Wer sich mit der Bekämpfung von Mafia-Aktivitäten beschäftigt, reibt sich verwundert die Augen, was in unserem Nachbarland, der Schweiz, gerade passiert: es wird intensiver gegen ’ndrangheta und Co ermittelt, die Bedrohung durch die italienischen Mafia-Organisationen endlich ernst genommen.
Medien berichten plötzlich in einer Vielzahl von Artikeln über Mafia-Umtriebe in der Schweiz: Es wirkt so, als sei das Land aufgewacht. Dabei hatte der damalige Bundesanwalt Michael Lauber vor wenigen Jahren, 2015 noch verkündet, nicht mehr wegen Mitgliedschaft in der Mafia zu ermitteln, sondern nur gegen Personen, die kriminelle Handlungen für die Organisationen vornähmen. Dies war allgemein als Ankündigung verstanden worden, die Mafiosi weitgehend in Ruhe zu lassen. Was ist passiert?
Die Ausgangslage
Deutschland und die Schweiz mögen sehr unterschiedliche Länder sein, aus Mafia-Sicht stellten sich die Unterschiede aber nicht so groß dar: beide Länder bilden wichtige Aktionsgebiete für die Clans, in beiden Ländern lebt eine immense Zahl von Mitgliedern der italienischen Organisierten Kriminalität, beide Länder bieten stabile wirtschaftliche und politische Verhältnisse und sind gleichzeitig in der Verfolgung von Geldwäsche wenig aufmerksam. Was Gesetze anbelangt, sind beide schlecht auf die Gefahren durch intelligent und strategisch operierende komplexe kriminelle Gruppen wie etwa die ’ndrangheta eingestellt. In beiden Ländern ließ man die Mafiosi bisher weitgehend gewähren, so sie nicht allzu sehr mit Bluttaten auffielen.
Während man in Deutschland diese Linie bisher weiterverfolgt, hat die Schweiz einen radikalen Kurswechsel vollzogen. Dies belegen Aussagen der Köpfe der Strafverfolgungsbehörden, denen auch die entsprechenden Taten gefolgt sind.
Noch im Jahr 2015 kündigte Bundesanwalt Lauber in der Neuen Zürcher Zeitung an, dass „die reine Mitgliedschaft bei einer kriminellen Organisation nicht für eine Verurteilung“ ausreiche und dass die die Bundesanwaltschaft keine neuen Verfahren eröffne und laufende Fälle einstelle. Er stütze sich dabei auf einen Grundsatzentscheid, den er vor rund zwei Jahren gefällt habe. Lauber verband damit allerdings auch den Ruf nach einer Gesetzesänderung und die Ankündigung, stärker auf Unterstützungshandlungen für die kriminellen Organisationen zu schauen. Das Signal, das von Laubers Interview ausging, war dennoch verheerend. Erst recht, wenn man weiß, dass in der Schweiz der Bundesanwalt, also der oberste Ermittler des Landes, unabhängig agiert und qua Amt die Strafverfolgung des Landes in erheblichem Maß prägen kann.
Vor allem in Italien war man schockiert über die Erklärung, sie wurde verstanden als ein Signal, dass man die IOK im Nachbarland weniger entschieden bekämpfe. Bundesanwalt Lauber wurde in der Folge aus dem Amt gedrängt, allerdings aus anderen Gründen, unter anderem weil es verschwiegene und nicht-protokollierte Hinterzimmer-Treffen mit der Führung des Weltfußballverbandes FIFA gab, während Ermittlungsverfahren gegen die Organisation liefen. Der Bundesanwalt agiert zwar unabhängig, muss sich aber gegenüber einer Aufsichtsbehörde verantworten. In der Folge kann er vom Parlament abgesetzt werden. Das schweizerische Parlament ist es auch, das den Bundesanwalt ernennt.
Der neue Bundesanwalt gibt eine neue Linie vor
Inzwischen ist Laubers Ankündigung Makulatur. Seit September 2021 hat die Schweiz einen neuen höchsten Ermittler, Stefan Blättler. Noch bevor Blättler im Amt war, prophezeite die Aargauer Zeitung: „Er wird stark auf Organisierte Kriminalität, Geldwäscherei, Korruption und Wirtschaftskriminalität fokussieren. Er wird die Zusammenarbeit mit Behörden im In- und Ausland verstärken, weil er weiß, dass die Bekämpfung des grenzenlosen Verbrechens nur im Verbund erfolgreich sein kann.“ Blättler reiste tatsächlich nach seinem Amtsantritt rasch nach Rom, weil die Bekämpfung der Mafia für ihn von großer Wichtigkeit ist. Seitdem haben ihn auf dieser Mission mehrere Reisen nach Italien geführt.
Auch Nicolette della Valle, die Chefin der Schweizer Bundespolizei ist, äußerte sich vergangenen Herbst in Interviews in diesem Sinne. Sie kritisierte, dass der Austausch von Daten zwischen den Kantonen nur schwer möglich sei. Sie mahnte, es mangele das Bewusstsein, dass die Schweiz ein Mafia-Problem habe. Die Schweiz müsse mehr unternehmen, um die Mafia zu bekämpfen, andernfalls drohe eine Unterwanderung der Wirtschaft. Sie nannte auch ein konkretes Betätigungsfeld: Beim Bau von Nationalstraßen könnten sonst Mafia-Unternehmen den Zuschlag erhalten (ein Problem, das in Deutschland seit Langem besteht, aber kaum bekannt ist: eine große Bauunternehmerin aus dem Schwarzwald hatte sich in den 1980er-Jahren mit einem wichtigen Mafioso aus Kampanien zusammengetan. Das Unternehmen stritt aber jede Mafia-Beteiligung ab). Die Schweizerische Top-Polizistin Della Valle bezog sich in ihrem Interview in diesem Zusammenhang auch auf das Problem der Geldwäsche. Eine Befürchtung von ihr ist, dass die Schweiz wieder auf einer Schwarzen Liste landen könne, wenn sie nichts gegen die Clans unternehme.
Della Valle sagte, bei den Anti-Mafia-Maßnahmen fahre die Schweiz auf drei Schienen: die Strafverfolgung, die Kooperation und die Prävention. Bei der Repression arbeite die Schweiz immer intensiver mit Italien zusammen. In der Prävention sei die Schweiz noch nicht gut genug. Ihre Behörde hat eine beeindruckende und informative Webseite über die italienische Organisierte Kriminalität ins Netz gestellt. Das deutsche Bundeskriminalamt dagegen ist sehr zurückhaltend, was die Herausgabe von Informationen zu Mafia-Aktivitäten anbelangt.
Della Valle erkannte auch eine Entwicklung, die in Deutschland noch unbeachtet bleibt: dass nämlich die Mafia-Organisationen aufgrund intensiver Verfolgung in Italien sich verstärkt ins nahe Ausland verlagere. Tatsächlich gilt dies auch für Deutschland. Betrachtet man das Geschehen hierzulande über einen längeren Zeitraum, ist festzustellen, dass wichtige Führungspersonen Deutschlandbezüge haben und sich hier keineswegs nur Randfiguren niederlassen. Zudem ist die Bundesrepublik in strategischer Hinsicht für die Clans wichtig, da es hierzulande kaum zu Verurteilungen wegen der bloßen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung kam. In Italien dagegen sind laut einem NZZ-Bericht 7000 Personen aufgrund des Artikels 416bis in Haft, der Paragraph im italienischen Gesetz stellt die Mafia-Zugehörigkeit unter Strafe. Zum Vergleich: die Bundesregierung spricht von 505 Mitgliedern der ’ndrangheta in Deutschland plus rund 270 Personen, die zu anderen italienischen Mafia-Organisationen gehören. Sie müssen nicht befürchten, wegen der Mitgliedschaft in der Mafia in Haft zu kommen, und können sich hierzulande frei bewegen.
Die Schweiz hat ihren Tatbestand der Kriminellen Organisation und der Terroristischen Organisationen (Art. 260ter) verschärft. Seit Mitte vergangenen Jahres kann die Mitgliedschaft in einer solchen Organisation mit bis zu 10 Jahren Freiheitsstrafe bestraft werden. Die Erfahrung zeigt, dass die Gesetzeslage wichtig ist, noch wichtiger ist aber, dass bestehende Gesetze auch angewendet werden. Deutschland kann in beiden Punkten zulegen. Wie der erste Schritt gehen kann, zeigt die Schweiz.