Offener Brief an die schwedischen und finnischen Bürger*innen, vor allem an die jungen Menschen, die nicht entscheiden, aber die Folgen dieser Entscheidung darüber tragen werden, was der Nato-Beitritt 1949 für Italien bedeutete.
Es ist nicht einfach, den Bürger*innen Nordeuropas, die bisher im Übrigen den Status der Neutralität genossen haben, zu erklären, was die „atlantische Loyalität“ für Italien, aber generell für die Länder Südeuropas bedeutet hat: mit zwei Worten, auch, wenn das schwer zu glauben ist, hat sie der internationalen Strategie der Vereinigten Staaten Sicherheitsgarantie gegeben, war aber im Gegenzug eine Bedrohung für die Sicherheit unserer Länder! Wir dürfen nicht vergessen, dass es in den südeuropäischen Staaten in der Nachkriegszeit große Bewegungen der Arbeiter*innen und Bürger*innen gab, die von den USA als die „kommunistische Bedrohung“ angesehen worden sind, die es einzudämmen oder gar zu unterdrücken galt. In Griechenland war ein Militärputsch nötig, um die ‚Diktatur der Obersten‘ (1967-1974) einzuführen. In Italien war die Geschichte nicht weniger gewaltvoll: blutige Anschläge, Verschwörungen, ‚schwarze Verschwörungen‘ (Faschisten), Putschversuche, nie aufgeklärte Geheimnisse, bei denen die aktive Komplizenschaft (wenn nicht sogar Führung) der NATO zweifellos bewiesen ist.
Wir werden notwendigerweise schematisch vorgehen: es gibt zu viele Untersuchungen und Veröffentlichungen zu diesen Themen (die selbst viele Italiener*innen ignorieren!), um sie auch nur aufzulisten.
Das NATO-Abkommen brachte Souveränitätsabtretungen mit sich, eine echte Militarisierung des Territoriums (vielleicht wisst ihr nicht, dass wir mehr als 100 US-Militärstützpunkte in Italien haben!). 1959 wurden unter großer Geheimhaltung 30 Raketen mit Atomsprengköpfen in Apulien installiert (apropos Demokratie), die in der Lage waren, sowjetisches Gebiet zu treffen (es war nötig, die ‚Kubakrise‘ von 1962 abzuwarten, bis sie abgezogen wurden).
Ein zentraler Punkt ist, dass die atlantische Loyalität eine Bedingung für alle linken Mächte war, die institutionelle oder regierungspolitische Ambitionen hatten: dies geschah für die Öffnung der Sozialistischen Partei Italiens in den frühen 1960er Jahren (Mitte-Links-Regierung); es wiederholte sich für die Kommunistische Partei Italiens im Hinblick auf den Historischen Kompromiss in den 1970ern; es geschah nach dem Fall des Franco-Regimes für die Sozialistische Partei Spaniens; es geschah dem jungen Slowenien, dessen Positionen für atomare Abrüstung wieder aufkamen, als es um den NATO-Beitritt ging.
Hinter der NATO stand das geheime Stay behind-Netzwerk und das militärische Gladio-Netzwerk, über das viele Aspekte noch nicht aufgedeckt sind: vielleicht hast du noch nie davon gehört.
Während der 1960er Jahre vermehrten sich in Italien eine Reihe von subversiven Komplotten und blutigen Anschlägen, die einerseits den Weg Italiens zu einer autonomen Entwicklung für immer versperrten, um die ihm in der Nachkriegszeit zugewiesene (und von der NATO garantierte) untergeordnete internationale Rolle zu überwinden. Auf der anderen Seite wurde im atlantischen Kontext mit umfangreicher internationaler Komplizenschaft das eingeleitet, was heute als ‚Strategie der Spannung‘ bezeichnet wird: ein nie vollständig aufgeklärter Komplott von Staatsapparaten (Carabinieri, Armee, Geheimdienste), mit Waffenlieferungen und NATO-Unterstützung, italienischen faschistischen Organisationen (‚Ordine Nuovo‘, 1966) und internationalen Organisationen. Aber wahrscheinlich gab es eine größere internationale geheime Struktur, über die wir nichts wissen, mit verschiedenen Befehlsketten, die in den Verteidigungsapparat der NATO integriert waren.
Die Spannung stieg 1969 wachsend an, von den Bombardierungen auf Züge im Frühling/ Sommer bis hin zum Massaker auf der Piazza Fontana am 12. Dezember: hinter den subversiven Komplotten steckte die Führung von Ordine Nuovo und Alleanza Nazionale, aber die übergeordnete Führung kam aus dem Büro für vertrauliche Angelegenheiten des Innenministeriums und war mit der NATO verbunden und wurde von den USA gesteuert. Es ist erwähnenswert, dass im letzten Prozess um Piazza Fontana, der 2005 (36 Jahre später!) vor dem Obersten Gerichtshof stattfand, alle Angeklagten freigesprochen wurden und die Angehörigen der Opfer des Massakers zur Zahlung der Gerichtskosten verurteilt wurden!
Es war der Auftakt zu einer Reihe von Putschversuchen (1970: Putschversuch des faschistischen Kommandanten Junio Valerio Borghese; 1974 war der Versuch eines weißen Putsches durch Edgardo Sogno geplant) und Massakern: Italicus-Zugmassaker; Piazza della Loggia, Brescia 28. Mai 1974, 8 Tote, 102 Verletzte.
Wir denken, dass ihr alle Pier Paolo Pasolini kennt, aber vielleicht nicht die dramatische Anschuldigung in der Zeitung Corriere della Sera vom 14. November 1974: ‚Ich weiß. Ich kenne die Namen derer, die für das verantwortlich sind, was man einen ‚Putsch‘ nennt (was eigentlich eine Reihe von ‚Putschen‘ ist, die als System zum Schutz der Macht eingeführt wurden). Ich kenne die Namen der Verantwortlichen für das Massaker von Mailand… die Massaker von Brescia und Bologna… Ich kenne die Namen der ‚Führungsspitze‘, die die beiden alten faschistischen ‚Putschisten‘ gesteuert hat… Ich kenne alle Namen und ich kenne alle Fakten… Ich weiß es. Aber ich habe keine Beweise. Ich habe noch nicht einmal Hinweise.‘ Pasolini wurde 11 Monate und 18 Tage später umgebracht! Am 2. November 1975. Er arbeitete gerade an einem brisanten Buch, Petrolio (Öl).
Ihr kennt sicherlich die Geschichte der Entführung des Staatsmannes Aldo Moro im März 1978: sein Schicksal war besiegelt, als er anfing, unaussprechliche Geheimnisse von Gladio und des NATO-Verteidigungssystems zu enthüllen.
Die atlantischen Geheimnisse und Hypotheken waren damit noch nicht zu Ende. Beim Massaker von Ustica (27. Juni 1980, Abschuss des Itavia-Fluges, 81 Opfer) erlaubte die Rolle unseres Landes im internationalen Kontext, dass ausländische Militärschiffe und -flugzeuge unseren Himmel und unsere Meere durchstreifen und so reale Kriegsszenarien provozieren: diese unsere Subalternität erlaubt es Frankreich und den Vereinigten Staaten stets, hinsichtlich jeglicher Anfrage zur Klärung zu schweigen, sie kennen die Wahrheit. Etwas mehr als ein Monat später (1. August 1980) tötete eine schreckliche Explosion im Bahnhof von Bologna 85 Menschen und verletzte mehr als 200, der schwerwiegendste Terroranschlag, der im 20. Jahrhundert in Europa verübt wurde: nach 41 Jahren ist immer noch nicht alles aufgeklärt!
Dies wiederholte sich bei der ‚Moby Prince‘ Katastrophe vom 11. April 1991 und der mittlerweile unbestrittenen wie auch rätselhaften Anwesenheit von Kriegsschiffen in jener Nacht auf der Reede von Livorno. Es ist offensichtlich, dass die Vereinigten Staaten und die NATO die Wahrheit genauestens kennen, nicht nur über dieses Geheimnis, sondern auch über das Massaker von Ustica und alle anderen italienischen Geheimnisse.
Die NATO-Mitgliedschaft bürgt auch eine schwerwiegende Folge: die europäischen Partner haben sich darauf geeinigt, US-Atomwaffen in deren Territorien aufzunehmen (atomare Teilhabe). Die Zahl dieser Sprengköpfe erreichte in den 1960er Jahren einen Höchststand von etwa 7000 und Mitte der 1980er lag sie bei 4000. Es ist schwierig, dies als Sicherheit zu interpretieren.
Doch die Situation verschlechterte sich 1989 nach dem Fall der Berliner Mauer: Der Warschauer Pakt wurde aufgelöst, aber im Gegenteil dazu veränderte die NATO buchstäblich ihre Gestalt und entwickelte sich mit der Verabschiedung des ‚New Strategic Concept‘ von 1991 zu einem ganz anderen Gebilde, das NATO-Interventionen ‚außerhalb des Bündnisgebiets‘ erlaubte und sogar Interessen an der Kontrolle strategischer Gebiete und Ressourcen auch auf weit entfernte Regionen ausdehnte. Es entwickelten sich die Konzepte des Peacekeeping, der abnormen ‚humanitären Kriegsführung‘, die in Wirklichkeit die Balkan-Kriege (1992- 1999), die zur Auflösung der Republik Jugoslawien führten, die katastrophale Intervention in Afghanistan (NATO seit 2003), den Krieg in Syrien (2012), und den Angriff auf Libyen (2011) mit dem Mord an Gaddafi, der ein großer Verbündeter Italiens war, legitimierte. Die Beteiligung der NATO war massiv. Es ist schwer, keine neokolonialen Motive hinter diesen Eingriffen zu erkennen.
Es gäbe noch viele Argumente aufzuführen, aber wenigstens ein weiterer Punkt ist wichtig. Ihr wisst, dass die NATO ein Bündnis mit Atomwaffen ist, nicht nur mit denen der USA, Frankreichs und Großbritanniens, sondern auch mit denen, die wegen der Bedingung der nuklearen Teilhabe noch in vier weiteren europäischen Ländern (in Belgien, Deutschland, Italien und den Niederlanden – und der Türkei) stationiert sind: Meint ihr, dass diese unserer Sicherheit dienen? Sollte jemals ein Atomkrieg ausbrechen, wäre Italien mit 35 Sprengköpfen eines der ersten Ziele! Bedenkt, dass die Sprengköpfe auf dem italienischen Stützpunkt in Ghedi Torre von Flugzeugen der italienischen Luftwaffe betrieben würden und dass in Kürze die B61 durch die moderneren und akkurateren B61-12s ersetzt werden (siehe Bulletin of the Atomic Scientists, H. Kristensen & M. Korda, “How many nuclear weapons does the United States have in 2022?‘). Wisst ihr, dass die NATO absolut gegen den Atomwaffenverbotsvertrat (AVV) ist? Die einzigen europäischen Länder, die es ratifiziert haben, sind Österreich, Irland, der Vatikanstaat und San Marino, all jene, die nicht der NATO angehören.
Hört auf uns, die diese Erfahrung seit 73 Jahren gemacht haben, eine NATO- Mitgliedschaft ist definitiv nicht ratsam!
Die Übersetzung aus dem Italienischen wurde von Linda Michels vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!