Der anhaltende Krieg in der Ukraine und die in diesem Zusammenhang von westlichen Staaten geführte antirussische Sanktionspolitik bewirken, dass die Konfrontation zwischen dem Westen und Russland immer weiter eskaliert. Viele Länder weltweit sind besorgt darüber und versuchen in diesem Konflikt außen vor zu bleiben. So auch Indien, das konsequent eine neutrale Haltung einnimmt. Dass die Regierung in Delhi dabei aber auch die besagten Sanktionen ignoriert und weiterhin “Geschäfte“ mit Moskau macht, bringt ihr unter anderem viel Kritik aus den USA ein.
Von Alexander Männer
Angesichts Krieges in der Ukraine und der antirussischen Sanktionspolitik diverser westlicher Staaten folgt die Großmacht Indien offenbar dem chinesischen Beispiel und lehnt es ab, Partei in dem Konflikt zwischen dem Westen und Russland zu ergreifen. Dass Delhi in dieser Frage konsequent und langfristig neutral bleiben könnte, wurde bereits deutlich, als man Japan bei der Lieferung von Waffen an die ukrainische Armee die Hilfe verweigerte.
Die indische Führung spricht offiziell von “traurigen Ereignissen“ in der Ukraine und ruft in dieser Krise zu Verhandlungen und Frieden auf, will sich an den westlichen Wirtschaftsbeschränkungen jedoch nicht beteligen, die die USA, Großbritannien, die Mitglieder der EU und andere Staaten bislang gegen Moskau eingeführt hatten. Diesbezüglich ähneln sich die Positionen Indiens und Chinas, was dafür spricht, dass die Delhi seine Haltung hinsichtlich der Sanktionspolitik überlegt gewählt hat.
Und während die Sanktionen zu einem dramatischen Rückgang der Handelsbeziehungen zwischen dem Westen und Russland geführt haben, wird bei dem russisch-indischen Handel eine Zunahme verzeichnet. Dieser Trend hält trotz der am 11. April abgehaltenen virtuellen Konferenz zwischen Washington und Delhi an, bei der die US-Führung ihre indischen Kollegen aufgefordert hat, die Kooperation mit den Russen bei der Rüstung, Energie und in anderen strategischen Bereichen zu stoppen.
Viele Experten betonen, dass Indien definitiv nicht bereits sei, seine Sicherheitsinteressen zugunsten der Ambitionen der Amerikaner zu gefährden, damit diese ihre globale Hegemonie aufrecht erhalten können. Deshalb werde Delhi weiterhin etwa die eigene Verteidigungsfähigkeit stärken und unter anderem die militärtechnische Zusammenarbeit mit Moskau fördern.
Dabei könnte es indischen Medien zufolge künftig sowohl um neue Lieferungen von Kampfflugzeugen, Panzern und anderen russischen Waffensystemen als auch um den Kauf der neuesten S-500-Luftabwehrraketen gehen. Die Russen wären bereit, mit dem Export zu beginnen, sobald die russische Armee die Indienststellung des Raketensystems abgeschlossen habe, heißt es.
Wirtschaft lehnt Sanktionen ab
Noch deutlicher wird die Haltung Indiens bezüglich der westlichen Sanktionspolitik im Bereich Wirtschaft und Handel. So haben indische Unternehmen etwa die Einfuhren von russischem Rohöl, dem auf Verlangen der USA und anderer westlicher Staaten weltweit ein Embargo droht, nach Ausbruch des Ukraine-Krieges sogar verdoppelt. Wie das Portal des britischen TV-Kanals BBC berichtete, soll der Umfang der russischen Erdöllieferungen im vergangenen März nach Indien, das als drittgrößter Ölimporteur und -verbraucher der Welt gilt, vergleichbar mit dem Umfang der Lieferungen für das gesamte Jahr 2021 sein.
Laut Angaben des US-Senders CNBC kaufen indische Unternehmen zudem große Mengen der russischen Kohle auf, die von Europa mit einem Embargo verhängt wurde. Indiens Kohleimporte aus Russland betrugen im März demnach rund eine Million Tonnen – das sind Höchststände, die zum letzten Mal vor mehr als zwei Jahren verzeichnet worden waren.
Dazu schreibt die russische Zeitung Vzgljad unter Verweis auf die Nachrichtenagentur Bloomberg, dass der indisch-russische Rohstoffhandel nicht im Rahmen staatlicher Ausschreibungen läuft, sondern mittels privater Initiativen. Dabei wird vor allem der finanzielle Nutzen solcher Verträge hervorgehoben, allerdings könnte es auch ein Weg sein, die Wirtschaftsbeschränkungen zu umgehen.
Nicht zuletzt hat Indien öffentlich angedeutet, ihre Investitionen in den russischen Energiesektor zu erhöhen. Der Nachrichtenagentur Reuters zufolge planen staatliche Unternehmen in Indien, Russland-Investitionen des britischen Erdölkonzerns BP zu übernehmen, der an diversen Projekten des russischen Ölkonzerns Rosneft in Ostsibirien beteiligt ist und aufgrund der Sanktionspolitik seine Tätigkeit einstellen muss. BP hatte in diesem Zusammenhang bereits angekündigt, seinen Anteil von knapp 20 Prozent an Rosneft aufzugeben.
Darüber hinaus will das indische Erdgas- und Mineralölunternehmen ONGC Videsh offenbar US-amerikanische Anteile am Sachalin-1-Projekt zur Förderung von Öl und Gas im russischen Fernen Osten aufkaufen, wobei der Konzern bereits mit 20 Prozent daran beteiligt ist. Nach Angaben von Interfax könnte es für ONGC Videsh nun darum gehen, den 30-Prozent-Anteil des US-Ölriesen ExxonMobile zu erwerben, da die Amerikaner ihre Aktivitäten in dieser Region beenden würden.
Indien soll von Sanktionen überzeugt werden
Dass Indien seine Beziehungen zu Russland offensichtlich weiterführen will, betrachtet der Westen in der gegenwärtigen Lage als genau so ein großes Problem, wie den chinesisch-russischen “Zusammenhalt“. Doch während die USA, Großbritannien & Co. den Chinesen mit schwerwiegenden Konsequenzen drohen und Peking für den Fehlschlag der Sanktionen verantwortlich machen, wird bei Indien anscheinend eine weichere Gangart eingeschlagen.
Anders als China soll Indien nicht gezwungen werden, sondern davon überzeugt werden, seine Haltung im Hinblick auf Moskau zu ändern. Dies könnte mit der strategischen Einschätzung der Biden-Administration zusammenhängen, demnach China eben diejenige Kraft sei, die den Vereinigten Staaten die globale Führung in der Welt im Rahmen konkurrierender Ideologien – Demokratie und Autokratie – streitig mache, während Indien, die als die “größte Demokratie der Welt“ gilt, keine Bedrohung für US-Interessen darstellen würde.
Im Gegenteil, die USA versuchen vehement, Indien in Bündnisse einzubinden, um das Land geopolitisch für sich einzuspannen. So wurde Delhi bereits Teil des von Washington geleiteten “quatrilateralen Sicherheitsdialogs“ (en.: Quadrilateral Security Dialogue, QUAD), zu dem ebenfalls Australien und Japan gehören. Die Vierergruppe trägt gegenwärtig zwar noch einen informellen Charakter, langfristig wird es jedoch als mögliche Grundlage für eine Anti-China-Allianz im indopazifischen Raum und sogar als eine „Asien-NATO“ angesehen.
Nichtsdestotrotz setzen die Inder grundsätzlich primär darauf, neutral zu bleiben und sich niemandem bedingungslos anzuschließen. Insofern will man, soweit es möglich ist, mit allen Ländern den Dialog aufrechterhalten. Dies ist eine gängige Strategie für die meisten Staaten der Welt, nur ist Indien eben der größte von ihnen, was Delhi so etwas wie eine Vorbildfunktion verleiht.
Wie die US-Zeitschrift Foreign Policy dazu schreibt, könnte die “strategische Neutralität“ langfristig womöglich zum Problem für Indien werden, derzeit aber seien die Eliten des Landes mit so einer Politik durchaus zufrieden. Weil es – wie bereits erwähnt – unter anderem viele ökonomische Vorteile mit sich bringen soll.
Zudem wird der Ansatz der Ballance auch von der Gesellschaft positiv aufgenommen. In den indischen Medien können sowohl pro-westliche Politiker und Aktivisten als auch ihre Gegner zu Wort kommen und miteinander diskutieren. Dies garantiert dem Land politische Handlungsfreiheit, die es braucht, um mit dem Druck des Westens zurechtzukommen und die eigenen Interessen weiter zu verfolgen.