne Licht für die Erweiterung verlangen“, befürchtet Simon A. Waldman, Forschungsstipendiat am King’s College London. Präsident Erdoğan wird demnach von Stockholm und Helsinki erwarten, dass sie einen künftigen türkischen Einmarsch in Syrien gegen die kurdischen Volksschutzeinheiten (YPG) unterstützen und seine Pläne zur Zwangsumsiedlung von einer Million syrischer Flüchtlinge aus der Türkei in die angeblich befreiten Gebiete Nordsyriens gutheissen. Er werde ferner erwarten, dass die Skandinavier Dutzende von Personen ausliefern, die er für Terroristen hält, und dass die NATO zur schlechten Menschenrechtsbilanz der Türkei eisern schweigt, so Waldmans Analyse für die israelische Zeitung Haaretz. „Jedes Zaudern in diesen Fragen wird als Beweis für Boshaftigkeit, wenn nicht gar Verrat ausgelegt.“
Bittere Oliven von Afrin
Verrat ist in der Geschichte der schätzungsweise 35 Millionen Kurden keine unbekannte Komponente. Allein in den letzten vier Jahren wurden die Kurden Syriens von ihren wichtigsten Alliierten links liegen gelassen. 2018 hat «Putin die kurdische Provinz Afrin an Erdoğan verscherbelt für ein gemeinsames Pipelineprojekt, einen russischen Atomreaktor sowie für das S-400 Luftabwehrsystem“, schreibt Thomas Konicz in konkret. „Der Kreml hoffte, damit die Herauslösung der Türkei aus dem westlichen Bündnissystem befördern zu können“ – vergeblich. Stattdessen fand in der ehemals blühenden kurdischen Universitätsstadt eine systematische ethnische Säuberung statt: Die Kurden, traditionell die überwältigende Bevölkerungsmehrheit, stellen heute nach eigenen Angaben nur noch 25 Prozent der Bevölkerung.
Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch warnen seither immer wieder, dass willkürliche Enteignungen, massenhafte Entführungen und Vergewaltigungen den Alltag der Provinz bestimmten. In diesem Gebiet, in dem unabhängigen Journalisten der Zugang streng verwehrt wird, soll das Erdogan-Regime ein Netz von Geheimgefängnissen unterhalten, berichtete unlängst die Jerusalem Post. Dort beginge die Türkei systematisch „furchtbare Verbrechen“ gegen Oppositionelle und Zivilisten. Von den nahezu 9.000 Opfern dieses türkischen Foltersystems in Nordsyrien seien 1.500 verschwunden, so die Jerusalem Post. Dafür gelangen Afrins berühmte Oliven, seit je das Hauptprodukt der Provinz, jährlich in westliche Supermärkte und auf diese Weise manchmal auch auf unsere Tische – als türkisches Produkt markiert. Ähnlichkeiten zwischen Afrins Oliven und dem geraubten Getreide aus der Ukraine werden zurückgewiesen.
Glaubwürdigkeit verloren
Ein Jahr nach Afrin gab US-Präsident Donald Trump grünes Licht für die zweite völkerrechtswidrige Operation der Türkei in Nordsyrien. Mit diesem geopolitischen Schachzug hoffte er, die Türkei von den Fängen Moskaus in den Schoss der westlichen Allianz zurückholen zu können. Städte und Dörfer wurden abermals gnadenlos bombardiert und Abertausende Zivilisten erneut vertrieben.
Und die Kurden? „In den Augen der Menschen verliert das westliche Gerede von Werten und Moral jede Glaubwürdigkeit“, sagt Kamal Sido, der Nahostexperte der „Gesellschaft für bedrohte Völker“. „Sie haben kaum eine andere Wahl, als zu resignieren.“