Schon geraume Zeit kann frau lesen, dass die Demokratie in den USA gefährdet ist, insbesondere durch aktuelle Bemühungen, das Wahlrecht zu ändern. Ich wollte verstehen, was Sache ist und habe die im Netz verfügbaren Angaben zusammengestellt.

Eine Demokratie ist ein Staatswesen, in dem zunächst mal alle Menschen das Recht haben, ihre Regierung zu wählen. Sie müssen zweitens auch alle die Gelegenheit dazu erhalten. Drittens zeichnet sich eine Demokratie – Herrschaft des Volkes! – dadurch aus, dass alle Stimmen gezählt werden und – viertens – das gleiche Gewicht haben. Und schließlich verzichtet ein demokratischer Staat auf Manipulationen der Wahl.

Das politische System der USA erfüllt diese Bedingungen nicht. Der Präsident muss sich zumeist mit zwei Kammern arrangieren, mit dem Senat und dem Repräsentantenhaus. Die Mitglieder dieser Kammern werden in den einzelnen Staaten gewählt. Dabei schließt das Wahlrecht eine große Menge von Frauen und Männern von der Wahl aus. Teile der republikanischen Partei sind damit einverstanden, sie fördern den Ausschluss von Gruppen, die eher der demokratischen Partei zuneigen, mit zusätzlichen Regeln. Zunächst mal jedoch:

Nicht alle US-Amerikaner*innen dürfen wählen

In der Verfassung von 1789 war das Wahlrecht ausschließlich für weiße, protestantische Männer der Mittel- und Oberschicht festgelegt, d.h. Männer mit Grundbesitz. Diese überschaubare Gruppe umfasste ca. 10 % der Bevölkerung.

Ca. 1830 waren alle weißen Männer wahlberechtigt. 1870 wurden gesetzlich auch Schwarze wahlberechtigt, ein Versprechen, das jedoch in den Südstaaten durch Erlasse und Restriktionen immer wieder unterlaufen wurde.

Das allgemeine Wahlrecht für Frauen gibt es in den USA seit 1920 – zwei Jahre später als in Deutschland.

Formal könnte man sagen, dass alle erwachsenen EinwohnerInnen der USA heute wahlberechtigt sind. Aber schon beim Blick auf die einbezogene Bevölkerung wackelt das Bild.

Eine bis auf den heutigen Tag bestehende Besonderheit ist der Umgang mit dem Wahlrecht von Inhaftierten. Die USA haben bezogen auf je 10.000 EinwohnerInnen weltweit die höchste Anzahl von Inhaftierten. Während in der Bundesepublik 70 von 100 000 EinwohnerInnen im Gefängnis sitzen, lauten die entsprechenden Zahlen für die USA 629 zu 100 000 (Stand: 2021). Außer in den beiden Bundesstaaten Maine und Vermont verlieren Gefängsnisinsassen das Wahlrecht und erhalten es auch in 11 Bundesstaaten nach ihrer Entlassung nicht zurück. In der Bundesrepublik Deutschland verlieren Inhaftierte nur bei bestimmten Straftaten ihr Wahlrecht.

Die Brutalität des US-Systems ist nicht ökonomisch: Alle Inhaftierten hinterlassen ihren Anhang in Armut und Diskriminierung. Auch nach der Entlassung haben sie geringe Chancen auf einen normalen Broterwerb. All diese Faktoren fördern weitere Straftaten und gesundheitliche Schäden.

In den Gefängnissen sitzen vorwiegend Schwarze, vorwiegend schwarze Männer, und vorwiegend Arme. So lässt sich das Gefängnissystem auch als verlängerter Arm des Rassismus und der Unterdrückung Armer sehen, wobei die Armen auch überwiegend schwarz sind. Aber selbst, wenn Schwarze und Arme formal wählen dürfen, scheitern sie oft an den aufgestellten Hürden:

Nicht alle US-Amerikaner*innen schaffen es, die Voraussetzungen für die Wahl zu erfüllen

Wer an der Präsidentschaftswahl teilnehmen möchte, muss sich in dem Bundesstaat, in dem er oder sie lebt, registrieren lassen, da es in den USA keine Meldepflicht gibt. Der Wahlakt erfordert also zunächst einmal Eigeninitiative, über die Arme oder anderweitig Not Leidende (z.B. psychisch Kranke, Alte) nicht immer verfügen. Es wird dabei ein Ausweis verlangt, in vielen Staaten mit Lichtbild. Viele wenig Gebildete, Migrant*innen und arme Menschen sind damit überfordert. Die Reduzierung des Wahlvolkes geschieht auch durch viele Regeln, die den Sinn haben, vor allem Arme und Migrant*Innen von der Wahlurne fernzuhalten. Aber selbst wenn diese den Gang zur Wahlurne geschafft haben:

Nicht alle abgegebenen Wahlstimmen zählen

So wie bei uns wählen die Wähler*innen in den USA den Präsidenten oder die Präsidentin nicht selbst, sondern sie wählen Personen, die ihre politischen Interessen vertreten. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied zu unserem Wahlsystem. Jeder Staat wählt Wahlmänner und Wahlfrauen, die die Staatsspitze bestimmen. Insgesamt gibt es 538 Wahlleute. Jeder Staat hat zunächst 3 Wahlleute, die anderen werden auf die Staaten je nach Einwohner*innenzahl verteilt. Das klingt zunächst mal gut, aber das System hat einen Haken: Die Partei, die in einem Staat die Mehrheit der Wahlleute gewinnt, gewinnt damit alle Stimmen, auch die derjenigen Wähler, die die Wahlmänner/-frauen der anderen Partei gewählt haben. Das heißt: Die Wähler*innen, die die andere Partei gewählt haben, werden nicht berücksichtigt. Hinzu kommt, dass nicht jeder Wahlmann/jede Wahlfrau die gleiche Anzahl an Bürgern repräsentiert, aber sie alle haben das gleiche Gewicht. „So kommt es, dass derjenige, der am Ende Präsident wird, nicht unbedingt die meisten Stimmen der Wähler bekommen hat.“

Nicht alle abgegebenen Stimmen haben das gleiche Gewicht

Die Wahl der Abgeordneten ist für die beiden Kammern Senat und Repräsentantenhaus unterschiedlich. Der Senat wird von den einzelnen Bundesstaaten besetzt. Dabei entsendet jeder Staat zwei VertreterInnen, gleichgültig, wie viele EinwohnerInnen in ihm leben. So kommt es, dass die fast 40 Millionen Menschen im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Kalifornien ebenso durch zwei Senatsabgeordnete repräsentiert werden, wie die knapp 600 000 EinwohnerInnen des bevölkerungsärmsten Bundesstaates Wyoming. Die kleineren Staaten haben damit weit mehr Macht als ihnen vom Verhältnis zu allen abgegebenen Wahlstimmen her zusteht, die Stimmen der bevölkerungsreicheren Staaten fallen hingegen weniger ins Gewicht.

Die Verdrängung unerwünschter WählerInnen: Gerrymandering und neue Wahlgesetze

Jeder US-Staat schneidet seine Wahlbezirke selbst zu. Dies geschieht alle 10 Jahre nach der Volkszählung. Danach kann die Regierungsartei Wahlbezirke so gestalten, dass WählerInnen der anderen Partei weniger Chancen für eine Mehrheit haben. Dann verfallen ihre Stimmen, weil auch hier nach dem Prinzip „The Winner takes it all“ verfahren wird.

Beide Parteien versuchen auf diese Weise, ihre Chancen zu verbessern. Wenn Republikaner die Wahlkreise zuschneiden, bedeutet dies eine Verminderung der Wahlerfolge von Minderheiten, die vorwiegend demokratisch wählen. Zur Zeit sind Teile der Republikaner besonders aktiv, um die Wahlbezirke in ihrem Interesse für die nächste Wahl zu „präparieren“ und mit weiteren Regeln die Teilnahme der unerwünschten Wähler an den nächsten Wahlen zu verhindern. Dieses Vorgehen in mehreren Bundesstaaten schränkt die Möglichkeit vieler Wähler*innen, ihr Votum abzugeben, drastisch ein, wie hier beschrieben wird. Präsident Bidens Versuch, diese Entwicklung zu stoppen, scheiterte erst kürzlich im Senat.

Die USA sind keine Demokratie

„In den Vereinigten Staaten steht die Zukunft des demokratischen Systems auf dem Spiel“ (Ines Pohl). Was heißt das für die EU? Was heißt das für uns?

Die vorhandenen und geplanten Einschränkungen des Wahlrechts sind die Spitze des Eisberges einer Entwicklung, in der rechts- und religionsradikale Kräfte in den USA nicht nur das Wahlrecht aushöhlen, sondern auch zunehmend die politischen Diskussionen, das mediale Geschehen und das Bildungssystem (vgl. Brockschmidt 2021) in wissenschaftsfeindliche Strömungen treiben. Angefeuert werden Verschwörungstheorien und religiöse Mythen von der Angst der weißen Bevölkerung, nicht mehr die Mehrheit des Wahlvolkes darzustellen. Bevor die Demographie der weißen Dominanz den Garaus macht, sollen die Institutionen fest in der Hand der angeblich christlichen Rechten sein. Gestärkt wird diese Absicht durch Aufrufe und Diskussionen in vor Hass, Häme und Gewaltbereitschaft triefenden Sozialen Medien. In Deutschland erleben wir einen Teil dieser Entwicklung durch das Herüberschwappen der Hetze gegen Abtreibung. Auch darüber hinaus werden die Rechten bei uns stärker, erhalten sie doch an vielen Stellen Unterstützung durch eine im Bundestag vertretene Partei, die AfD. Die soll nun auch noch Millionen aus Steuergeldern geschenkt bekommen – wenn es denn nicht gelingt, die Finanzierung der Erasmus-Stiftung zu stoppen (s. Brief der omas-gegen-rechts-berlin.de an die Bundestagsabgeordneten).

Zurück zu den USA. Unwohlsein stellt sich ein beim Blick auf die benannten Entwicklungen. Insbesondere die Krise an der ukrainisch-russischen Grenze führt uns vor Augen, dass wir mit unserem politischen System zwar moralisch punkten können, aber gegen autoritäre Regime wie zum Beispiel das von Putin wenig ausrichten können. Wir sind mehr als bisher auf die USA angewiesen, die zwar auf der Einhaltung der Menschenrechte in anderen Staaten pochen, selbst aber kein gutes Beispiel für eine Demokratie sind. Vielleicht sollte unsere Regierung nicht nur offensichtlich autoritäre Regime kritisieren, sondern auch dem „großen Freund“ USA mal die Meinung sagen. Ob wir Biden damit stützen können, steht dahin. Aber versuchen könnten wir es wenigstens. Bisher ist Kritik an den USA JournalistInnen vorbehalten.


Quellen

https://www.deutschlandfunk.de/wahlbehinderung-in-den-usa-die-strategie-der-republikaner-100.html
https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/politik/us-wahlen/geschichte-des-amerikanischen-wahlrechts-100.html
https://de.statista.com/infografik/5560/gefangene-pro-100000-einwohner/
https://www.zeit.de/politik/ausland/2012-11/usa-wahl-haeftlinge-wahlverbot?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F
https://www.wahlrecht.de/lexikon/ausschluss.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4sidentschaftswahl_in_den_Vereinigten_Staaten#Passive_Wahlberechtigung
https://www.bpb.de/internationales/amerika/usa/314474/hindernisse-auf-dem-weg-zur-wahl
https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.wahlsystem-usa-einfach-erklaert-mhsd.9d3e5458-ded2-49be-bc75-9f19b5afd0ca.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Bundesstaaten_der_Vereinigten_Staaten_nach_Einwohnerzahl
https://de.wikipedia.org/wiki/Gerrymandering
https://www.tagesspiegel.de/politik/rueckschlag-fuer-us-praesidenten-republikaner-blockieren-bidens-wahlrechtsreform-im-senat/27991916.html
https://www.dw.com/de/meinung-die-amerikanische-demokratie-in-gefahr/a-60231235
Brockschmidt, Annika (2021): Amerikas Gotteskrieger. Wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet.

Der Originalartikel kann hier besucht werden