Vor 20 Jahren: Baubeginn der israelischen Barriere mit den vielen Namen

Bei Jenin, besetztes palästinensisches West-Jordanland. Hiam Ghanemah würde gerne wie einst ihr Großvater Weizen, Gerste und die Hülsenfrucht Alfalfa anbauen. „Aber wir bauen kein Gemüse mehr an – wegen der Barriere und all den Vorschriften des (israelischen) Militärs“, erklärt die junge Palästinenserin. Denn das geerbte Stück Land von 25 Dunam (ca. 2,5 Hektar) liegt westlich der Barriere, die für Palästinenser und viele im israelischen Friedenslager ein Landraub- oder Apartheidwall ist und für John Dugard, UN-Sonderbeauftragter für Menschenrechte, die „Annektierungsmauer.“

2016 besaß Ghanemah eine Zweijahres-Genehmigung („Permit“), die es ihr erlaubte, ihr Land durch eines der 84 landwirtschaftlichen Tore zu erreichen. Plötzlich erhielt sie das Permit nur noch zur Olivenernte. Dank juristischen Beistands der israelischen Menschenrechtsorganisation HaMoked erstritt sie dann ein Dreijahres-Permit mit „40 Zugängen pro Jahr.“ Nachzulesen ist das im 50-Seiten-Bericht Creeping Dispossession (Schleichende Enteignung) derselben Organisation über die wachsende Beschränkung palästinensischer Landwirtschaft jenseits der Barriere. Dass Ghanemah an lediglich 40 von 365 Tagen ihr Land bearbeiten darf, ist für sie „unzureichend und unannehmbar.“ Nun muss sie „genau rechnen“, haushalten und Buch führen. Leider kann der Ehemann ihr nicht zur Hand gehen, denn „er bekommt kein Permit für mein Grundstück. Wir sind eine Familie, aber für die Armee sind wir es nicht. Das ist ein harsches, brutales Urteil.“ Immerhin hat die Frau ein landwirtschaftliches Permit, denn laut HaMoked wurden 2020 genau 73 Prozent solcher Anträge abgelehnt.

Seit Sommer 2002 bauen israelische Regierungen eine Barriere – oft mithilfe palästinensischer Arbeiter, wie der Film The Last Supper belegt. Die Sperranlage ist größtenteils ein elektrisch gesicherter Zaun, um Städte wie Jerusalem oder Bethlehem jedoch eine bis zu neun Meter hohe Mauer. Samt Patrouillenstraße fürs Militär, Gräben und Sandwegen zum Erkennen von Fußabdrücken ist der Streifen stellenweise bis zu 100 Meter breit. Israelische Stellen sprechen von Anti-Terror- oder Sicherheitszaun. Für den Publizisten Doron Schneider hatte Israel angesichts „dieser hässlichen Terrorwelle keine andere Wahl als eine Absperrung (…) aufzustellen, das diejenigen aufhalten soll, die unterwegs sind, um sich mitten unter uns in die Luft zu sprengen.“

Bereits 1995 schlug Ministerpräsident Rabin von der Arbeitspartei Avoda vor, mittels eines Sicherheitszaunes Selbstmordanschläge zu verhindern. Als in der Zweiten Intifada ab Herbst 2000 immer mehr Israelis durch Terroranschläge getötet wurden, holte man diese Idee aus der Schublade. Im April 2002 beschloss das israelische Kabinett den Bau. Zuvor hatte ein Brigadegeneral Militärverordnungen zwecks Landbeschlagnahme erlassen. Bis 2010 waren 60 Prozent der Barriere fertiggestellt, seitdem sind lediglich fünf Prozent dazugekommen, wohl aus Budgetgründen: Immerhin zwei Millionen US-Dollar kostet jeder Kilometer, bei Fertigstellung dürften es zwischen zwei und drei Milliarden Dollar sein.

Foto-Galerie von Johannes Zang:

Blick vom Ölberg nach Osten in Richtung judäische Wüste und Jordanien. Die Mauer trennt, nicht nur in diesem Abschnitt, Palästinenser von Palästinensern.
Wachtürme und Mauer gehören zusammen, so wie Soldaten, Grenzpolizei und private Sicherheitsfirmen.
Blick vom Ölberg nach Osten in Richtung judäische Wüste und Jordanien. Die Mauer trennt, nicht nur in diesem Abschnitt, Palästinenser von Palästinensern.
Qalqiliya (untersch. Schreibweisen), eine 55.000 Einwohner-Stadt im nördlichen West-Jordanland, ist von allen Seiten von der Mauer umgeben. Hier eine Aluminiumfabrik. Es gibt nur eine Zufahrtsstraße in die Stadt.
Mauer mit Turm bei Qalandiya. Die Mauer mit riesigem Abfertigungsterminal ist das Nadelöhr zwischen dem nördlichen West-Jordanland und Jerusalem.
In Beit Sahour, dem Nachbarort Bethlehems, ist die Barriere ein stark gesicherter Zaun.
In den letzten 20 Jahren haben einheimische wie ausländische Künstler und Aktivisten ihre Bilder, Graffiti und Appelle hinterlassen, darunter der englische Aktionskünstler Banksy. Zum Teil haben israelische Soldaten Bilder und Botschaften übertüncht.
Das einst belebte Viertel um das Rachelsgrab – auch eine Disco gab es – ist so gut wie ausgestorben.
Laut Bild haben 64 von 70 Betrieben geschlossen.
Der "Shop behind the wall" ist eines von wenigen Geschäften, unweit davon hat Banksy sein THE WALLED OFF-Hotel eröffnet.
Blick von Jerusalem auf Bethlehem und Beit Jala hinter der Mauer – ein Minarett ist zu sehen. Nicht nur in diesem Abschnitt hat Israel den Verlauf der Sperranlage zu seinen Gunsten festgelegt: abweichend von der "Grünen Linie" und möglichst nah an palästinensische Orte, die kaum mehr Flächen haben, um neue Wohn- oder Industriegebiete auszuweisen. An anderen Stellen umschließt die Barriere jüdische Siedlungen.
Eine palästinensische Muslima mit weißem Kopftuch „unterwandert“ die Mauer, durch einen Abwasserkanal, der wenig Wasser führte. Schnappschuss im Mauerabschnitt zwischen Jerusalem und Ramallah.
Die Familie Anastas muss sich wie Hiob fühlen: Erst isoliert die Mauer Haus und Werkstatt von der restlichen Stadt Bethlehems. Dann, kaum ins Zentrum Bethlehems umgezogen, dringt israelisches Militär bei einer Suchoperation nachts in die Kfz-Werkstatt von Johnny Anastas ein.
Maschinen, Apparate und Werkzeuge werden dabei konfisziert oder unbrauchbar gemacht. Die christliche Familie Anastas ist am Boden zerstört: wieder einmal. Claire und Johnny geben aber nicht auf.
Auch wenn sich selten Pilger und Touristen in das Souvenirgeschäft verlieren, sie werden stets freundlich bedient, von Groll ist nichts zu spüren, von tiefer Traurigkeit schon.

Die Selbstmordattentate der Nuller Jahre, die Hunderte Todesopfer forderten, sind seither deutlich zurückgegangen. Dass es an der Barriere liegt, bezweifelt der israelisch-jüdische Journalist Danny Rubinstein. Auch wenn 99 Prozent seiner Landsleute den Rückgang der Mauer zuschrieben, meint er: „Es hat überhaupt nichts mit der Mauer zu tun. Warum? Am frühen Morgen schalte ich das Radio ein und höre, dass die israelische Grenzpolizei 300 oder 500 palästinensische Arbeiter ohne Passierschein in Tel Aviv festgenommen hat. Wenn es also 500 schaffen, warum nicht auch ein Selbstmordattentäter?“ Recht bekommt er von der UNO. Deren Agentur OCHA in Ost-Jerusalem veröffentlichte diese Zahl: „Trotz der Barriere schmuggelten sich von Januar bis März 2013 Tag für Tag mindestens 14.000 Palästinenser ohne die erforderlichen Passierscheine nach Israel – auf der Suche nach Arbeit.“ Daran dürfte sich wenig geändert haben, wie Filme und Fotos im Internet beweisen: Palästinenser gelangen durch Abwasserkanäle unter der Mauer unkontrolliert auf die andere Seite oder stellen Leitern an und seilen sich ab.

Seit Baubeginn beschäftigt der Gader HaHafrada (hebr. Trennzaun) Gerichte, national wie international. 2003 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Resolution ES-10/14 und forderte ein Gutachten vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Im Juni 2004 kam dieses zum Schluss, der Bau der Sperrananlage sei nach internationalem Recht gesetzeswidrig. Gebaut wurde weiter, zwar da und dort mit Änderungen, da der Oberste Gerichtshof Israels das Verhältnis zum militärischen Nutzen in manchen Abschnitten als unverhältnismäßig erachtete. Trotz solcher Änderungen „beeinträchtigt die Barriere nach wie vor das Leben von Zehntausenden Palästinensern aufs Heftigste”, mahnte die israelische Menschenrechtsorganisation BTtselem vor Jahren. Nur drei Beispiele: 11.000 Palästinenser sind in der so genannten Saumzone westlich der Barriere zwischen dieser und Israel buchstäblich gefangen und benötigen eine Sondergenehmigung, um in ihren Häusern bleiben zu dürfen. 2.700 Häuser und andere bauliche Strukturen sind infolge des Barrierebaus isoliert und 5.300 weitere beschädigt worden. Da der Verlauf der Sperranlage größtenteils nicht der international anerkannten Grenze, der so genannten Grüne Linie folgt, sondern im Zick-Zack tief ins West-Jordanland eindringt, verliert dieses Gebiet von der Größe Unterfrankens 9,4 Prozent seiner ohnehin kleinen Fläche: Äcker, Haine und Plantagen, Brunnen und Quellen sowie Naherholungsgebiete. Beim so genannten Ariel-Finger dringt die Barriere 22 Kilometer tief ins West-Jordanland und umschließt die gleichnamige Siedlung. Nicht nur an dieser Stelle scheint das Ziel offensichtlich, israelische Siedlungen, die nach Genfer Konvention völkerrechtswidrig sind, dem Staat Israel einzuverleiben. Noch einmal B´Tselem: Der Bau der Sperranlage zerschneide palästinensisches Leben und „gestaltet willkürlich Landschaft und Raum um und folgt dabei Siedlungsgrenzen und Wünschen der israelischen Sicherheitskräfte.“

„Alle Lebensbereiche wurden abgetötet. Kontrollpunkt und Mauer hindern meine gesamte Kundschaft aus Jerusalem, zu mir zu kommen, mein Umsatz ist um 99 Prozent zurückgegangen.“ So klagte Herr Marwan aus Bethlehem vom Gartenbaubetrieb Greenland bald nach Baubeginn. Das pulsierende Viertel um das Rachelsgrab wirkt heute ausgestorben, die meisten Geschäfte haben geschlossen oder sind umgezogen, Greenland auch.

Amnesty International´s 280-Seiten Report Israel´s Apartheid against the Palestinians richtet folgende Empfehlung an die israelische Regierung:

„Beendet den Bau des Zauns/der Mauer im West-Jordanland einschließlich Ost-Jerusalems, die widerrechtlich das Recht auf Bewegungsfreiheit von Palästinensern einschränken. Hört mit der willkürlichen Zerstörung oder Beschlagnahmung von Häusern und Eigentum auf. All das unterhöhlt andere Rechte wie das auf angemessenen Wohnraum und Lebensstandard, auf Arbeit und Achtung des Familienlebens.“

Die Abschnitte der Sperranlage, die „diese Rechte verletzen, sollten entfernt werden.“

Iris hat 2016 für das Begleitprogramm EAPPI des Weltkirchenrates einen dreimonatigen Beobachtungsdienst am landwirtschaftlichen Tor Deir al-Ghussun geleistet. Dieses öffneten die zuständigen Soldaten oft spät oder schlossen früher als angekündigt. Bauern benötigen ein Dokument für Traktor und Esel, Bauteile und Werkzeuge, Pflanzensetzlinge oder Dünger. Einmal erlebte Iris, dass Tausend Chili-Pflanzen nicht passieren durften, da keine Genehmigung vorlag. Von diesem Tor können Bauern und Landarbeiter die Umrisse von Netanya am Mittelmeer sehen. Doch Iris weiß: „Seit dem Bau der Trennbarriere ist die Küste mit ihren herrlichen Stränden für die meisten der Arbeiter unerreichbar, obwohl diese nur 14 Kilometer entfernt ist.“


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