In Zusammenarbeit mit der Forschungsgruppe Kavilando berichtet Colombia Informa über Schwerpunktthemen aus ganz Lateinamerika. Diesmal sprachen wir mit Moira Millán, Menschenrechtsaktivistin und Weichafe Mapuche (Mapuche-Kriegerin).
Wer ist Moira Millán?
Oh, das ist leicht zu beantworten. Ich bin Weichafe, Kriegerin, Weichán bedeutet Kampf. Aber ich bin auch Verteidigerin. Weichánappeliert an den Geist der Selbstverteidigung, der von unseren Vorfahren genährt wird. Mit diesem Geist wurde ich geboren, und angesichts der vielen Ungerechtigkeiten und Angriffe auf mein Volk erwachte dieser Geist zum Leben und weckte in mir den Wunsch, für den Schutz des Lebens zu kämpfen und meine Identität als Weichafe zu akzeptieren.
Wie hast du diesen Geist in dir entdeckt, und wie kam es, dass du diesen Platz im Volk der Mapuche eingenommen hast?
Ich bin in der Stadt Bahía Blanca als Tochter eines Eisenbahnarbeiters aufgewachsen. Ich habe fünf Geschwister, einer davon war mein Zwillingsbruder. Wir lebten in großer Armut, mit Hunger und vielen Entbehrungen. Meine Mutter hat ihr Leben lang als Putzfrau gearbeitet. Aber sie war eine Frau mit einem außerordentlichen Gedächtnis und einem ausgeprägten Klassenbewusstsein. Immer wieder erzählte sie uns von den Grundbesitzern und Großgrundbesitzern, die ihr das Land weggenommen hatten, und von dem, was dann mit unserem Volk geschehen war. Aber mit 18 Jahren lernte ich mein Volk selber kennen. Durch die Spiritualität erkannte ich meine Identität, und da wurde mir klar, dass wir nicht nur einen politischen Kampf führen, sondern auch einen Kampf um die Wiedererlangung unserer geistigen Identität.
Worum geht es bei diesem Streit um die indigenen Länder und dem Kampf, den unsere Vorfahren schon geführt haben?
Puelmapu liegt im Wallmapu und gehört zum Gebiet der Mapuche. Gulumapu steht unter chilenischer Verwaltung und Puelmapu unter argentinischer. Ein Teil von Puelmapu, ein riesiges Gebiet, befindet sich in den Händen transnationaler Unternehmen, viele nordamerikanische Firmen haben sich hier angesiedelt. Puelmapu verfügt über erhebliche Öl- und Gasvorkommen und eine Menge Bodenschätze. Wallmapu reicht vom Pazifik bis zum Atlantik. Die großen Konzerne, die die Welt beherrschen, fühlten sich davon natürlich angezogen, und deshalb sind sie nun in Puelmapu. Dagegen halten wir unser Recht auf Leben und vertreten die Interessen unseres Volks und unserer Gebiete. Wir fungieren als eine Art Stopper gegen das extraktivistische Vorpreschen dieser Großkonzerne, und entsprechend angespannt ist nun die Situation. Und was diese Terricidas („Landmörder“) zusätzlich beunruhigt: dass sich Mapuche und die Criollos zur Verteidigung des Lebens zu einer strategischen Allianz zusammengefunden haben. Auch wenn der Staat es nicht wahrhaben will: Argentinien ist ein plurinationales Land, das sollte man nicht vergessen ist, und auch die Gebiete sind plurinational. Die Invasion in unsere Gebiete betraf 36 indigene Völker. Und was wir derzeit erleben, ist ein Bewusstwerdungsprozess der kreolischen Bevölkerung, die versucht, sich als Einheit zusammenzufinden, um gemeinsam für die Verteidigung ihrer Gebiete zu kämpfen. Und dann ist da der Staat, der das alles noch nicht ganz verstanden hat und von der geeinten Kraft der Völker überfordert ist.
Stichwort Staat: Welche Rolle spielt denn der Staat im Kampf um die Verteidigung der Gebiete?
Die argentinische Republik ist ein Staat mit postkolonialen Strukturen. Das ist sehr wichtig klarzustellen, denn im Gegensatz zu anderen Staaten, die ihre indigenen Wurzeln anerkennen, ist Argentinien eurozentristisch. Argentinien hat sich schon immer als das Europa Lateinamerikas betrachtet. Die fortwährende Beschneidung der Rechte der indigenen Völker basiert auf dem kolonialen Grundgedanken der weißen Vorherrschaft, und der koloniale Staat hat die europäischen Interessen an unseren Gebieten immer begünstigt. Hinter der Eroberung der Wüste stand ein strategischer, von der britischen Krone finanzierter Plan zur Eliminierung unserer Völker. Bis heute besitzt Großbritannien ausgedehnte Ländereien in Patagonien. Das Volk der Mapuche hat es jedoch geschafft, sich seine Identität größtenteils zu bewahren, das verdanken wir allein unseren Vorfahren, die ihre Erinnerungen und ihren Schmerz an uns weitergegeben und uns damit geholfen haben, einen Völkermord zu überstehen, mit allem, was dazu gehört. Natürlich sind unsere kulturellen Wurzeln im Vergleich zu Gulumapu und den Mapuche in Chile viel weniger gefestigt. Mit der so genannten Befriedung von Araucanía hat Chile seine Integrations- und Assimilationspolitik an den Wünschen der Stärkeren ausgerichtet, während Argentinien seine Wüstenkampagne durchgezogen und einen konsequenten Völkermord betrieben hat. Dieser ging mit einem Epistemizid einher, im Zuge dessen unsere Kultur massiv bekämpft und das Wissen unserer Vorfahren vernichtet wurden. Das passiert übrigens auch heute noch. Aber es gibt einen Generationenwandel: eine blühende Saat, die entschlossen ist, für ihre Identität zu kämpfen. Und so gibt es diese zwei Weltanschauungen, die einander widersprechen: den kolonialen Staat, der sich den Konzernen, der Ausbeutung, dem Extraktivismus, dem Terrizid und dem Tod verschrieben hat, und ein Volk, eine Nation wie die Mapuche, die das Leben verteidigen, ihre Identität bewahren und vor allem eine neue Form von Zivilisation schaffen will.
Angesichts der kolonialen Logik, die in Lateinamerika noch immer fortbesteht, ist das natürlich ein ganz wichtiger Ansatz. Erzähl uns doch mal was von diesen Unternehmen, die die indigenen Gebiete für sich beanspruchen.
Wir haben Panamerican Silver, da ist Bill Gates übrigens einer der Hauptaktionäre, dann haben wir Chevron, und dann breiten sich Firmen aus Katar immer weiter im Gebiet der Mapuche aus. Eine lamien (Schwester) von uns, Soledad Cayunao, hat den Prinzen von Katar am Hals, nicht mehr und nicht weniger. Die Regierung Macri hatte ihm erlaubt, die Quellen des Leufú-Flusses zu kaufen, das ist der wichtigste Fluss, der durch die Provinz Chubut fließt. Das hätte gar nicht passieren dürfen; diese Quellen liegen im Grenzgebiet, dennoch wurden sie unter der Regierung Macri verkauft, zum Schaden der Mapuche. Ted Turner [Medienunternehmer] ist hier einer von den Großgrundbesitzern, die sich Mapuche-Gebiete angeeignet haben. Silvester Stallone [Schauspieler und Rambo-Darsteller] hat sich auf Mapuche-Land festgesetzt. Eine Lamien, Juana Weche, nennen wir mittlerweile nur noch Wonder Woman, weil sie sich voll und ganz dem Kampf gegen „Rambo“ widmet. Wäre Gabriel García Márquez jemals hier gewesen, hätte Patagonien ihn sicherlich zu seinem fiktiven Macondo [aus Hundert Jahre Einsamkeit] inspiriert. Patagonien ist einfach das Macondo Südamerikas.
Die Mapuche-Nation ist eine Einheit, aber warum ist sie geteilt?
Das Volk der Mapuche blickt auf eine etwa 14.000-jährige Geschichte in diesen Gebieten zurück, die zusammen Wallmapu heißen. Wir sind ein Volk mit einer Sprache, mit einer Kosmovision und einem Vermächtnis unserer Vorfahren. Das Volk der Mapuche ist nicht geteilt, sondern sein Territorium wird von zwei Besatzungsmächten beansprucht, dem chilenischen und dem argentinischen Staat, und diese Staaten haben die Anden zu einer Grenze gemacht, während wir das Gebirge immer als Brücke zwischen dem Pazifik und dem Atlantik gesehen haben. Heute arbeiten sie daran, die Grenzen zwischen Puelmapu und Gulumapu weiter zu festigen, unter anderem, um uns Mapuche die Durchreise zu erschweren.
Wir haben heute eine akademisch gebildete Generation Mapuche, aber was die Sicht auf die Welt und die Art, sie zu verändern, angeht, gibt es Unterschiede. Wie steht es denn um euer Verhältnis zu dem, was man hier langläufig unter Bildung versteht?
Das Bildungssystem reproduziert das kolonisatorische Verhältnis des Staats zu unserer Denkweise, unseren Sitten und Gebräuchen. Es ist darauf ausgerichtet, seine Hegemonie aufrechtzuerhalten. Die argentinische Nation wurde auf indigenem Territorium errichtet, von dort aus wurden die Völker ihrem Herrschaftssystem unterworfen, und das heutige Bildungsmodell wurde letztlich entwickelt, um die Auslöschung der Kulturen voranzubringen, die vor diesem Staatengebilde existiert haben. Bis heute werden die Geschichte und die Realität der indigenen Völker von diesem Bildungssystem totgeschwiegen. Es basiert auf der aktuellen Geopolitik und lässt die Kosmographie unserer Vorfahren außer Acht. Somit trägt auch dieses Bildungssystem zum Epistemizid bei, indem es die Sprachen der Vorfahren vernichtet. Also sind wir permanent auf der Suche nach alternativen Bildungsansätzen für unsere Pichi Keche, unsere Kinder, die sie in ihrer Identität bestärken. Die Initiative Mujeres Indígenas por el Buen Vivir (Indigene Frauen für ein gutes Leben) arbeitet zum Beispiel an einem Projekt zur Förderung der Vielfalt. Wir sagen: Eine Universität ist eine Welt für sich, aber eben nur eine. Die Pluriversität vereint viele Welten, die miteinander kommunizieren, auf Augenhöhe, mit Respekt und Liebe und dem Willen, die Denkweise unserer Vorfahren am Leben zu halten. Durch sie können wir erreichen, dass das Wissen unserer Vorfahren erhalten bleibt und rehabilitiert wird, denn aktuell wird es in Argentinien kriminalisiert. Wenn eine traditionelle Ärztin bei einer Geburt anwesend ist, kann sie wegen illegaler Ausübung medizinischer Tätigkeiten bestraft werden. Aber gleichzeitig ist es innerhalb dieses Bildungssystems nicht möglich, als indigene Hebamme eine Zulassung zu bekommen, obwohl immer mehr Frauen, nicht nur indigene, auch weiße, sich für eine traditionelle Geburt entscheiden, denn unsere Art, ein Kind auf die Welt zu bringen, steckt voller Poesie, voller Schönheit und Liebe, und das findest du bei den in den Krankenhäusern angebotenen Gesundheitsdienstleistungen einfach nicht. Pluriversität ist unsere Antwort auf die Notwendigkeit, unser Wissen zu erhalten und zu legitimieren, denn die offiziellen Bildungseinrichtungen unseres Staats halten an ihrer Vormachtstellung fest und entscheiden, welches Wissen esoterisch und was der subalternen Kultur zuzurechnen ist. Deshalb liegen wir im Clinch mit dem Bildungssystem, denn es geht um die Gleichwertigkeit unseres Wissens und unserer Praktiken, die in diesen Zeiten so notwendig und unverzichtbar sind wie nie.
Ich würde gern noch auf die Rolle der Frauen in diesen Kämpfen um die Verteidigung von Land und Leben und den Fortbestand der kulturellen Identität eingehen.
Unsere Rolle in all’ dem ist sehr wichtig, denn wir werden genauso getötet, und das auf viele unterschiedliche Arten. Nimm zum Beispiel unsere Anti-Chineo-Kampagne: Da geht es um eine kolonialistische „Tradition“, die die Spanier mitgebracht haben und die heute noch praktiziert wird. Zum Eintritt in die Pubertät wurden Mädchen systematisch von den Spaniern vergewaltigt. Besonders die Mädchen im Norden des Landes sind von diesen Sexualverbrechen heute noch betroffen. Für uns ist das eine Form des Völkermords. Uns bleibt keine Wahl: Wir Frauen müssen uns dagegen auflehnen, uns zusammentun und kämpfen, denn leider ist die Kolonialisierung auch an unseren Männern nicht spurlos vorübergegangen: Auch sie haben den ganzen patriarchalen Mist leider absolut verinnerlicht. Deshalb sagen wir: Unser Kampf ist antipatriarchal und antikolonial; es ist ein revolutionärer Kampf, der von den Kräften unserer Erde ausgeht, von unserem Land aus in die Welt. Wenn wir alles verändern wollen, müssen wir wohl auch alle Frauen der Welt erreichen. Der antipatriarchale Kampf kann nur gelingen, wenn sich alle Frauen im antikolonialen Kampf für das Leben engagieren, und zwar nicht nur Frauen aus den indigenen Gebieten, sondern alle möglichen Frauen.
Erzählst du uns auch noch was von den Kämpfen um Freiheit, zum Beispiel im Fall von Facundo Jones Hualas?
Der Staat hat Schuld, aber auch die Gesellschaft, die nie zur Verantwortung gezogen wird. Ihr extremer Rassismus toleriert die Repression der Regierung gegen unsere Lonkos (Führungspersönlichkeiten des Mapuche-Volks), Machis (Heilerinnen) und alle Weichafes, ihre Unterdrückung und Verfolgung. Der Fall Facundo Jones Huala hat wahrscheinlich deshalb so viel öffentliche Aufmerksamkeit erlangt, weil es den rechten, hegemonialen Medien entgegenkam, den Kampf von vier Millionen Menschen auf die Person Huala zu reduzieren, der sicherlich einige repräsentativen Eigenschaften ins sich vereint, aber so sparen sie sich die Arbeit, über all‘ die Frauen, Lonkos, Machis und Weichafes zu sprechen, die in unseren Kampf involviert sind. Sie konzentrieren sich also auf diesen einen, und das ist bestimmt kein Zufall, sondern Teil einer Kommunikations- und Politik-Maschinerie, hinter der die Söldnermedien der transnationalen Konzerne stehen.
Wie könnte eine Soliaktion aussehen, die nicht nur die Mapuche unterstützt, sondern die Kämpfe für das Leben und indigenes Land in ganz Lateinamerika?
Wir müssen begreifen, dass der Fortbestand aller indigenen Völker, die lange vor den Staaten existierten, fest in den Lauf des Lebens eingewoben sind, genau wie die gesamte Fülle des Lebens mit allen Ökosystemen. Das heißt: Der Amazonas ist nicht denkbar ohne das Leben der Völker, die in der Amazonasregion leben. Deshalb dürfen wir nicht weiter so an alles rangehen, als wären wir nicht Teil davon, und denken, der Kampf um die Umwelt sei eine abgeschottete Angelegenheit, bei der es einzig um den Erhalt bestimmter Ökosysteme geht. Der Kampf um das Leben in unseren Gebieten schließt das Leben unserer Völker genauso ein wie den Erhalt ihrer Spiritualität und das Leben der Ökosysteme. Wir sind der Meinung, dass der Kampf gegen den Terrizid plurinational und weltweit geführt werden muss. Wir sind vor allem eins: Erdenbewohner*innen. Wenn das der wichtigste und ursprünglichste Aspekt unserer Identität ist, dann verbindet er auch alle Menschen, folglich muss der Tod, das Verschwinden und die Auslöschung aller Lebensformen für uns alle schmerzhaft sein. Und wir sind in der Lage, zu kämpfen, denn unsere wichtigste Verbündete ist Mapu, unsere Mutter Erde.
Übersetzung: Lui Lüdicke