Die westlichen Russland-Sanktionen drohen die deutsche Wirtschaft in eine Strukturkrise zu stürzen. Russlands Wirtschaft wird geschwächt, die Sanktionen aber laut Experten überstehen.

Die aktuellen westlichen Russland-Sanktionen drohen die deutsche Wirtschaft in eine „strukturelle Krise“ zu stürzen, werden aber nicht genügen, um Russland zu „ruinieren“ (Annalena Baerbock). Dies ergibt sich aus aktuellen Prognosen und Einschätzungen deutscher Experten. Demnach verschärft nicht nur der Ukraine-Krieg die ohnehin angespannte Lage der deutschen Wirtschaft, die für dieses Jahr allenfalls noch mit einem schwachen Wachstum rechnen kann. Der dramatische Anstieg der Energiepreise, der etwa durch den Umstieg auf teureres Flüssiggas und insbesondere durch die anhaltende Drohung mit einem Öl- und Gasboykott immer weiter forciert wird, belastet die in hohem Maße energieabhängige deutsche Industrie stark. Er könne dazu führen, dass die deutsche Wirtschaft „Kernbranchen verliere“, und „Teile der wirtschaftlichen Struktur“ der Bundesrepublik „zersetzen“, warnen Spezialisten. Die russische Wirtschaft wiederum werde durch die Sanktionen zwar geschwächt, aber nicht, wie in Berlin erwünscht, in den Kollaps getrieben, sagt ein Russland-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) voraus; sie werde „überleben“.

Düstere Perspektiven

Ökonomisch düstere Perspektiven hatte zuletzt zum Beispiel eine Konjunkturprognose des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) erkennen lassen. Das IW rechnet damit, dass die deutsche Wirtschaftsleistung nach dem pandemiebedingten Einbruch um 4,9 Prozent im Jahr 2020 und der Zunahme um 2,9 Prozent 2021 nun in diesem Jahr um weniger als 1,75 Prozent wachsen wird; damit läge sie zum Jahresende immer noch unter dem Volumen des Vorkrisenjahres 2019. Allerdings stehe selbst diese wenig günstige Prognose unter dem Vorbehalt, warnt das IW, „dass es im zweiten Halbjahr 2022 zu keinen zusätzlichen Belastungen durch geopolitische Konflikte kommt“ und „sich die konjunkturaufzehrenden Inflationseffekte zurückbilden“.[1] Beides ist zur Zeit wenig wahrscheinlich. So rechnet die EU-Kommission in ihrer Frühjahrsprognose explizit damit, dass sich die außenpolitischen Spannungen zumindest bis Ende 2023 nicht zurückbilden. Die Kommission musste ihre Vorhersage für die diesjährige Inflation im EU-weiten Durchschnitt zuletzt fast verdoppeln, auf 6,9 Prozent.[2] Für Deutschland rechnet das IW in diesem Jahr mit dem Anstieg der Verbraucherpreise um gut sechs Prozent.

„Exportaufschwung abgewürgt“

Für die exportfixierte deutsche Wirtschaft wiegt schwer, dass die Aussichten auch für den Warenexport ungünstig sind. Im vergangenen Jahr war es immerhin gelungen, die Einbrüche bei der Ausfuhr im Pandemiejahr 2020 (-9,3 Prozent) mit einer Steigerung um 9,4 Prozent beinahe wettzumachen. Hatte der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) Anfang des Jahres mit einer erneuten Exportzunahme von gut sechs Prozent gerechnet, so heißt es nun, es werde 2022 „nicht viel mehr geben für die deutsche Exportwirtschaft als hoffentlich eine schwarze Null“: „Der Aufschwung im internationalen Geschäft wird jäh abgewürgt“, hielt DIHK-Außenwirtschaftschef Volker Treier kürzlich fest.[3] Als wichtigste Ursachen gelten neben den Folgen der aktuellen Lockdowns in China und fortdauernden Problemen bei der Versorgung mit unverzichtbaren Vorprodukten, etwa mit Halbleitern, der Ukraine-Krieg und die westlichen Russland-Sanktionen. Allein nach Russland exportierten deutsche Unternehmen im vergangenen Jahr noch Waren im Wert von fast 27 Milliarden Euro. Wieviel davon übrig bleibt, ist unklar, und es kommt noch die exporthemmende Stagnation der Wirtschaft in anderen Ländern hinzu.

Von der Zersetzung bedroht

Dabei weisen Experten darauf hin, dass die aktuellen Wachstumsziffern zwar längst nicht so dramatisch wirken wie die tiefen Einbrüche des Pandemiejahres 2020, dass sie aber erheblich größere Gefahren erkennen lassen, die „zu einer strukturellen Krise“ führen können und „das Potenzial“ haben, „Teile der wirtschaftlichen Struktur zu zersetzen“.[4] Denn während die Coronakrise vor allem Dienstleister traf, die oft herbe Einbußen erlitten, allerdings nach dem Ende der Lockdowns wieder durchstarten konnten, wirkt sich die aktuelle Krise besonders stark auf die Industrie aus; laut einer DIHK-Umfrage gehen 37 Prozent der Industriebetriebe von einer Verschlechterung ihrer Geschäfte in den kommenden zwölf Monaten aus. 93 Prozent von ihnen sehen das härteste Risiko für die Zukunft in den gestiegenen Energie- und Rohstoffpreisen. Vor allem die Chemie- und die Metallbranche sind in hohem Maß etwa auf Erdgas angewiesen – nicht nur als Energieträger, sondern auch als Grundstoff – und leiden deshalb erheblich unter der Teuerung. „Wenn wir Produkte nicht mehr zu einem bestimmten Preis produzieren können, aber jemand im Ausland kann das leisten, dann wird sich der Markt dorthin verschieben“, konstatiert ein Vertreter des Verbands der Chemischen Industrie NRW.

Das Schlimmste steht noch bevor

Dabei steht vielen Unternehmen die eigentliche Krise erst noch bevor. In Wirtschaftskreisen heißt es, fast zwei Drittel aller deutschen Unternehmen hätten den Bezug ihrer Energie in Verträgen geregelt, die eine Laufzeit von oft ein bis drei Jahren hätten. Entsprechend schlägt sich die Teuerung bei Öl und Gas bei ihnen mit Verspätung nieder: „Bis zum Herbst oder sogar zum Beginn des nächsten Jahres merken viele Unternehmen noch gar nicht viel von den hohen Energiepreisen“, wird der Wirtschaftswissenschaftler Andreas Löschel zitiert, der an der Ruhr-Universität Bochum lehrt.[5] „Dafür trifft es sie danach mit voller Wucht.“ Die deutsche Wirtschaft, die stärker als diejenige anderer westeuropäischer Staaten durch ihre energieabhängige Industrie geprägt ist, könnte deshalb sogar tiefer als andere einbrechen, urteilt der Präsident des Münchener ifo-Instituts, Clemens Fuest; Deutschland sei „von den steigenden Energiepreisen stärker betroffen … als viele andere Länder“.[6] Dabei trägt schon die Umstellung von relativ preisgünstigem russischem Pipelinegas auf teureres Flüssiggas unter anderem aus den Vereinigten Staaten spürbar zum Preisanstieg bei. Die stetigen Drohungen mit Öl- und Gasboykotten verstärken ihn.[7]

Nicht ruiniert

Während die deutsche Wirtschaft Stück um Stück – und ab Herbst womöglich beschleunigt – in eine Strukturkrise zu rutschen droht und laut Auffassung von DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben sogar „Kernbranchen verlieren“ könnte [8], urteilt der Russland-Experte Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), man solle nicht darauf setzen, mit den Sanktionen und den Embargos, die die eigene Industrie ernsthaft schädigen, die russische Wirtschaft in den Kollaps treiben zu können. Zwar werde Russlands Wirtschaftsleistung laut Prognosen der russischen Zentralbank womöglich um bis zu zehn Prozent einbrechen; die Inflation könne sogar 30 Prozent erreichen, „mit negativen Auswirkungen auf Einkommen und den privaten Konsum“.[9] Doch sei es der Zentralbank inzwischen gelungen, „die makroökonomische Situation und den Rubel fast auf dem Vorkriegsniveau“ zu stabilisieren. Die russische Wirtschaft werde trotz der Abwanderung westlicher Unternehmen und des sanktionsbedingten Fehlens wichtiger Bauteile „überleben“, sagt Meister voraus. „Die meisten Firmen werden weiterarbeiten und Jobverluste sich in Grenzen halten“: „Russland ist nicht Nordkorea oder Iran.“ Das Ziel, „Russland zu ruinieren“ (Annalena Baerbock [10]), würde damit – bei einer gleichzeitigen ernsten Schwächung der eigenen Industrie – deutlich verfehlt.


 

[1] IW-Konjunkturprognose Frühjahr 2022: Krise und Unsicherheit. IW-Report Nr. 26. Köln, 20.05.2022.

[2] Carsten Volkery: EU-Kommission korrigiert Prognose für Wirtschaftswachstum drastisch nach unten. handelsblatt.com 16.05.2022.

[3] DIHK: Deutsche Exportindustrie wird 2022 bestenfalls stagnieren. handelsblatt.com 12.05.2022.

[4], [5] Julian Olk: Einbruch der Geschäftserwartung: Deutsche Industrie steht vor einer Existenzkrise. handelsblatt.com 19.05.2022.

[6] Jens Münchrath: Ifo-Chef über Konjunkturlage: Eine Krise, die „alles bisher Bekannte übertrifft“. handelsblatt.com 24.05.2022.

[7] S. dazu Der Erdgaspoker der EU (III) und Erdölembargo gegen Russland (III).

[8] Julian Olk: Einbruch der Geschäftserwartung: Deutsche Industrie steht vor einer Existenzkrise. handelsblatt.com 19.05.2022.

[9] Stefan Meister: Auch wenn es keiner hören will: Russlands Wirtschaft wird diesen Krieg überleben. focus.de 18.05.2022.

[10] S. dazu „Russland ruinieren“.

Der Originalartikel kann hier besucht werden