Berlin schaltet den Internationalen Gerichtshof in Den Haag ein, um Entschädigungen für die Angehörigen der Opfer von NS-Kriegsverbrechen zu verhindern.

Um Entschädigungen für NS-Kriegsverbrechen zu verhindern, klagt die Bundesrepublik vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag gegen Italien. Hintergrund ist der jahrzehntealte Streit um Entschädigung für die Angehörigen von NS-Massakern unter anderem in Italien. Deutschland verweigert den Opfern bzw. ihren Nachkommen hartnäckig jegliche Zahlung. Dabei beruft sich die Bundesregierung, auch die gegenwärtige rot-gelb-grüne Koalition, seit je auf die sogenannte Staatenimmunität, der zufolge Bürger fremder Staaten nicht bei der Justiz ihres Landes Klage gegen „hoheitliche Aktivitäten“ Deutschlands einreichen dürfen. Dies bezieht sich laut Auffassung Berlins auch auf Massenverbrechen der Wehrmacht und der SS. Die italienische Justiz erkennt das nicht an und droht mit einer Zwangsversteigerung deutscher Immobilien in Italien, um die Zahlung von Entschädigungen durchzusetzen. Dagegen geht Berlin nun beim IGH vor. Dass NS-Massenverbrechen folgenlos bleiben, übertrifft noch die verbreitete Straflosigkeit für Kriegsverbrechen westlicher Staaten.

Entschädigung verweigert

Erstmals eskaliert war der Streit zwischen Italien und Deutschland um die Zahlung von Entschädigungen an die Angehörigen von NS-Opfern im Jahr 2008. Am 20. Oktober jenes Jahres hatte der Kassationsgerichtshof in Rom, die höchste Instanz der italienischen Justiz, entschieden, Berlin müsse für ein Massaker vom 29. Juni 1944 Entschädigung zahlen. Damals hatte eine SS-Einheit den Ort Civitella unweit Arezzo überfallen und mehr als 200 Einwohner ermordet. Weder Überlebende noch Angehörige der Todesopfer sind jemals entschädigt worden. In Deutschland wird regelmäßig darauf hingewiesen, dass Bonn am 2. Juni 1961 ein sogenanntes Globalabkommen mit Rom unterzeichnet hat, das Italienern, die „aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung“ vom Nazi-Staat verfolgt wurden, insgesamt 40 Millionen D-Mark zusprach. Allerdings kam diese Summe in der Praxis vor allem jüdischen Opfern zugute; nichtjüdische Opfer von NS-Kriegsverbrechen gingen leer aus. Dies ist auch in allen anderen von der Wehrmacht überfallenen Staaten der Fall gewesen. Entschädigungsforderungen für NS-Kriegsverbrechen wurden etwa in Griechenland sowie in Polen erhoben, aber von der Bundesregierung und der deutschen Justiz bislang konsequent abgewehrt (german-foreign-policy.com berichtete [1]).

Hoheitliche Aktivitäten

Einen Durchbruch schien das Urteil des Kassationsgerichtshofs vom 20. Oktober 2008 zu bringen. Entsprechend ging die Bundesregierung gegen es vor – und reichte bereits am 23. Dezember 2008 eine Klage gegen Italien beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag wegen angeblicher Verletzung des Prinzips der Staatenimmunität ein. Dieses Prinzip untersagt es Privatpersonen, gerichtlich gegen hoheitliche Aktivitäten fremder Staaten vorzugehen. Berlin stuft NS-Massenverbrechen demnach als hoheitliche Aktivitäten sowie ihre Strafverfolgung im Ausland als prinzipiell unzulässig ein. In einem Urteil vom 3. Februar 2012 gab der IGH der Bundesrepublik recht. Hat sein – in der Fachwelt überaus umstrittener – Beschluss Bestand, dann haben Angehörige der Opfer von NS-Massakern faktisch keinerlei Chance, jemals Entschädigung für die NS-Menschheitsverbrechen zu erhalten; der Gang vor deutsche Gerichte ist laut jahrzehntelanger Erfahrung völlig aussichtslos (german-foreign-policy.com berichtete [2]).

Rom gegen Den Haag

Eine erneute Wende hat möglicherweise eine weitere Entscheidung des römischen Kassationsgerichtshofs gebracht. Das Gericht urteilte am 22. Oktober 2014, das Verbot des IGH, individuelle Opfer von NS-Kriegsverbrechen – darunter SS-Massaker – sowie ihre Nachkommen gegen den Täterstaat klagen zu lassen, sei unvereinbar mit der italienischen Verfassung. In Italien könnten also weitere Klagen gegen Deutschland angestrengt werden. Dies ist denn auch geschehen. Daraufhin entschied zum Beispiel ein Gericht in Sulmona in den Abruzzen im Jahr 2017, Berlin müsse für ein NS-Massaker an 128 Menschen im nahe gelegenen Roccaraso Entschädigung zahlen – fünf Millionen Euro an die Nachfahren der Opfer, 1,6 Millionen Euro an die Gemeinde Roccaraso.[3] Im Jahr 2018 wiederum urteilte der Römische Zivilgerichtshof, die Bundesrepublik müsse den Sohn von Paolo Frascà entschädigen, einem Italiener, der 1944 von der deutschen Polizei inhaftiert, im Gefängnis gefoltert und am 24. März 1944 gemeinsam mit 334 weiteren Zivilisten in den Ardeatinischen Höhlen im Süden Roms ermordet worden war. Der Forderung Berlins, den Klagen politisch Steine in den Weg zu legen, verweigert sich die Regierung in Rom – bis heute.

Vor der Zwangsversteigerung

Aktuell spitzt sich der Streit erneut zu: Weil die Bundesrepublik sich weigert, den Urteilen der italienischen Justiz nachzukommen und Entschädigung zu zahlen, verhandeln italienische Gerichte nun über die Zwangsversteigerung von Immobilien in Italien im Besitz der Bundesrepublik. Berichten zufolge sind seit dem IGH-Urteil vom 3. Februar 2012 in Italien mehr als 25 Klagen gegen Deutschland eingereicht worden; mindestens 15 Klagen haben mittlerweile zu einer Verurteilung der Bundesrepublik geführt; in zwei Fällen geht es nun um Zwangsversteigerungen. Betroffen wären womöglich die Gebäude des Goethe-Instituts, der Deutschen Schule in Rom, des Deutschen Archäologischen Instituts und des Deutschen Historischen Instituts. Ein Urteil darüber wird am 25. Mai erwartet. Weil die Zeit drängt, will die Bundesregierung nun vom IGH vorläufigen Rechtsschutz erhalten – unter Berufung auf das IGH-Urteil aus dem Jahr 2012, das allerdings der italienische Kassationsgerichtshof nicht anerkennt.[4] Ob die italienische Justiz sich einem erneuten, in Italien verfassungswidrigen IGH-Spruch beugen würde, der der Rechtsnachfolgerin des massenverbrecherischen NS-Staats Rechtsschutz verliehe, ist äußerst ungewiss.

Die Krone der Doppelmoral

Peinlich für Berlin ist, dass es die justizielle Aufarbeitung von NS-Massenverbrechen zu einem Zeitpunkt zu verhindern sucht, zu dem der Westen sich anschickt, tatsächliche oder angebliche russische Kriegsverbrechen in der Ukraine vor einem internationalen Gericht abzuurteilen. Straflosigkeit für westliche Kriegsverbrechen ist seit Jahrzehnten gängige Praxis: NATO-Kriegsverbrechen in Jugoslawien aus dem Jahr 1999 sind genauso folgenlos geblieben [5] wie deutsche Kriegsverbrechen in Afghanistan [6]; australische Spezialkräfte, die am Hindukusch als Initiationsritual Morde an afghanischen Zivilisten begingen, kamen bislang mit Verwarnungen, allenfalls einer Entlassung aus dem Militärdienst davon [7]. Ein Versuch des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag, Kriegsverbrechen von US-Soldaten in Afghanistan abzuurteilen, wurde von Washington abgeschmettert; führende IStGH-Mitarbeiter, darunter Chefanklägerin Fatou Bensouda, wurden von der US-Administration mit Sanktionen belegt. Berlin setzt der Doppelmoral des Westens jetzt die Krone auf, indem es für Deutschland Immunität selbst bei NS-Menschheitsverbrechen verlangt.

 

[1] S. dazu Billiges Gedenken und Die Berliner Reparationsverweigerung.

[2] S. dazu Reparationsabwehr aus der Trickkiste.

[3] S. dazu Kampf um Entschädigungen.

[4] Deutschland und Italien streiten um Entschädigung für Naziopfer. spiegel.de 30.04.2022.

[5], [6] S. dazu Die zivilen Opfer der Kriege.

[7] Andrew Greene: ADF documents show senior officers yet to face consequences for alleged Afghanistan war crimes. abc.net.au 12.04.2022.

Der Originalartikel kann hier besucht werden