Teile der politischen Eliten in den letzten neutral verbliebenen Staaten Europas nutzen den Ukraine-Krieg zur weiteren Aushöhlung oder Abschaffung der Neutralität.
Teile der politischen Eliten in den letzten neutral verbliebenen Staaten Europas nutzen den Ukraine-Krieg, um die Neutralität ihrer Länder in Frage zu stellen. Die Schweiz bereitet eine engere Zusammenarbeit mit dem westlichen Militärpakt vor; ihr Präsident spricht von einer „kooperativen Neutralität“. Auch in Österreich werden Forderungen nach einer „Debatte ohne Scheuklappen“ über die Frage laut, ob das Land an seiner offiziellen militärischen Neutralität festhalten soll. Faktisch ist diese freilich längst genauso ausgehöhlt wie diejenige der Schweiz. Letzteres trifft auch auf Irland zu, wo sich laut Umfragen inzwischen 48 Prozent der Bevölkerung einen NATO-Beitritt vorstellen können. Der ehemalige Ministerpräsident Leo Varadkar plädiert für ein Referendum über eine irische Beteiligung an einer künftigen EU-Armee, die wiederum eng mit der NATO kooperieren soll. Auch auf Malta wird die Neutralität in wachsendem Maß kritisiert. In Dänemark wiederum hat ein Referendum in der vergangenen Woche dem bisherigen opt-out des Landes aus der EU-Militärpolitik ein Ende gesetzt.
„Kooperative Neutralität“
In der Schweiz dauert die Debatte über eine engere Kooperation mit der NATO an. Nach einschlägigen Gesprächen Mitte Mai in Washington traf Verteidigungsministerin Viola Amherd am 24. Mai auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zusammen. Anschließend berichtete sie, man habe sich geeinigt, in Zukunft „enger und besser“ zusammenzuarbeiten, wenn auch in Übereinstimmung mit der Schweizer Neutralität.[1] Diese schließe einen förmlichen Beitritt des Landes zu dem Militärpakt aus. Denkbar seien allerdings eine Ausweitung der gemeinsamen Manöver sowie ein Ausbau der Kooperation auf dem Feld des Cyberkriegs. Mit Blick auf den Widerspruch zwischen der Neutralität und einer engeren Zusammenarbeit mit der NATO äußerte Bundespräsident Ignazio Cassis in Davos, Bern verfolge eine „kooperative Neutralität“.[2] Bewegung kommt mittlerweile auch in die Frage, ob Bern bei seiner Ablehnung von Rüstungsexporten in Kriegs- und Krisengebiete bleiben soll. Zwar lehnt die Regierung in Bern die Lieferung von Munition aus Schweizer Produktion in die Ukraine weiterhin ab; solche Munition benötigen etwa die Flugabwehrpanzer des Typs Gepard, die Berlin der Ukraine zur Verfügung stellt. Allerdings erhebt die Schweiz keinerlei Einwände mehr gegen die Weitergabe von Leopard-Kampfpanzern, die sie vor Jahren an den deutschen Rheinmetall-Konzern zurückverkauft hat.[3]
„Debatte ohne Scheuklappen“
Auch in Österreich wird weiterhin über die Neutralität des Landes diskutiert. Am 9. Mai veröffentlichten zahlreiche Politiker, Wirtschaftsvertreter und Militärexperten einen Offenen Brief, in dem sie eine „Debatte ohne Scheuklappen“ über die österreichische Neutralität verlangten. Diese sei „zum vermeintlich unantastbaren Mythos erhoben“ worden, heißt es in dem Schreiben; allerdings habe man sie bereits in der Vergangenheit „in der Praxis sehr flexibel interpretiert“.[4] „Als EU-Mitglied und Teilnehmer der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU“ etwa sei Österreich längst zu Beistandsleistungen für andere EU-Staaten verpflichtet. Auch mit der NATO arbeitet das Land schon lange zusammen; so gehört es etwa seit 1995 dem NATO-Kooperationsprogramm Partnership for Peace (PfP) an. Darüber hinaus beteiligte es sich seit 2002 am Einsatz des Militärpakts in Afghanistan und stellt aktuell fast 250 Soldaten für den NATO-Einsatz im Kosovo bereit – rund dreieinhalb mal so viele wie Deutschland. Beobachter weisen darauf hin, dass das Bundesheer längst NATO-Standards übernommen hat.[5] Allerdings befürworten laut einer aktuellen Umfrage lediglich 16 Prozent aller Österreicher einen NATO-Beitritt des Landes; 70 Prozent sprechen sich auch noch drei Monate nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs entschieden für die Beibehaltung der österreichischen Neutralität aus.
Vorstoß für eine EU-Armee
Deutliche Vorstöße gegen die offizielle militärische Neutralität des Landes werden in Irland unternommen. Auch Irland kooperiert längst mit der NATO, ist 1997 der PfP beigetreten und beteiligte sich bereits 1999 erstmals am NATO-Einsatz im Kosovo. Kritiker weisen schon seit Jahren darauf hin, dass die Nutzung des Flughafens Shannon für den Transport von US-Truppen an Kriegsschauplätze im Mittleren Osten der irischen Neutralität widerspricht.[6] Allein im Jahr 2020 legten Berichten zufolge rund 75.000 US-Soldaten einen Zwischenstopp ein.[7] Hinzu kommt, dass Irland nach den Anschlägen vom 11. September 2001 einen Vertrag mit Großbritannien geschlossen hat, der es Kampfjets der Royal Air Force erlaubt, Flugzeuge, die in den irischen Luftraum eingedrungen sind, abzufangen oder gegebenenfalls sogar abzuschießen.[8] Auch dies verträgt sich schlecht mit der Neutralität. An dieser wollen einer Umfrage zufolge zwar 57 Prozent der Bevölkerung festhalten; zugleich sprechen sich jedoch bereits 48 Prozent für einen NATO-Beitritt aus. In der vergangenen Woche schlug nun Ex-Ministerpräsident Leo Varadkar vor, in einem ersten Schritt ein Referendum über die Beteiligung Irlands an einer zukünftigen EU-Armee abzuhalten; diese solle eng mit der NATO kooperieren.[9] Ein unmittelbares Referendum über einen NATO-Beitritt ist derzeit laut Auffassung von Varadkar noch zu riskant.
Verfassungsänderung gefordert
Auch Maltas Neutralität wird in jüngster Zeit zunehmend in Frage gestellt. Das Land hat sie 1987 in seiner Verfassung verankert; sie untersagt – eine späte Reaktion auf die erst 1964 zu Ende gegangene britische Kolonialherrschaft – die Errichtung auswärtiger Militärbasen auf maltesischem Territorium und die Nutzung militärischer Einrichtungen auf Malta durch ausländische Streitkräfte.[10] Allerdings wird auch Maltas Neutralität schon seit Jahren systematisch ausgehöhlt; so nimmt das Land am PfP-Programm der NATO teil, nach einer kurzen Phase von 1995 bis 1996 kontinuierlich seit 2008. Kritiker bemängeln, dass das Land es entgegen seiner Neutralität zugelassen hat, dass sein Luftraum im Jahr 2011 für Flüge im Rahmen des NATO-Kriegs gegen Libyen genutzt wurde. Jetzt sind auch weiter reichende Schritte im Gespräch. So wurde kürzlich im maltesischen Parlament die Forderung laut, die Neutralität komplett aus der Verfassung des Landes zu streichen; der Kalte Krieg, in dem Malta sich in keinen der beiden großen Blöcke habe einordnen wollen, sei schließlich vorbei, hieß es zur Begründung.[11] Allerdings ist unklar, ob die Bevölkerung veranlasst werden kann, die erforderliche Verfassungsänderung zu billigen: In einer Umfrage zu Jahresbeginn gaben rund zwei Drittel der Befragten an, sie befürworteten die Neutralität des Landes entschieden.
Opt-out abgeschafft
Bereits abgeschafft ist nun wiederum das dänische opt-out von der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP). Dänemark hatte sich nach dem Referendum von 1992 über den Vertrag von Maastricht, den die Bevölkerung zunächst zurückgewiesen hatte, eine Nicht-Teilnahme unter anderem an der Militarisierung der EU ausbedungen. Das Land war daher auch das einzige EU-Mitglied neben Malta, das nicht an dem Militarisierungsprogramm PESCO teilnahm. In einem erneuten Referendum sprachen sich am vergangenen Mittwoch nun rund zwei Drittel der Abstimmungsteilnehmer dafür aus, das opt-out aufzuheben. Dänemark soll demnach künftig in vollem Umfang an den militärischen Programmen der EU teilnehmen. Dies gilt nicht nur für PESCO, sondern auch für die Europäische Verteidigungsagentur, die die Aufrüstung der EU in gewissem Maß koordinieren soll. Jetzt müsse das Parlament ein entsprechendes Gesetz ratifizieren, und es seien außerdem „einige praktische Fragen“ zu klären, heißt es in Kopenhagen. Danach könne man in Brüssel offiziell mitteilen, das opt-out abgeschafft zu haben. In vollem Umfang an der ESVP teilnehmen können werde Dänemark voraussichtlich bereits ab dem 1. Juli.[12] Damit wäre neben den Bestrebungen, die Anbindung der letzten offiziell noch neutralen Staaten Europas an die NATO zu stärken, auch eines der letzten Hindernisse für die umfassende Militarisierung der EU entfernt.
Mehr zum Thema: NATO oder Neutralität.
[1] Amherd und Stoltenberg beschliessen engere Zusammenarbeit. swissinfo.ch 24.05.2022.
[2] Sibilla Bondolfi: swissinfo.ch 03.06.2022.
[3] Ladina Triaca: Wie steht die Schweiz da, wenn Kiew fällt? NZZ am Sonntag 05.06.2022.
[4] Prominente fordern ernsthafte Diskussion über Verteidigungspolitik. derstandard.de 09.05.2022.
[5] Stephan Löwenstein: Wie neutral bleibt Österreich? Frankfurter Allgemeine Zeitung 30.05.2022.
[6] S. dazu Irish Neutrality.
[7] Paul Hosford: Antonov plane cargo raises new questions about Irish neutrality. irishexaminer.com 02.06.2022.
[8] George Allison: Why do British jets ‘protect’ Irish airspace? ukdefencejournal.org.uk 10.03.2020.
[9] Gabija Gataveckaite: Leo Varadkar confident he could secure a Yes vote for Ireland to join EU army. independent.ie 01.06.2022.
[10] Ivan Martin: What does Malta’s neutrality mean? timesofmalta.com 01.06.2022.
[11] John Paul Cordina: Is Maltese neutrality still relevant, De Marco asks. newsbook.com.mt 17.05.2022.
[12] Danke, Dänemark. Frankfurter Allgemeine Zeitung 03.06.2022.