Wir staunen, wir freuen uns: Die Flüchtlinge aus der Ukraine sind dort willkommen, wo bis vor kurzem die Grenzen nicht nur dicht, sondern teilweise sogar mit Stacheldraht gesichert waren: In Polen, in Ungarn, in Rumänien werden sie freundlich aufgenommen und unterstützt, in Ländern also, die sich bisher beharrlich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen im Rahmen eines EU-Quotierungsverfahrens gesperrt haben. Das ist wunderbar. Aber was ist anders bei den Flüchtlingen aus der Ukraine als bei denen aus Syrien, Afghanistan, Irak, Eritrea? Wie kommt es zu dieser neuen Empathie mit denen, die so viel aufgeben mussten?
In mehreren Punkten fühlen sich die früher feindlich gesinnten Regierungen und ihre AnhängerInnen den UkrainerInnen nahe:
- Die Geflüchteten sind schon räumlich Nachbarn und Nachbarinnen, und nicht aus fernen Ländern. Viele PolInnen, UngarInnen, RumänInnen waren selbst schon in der Ukraine, viele kennen UkrainerInnen, die schon lange in ihrem Land leben.
- Die meisten Geflüchteten sind von Ideologie oder Religion mit der eigenen Bevölkerung zu vergleichen. Sie sind jedenfalls zumeist nicht muslimischen Glaubens.
- Es kommen vorwiegend Frauen mit Kindern an, während die Flüchtlinge aus fernen Ländern zum allergrössten Teil junge Männer sind. Bei Frauen und Kindern entwickelt sich Mitleid schneller als bei jungen Männern, die eher als Gefahr wahrgenommen werden.
- Sie sind weiß, manchmal sogar blond. So kann sich Rassismus schlecht entfalten.
Europa wird auch in Zukunft der Kontinent sein, auf den viele Verfolgte, Hungernde, Vertriebene flüchten. Können wir aus der Ukraine-Krise lernen, wie wir die aus künftigen Flüchtlingswellen entstehenden Lasten besser verteilen können?
Was wir sehen, wussten wir auch schon vorher, aber es wird nochmal deutlicher: Die Fremdheit, das fehlende Wissen über die Kulturen auf allen Seiten, und die Verunsicherung über die eigene soziale Position bewirken Abwehr bis hin zur Feindseligkeit. Es gilt also, das Gefühl von Fremdheit zu reduzieren. Bildung ist dabei hilfreich.
FlüchtlingshelferInnen haben in und nach der Flüchtlings-„Krise“ 2015 bewiesen, wie eine solche Bildung nachzuholen ist: Durch Kontakt mit den Geflüchteten. Sie kennen zu lernen hieß in vielen Fällen, sie zu verstehen und auch zu mögen. So wie der Antisemitismus am stärksten angefeuert wurde bei jenen, die Juden oder Jüdinnen nicht aus ihrem Umfeld kannten, so wie der Rassismus am besten gedeiht, wenn man keine privaten oder beruflichen Beziehungen zu People of Color hat, so schwinden Vorurteile durch neue und ggf. gemeinsame Erfahrungen.
Aber es reicht nicht, wenn WIR uns bemühen, offen für Diversity zu sein. Genauso dringend ist die Bildungsarbeit in den Ländern, in denen Menschen wegen ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder auch ihres Glaubens um ihr Leben fürchten müssen. Allerdings wird Bildungsarbeit die Probleme nicht lösen können, die durch Hegemoniebestrebungen verursacht werden.
Denn wenn den neu entstehenden Machtblöcken – China und Russland auf der einen, Europa und USA auf der anderen Seite – keine anderen Strategien als Aufrüstung einfallen, wenn Kriege nach wie vor geschürt werden, um Machtansprüche durchzusetzen, dann reicht Bildungsarbeit nicht aus. Die Energie wird durch diese Konflikte gebunden, gesellschaftliche Fortschritte werden unmöglich, und vor allem: Es bleibt nichts übrig für die Bewältigung des Klimawandels: Keine Kraft, kein Geld.
Von daher müssten wir ständig und ununterbrochen Appelle gegen Krieg und Aufrüstung unterstützen, wie den der Nobelpreisträger zum Abbau der Rüstungsausgaben und den der Max-Planck-Gesellschaft zum Krieg gegen die Ukraine. Das wichtigste Ziel für gesellschaftlichen Fortschritt in allen Erdteilen, in allen Bereichen, ist die Beendigung kriegerischer Auseinandersetzungen. Darauf sollten sich ALLE konzentrieren – nur dann können wir Erfolg haben. Und nur dann können wir erreichen, dass nicht mehr so viele Menschen flüchten müssen, um Leib und Leben zu retten.