In einem der düstersten Momente der Menschheitsgeschichte, während das 21. Jahrhundert genauso schlecht beginnt wie das vorherige, überschatten die schrecklichen Nachrichten über den Krieg in der Ukraine eine positive Tatsache, die ein Hoffnungsschimmer für die Demokratien auf der ganzen Welt ist: der Regierungswechsel in Chile und die Erneuerung der Verfassung. Zwei wichtige Ergebnisse, die Früchte eines Prozesses, der auf den chilenischen Straßen begann und das Land seit 2019 verändert, wenn auch mit großen Schwierigkeiten.
Aber lassen Sie uns einen Schritt zurückgehen, in die Zeit vor 30 Jahren, als die Berliner Mauer fiel und die Sowjetunion zerbrach. Nach dem Ende des Kalten Krieges machte die Führung der Weltwirtschaft durch die sogenannten ‚Chicago Boys‘ Chile zu ihrem Laboratorium, um das neue neoliberale System zu erproben. Nach dem Ende der Pinochet-Diktatur 1990 wurde die neue chilenische Demokratie auf Basis von neuen Wirtschaftstheorien gestaltet, die später dann auch in anderen Ländern in größerem Umfang angewandt wurden. Die neoliberale Globalisierung begann, ein System, das Märkte und unkontrollierte Finanzen an erste Stelle stellt und die Bürger*innen von Nutzer*innen von Dienstleistungen zu Konsument*innen machte. Ein System, das in diesen 30 Jahren den gesamten Planeten an den Rand des Abgrunds getrieben hat: Umwelt- und Klimakatastrophen, immense Ungleichheiten, Finanz- und Energiekrise, dazu die Pandemie und nun auch der Krieg im Herzen des alten Europas.
Die Welt ist wieder in zwei Blöcke geteilt und Chile ist wieder einmal das Laboratorium zur Erprobung neuer Lösungsansätze. Diesmal wird unter der Gebirgskette Cordillera viel Arbeit für die Heilung der Demokratie geleistet, indem versucht wird, Verzerrungen des Neoliberalismus durch tragfähige und nachhaltige wirtschaftliche sowie politische Lösungen auszubessern. Es ist kein Zufall, dass Josep Borrell, der hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, gerade den neuen Präsidenten der Republik Gabriel Boric besucht hat, um die Zusammenarbeit und die Beziehung zwischen Chile und der EU zu festigen. Borrell beendete seinen Besuch am 1. Mai, an dem Tag, der der Arbeit und den Arbeiter*innen weltweit gewidmet ist. Und die Arbeit ist der Kern der politischen Agenda des neuen Chiles. Boric selbst hob dies in seiner Antrittsrede hervor, als er sagte, dass Chile ‚von der Arbeit seiner Bürger*innen bereichert und verändert wird‘.
Unter den sehr jungen Menschen der neuen chilenischen Regierung, der viel daran liegt, auf die Gleichheit der Geschlechter zu achten, haben wir Giorgio Boccardo getroffen, den neuen Unterstaatssekretär für Arbeit. Als Autor des Buches, das wenig überraschend den Titel „Chilen*innen im Neoliberalismus: Klassen und soziale Konflikte“ trägt, verfolgt Boccardo einen ähnlichen, bisweilen gemeinsamen, politischen Weg wie Gabriel Boric.
Boccardo und Boric: 15 Jahre im Einsatz für Demokratie in Chile
Der 1982 geborene Italiener Giorgio Boccardo war 10 Jahre lang Universitätsprofessor und hatte danach verschiedene Funktionen und hohe Positionen in studentischen Organisationen und Bewegungen inne. Zusammen mit den feministischen Bewegungen waren diese die programmatische Seele der ‚estallido social‘ (soziale Empörung) von 2019. Ohne sie hätte Chile es kaum geschafft, seine Verfassung umzuschreiben und diese neue Regierung zu wählen. Tatsächlich hatten die meisten Mitglieder des neuen Kabinetts in der Vergangenheit studentische Führungspositionen inne.
Boccardo erklärte, dass Chile in den letzten Jahrzehnten neben den typischen liberalen Industrie-, Finanz- und Wirtschaftsreformen eine starke Privatisierung der sozialen Dienste erfahren habe. Auf der Grundlage staatlicher Maßnahmen wurde ein Markt für öffentliche Dienstleistungen (Bildung, Gesundheit und Rentensystem) auf Gutscheinbasis gegründet, das zu einem Raum der Akkumulation geworden ist.
Mit diesem System wurde die Armut nur dem Anschein nach verringert. Durch Kredite verschuldete sich die chilenische Bevölkerung zutiefst, um die sehr teuren Sozialleistungen in Anspruch nehmen zu können. Nachdem 1981 der Fonds für Arbeitskooperationen abgeschafft und ein individuell finanziertes Rentensystem geschaffen wurde, bekommen die Menschen heute massenhaft die sogenannte ‚retiro‘. Das ist die Möglichkeit, die der Staat den Bürger*innen einräumt, einen Teil ihrer angesammelten Rentengelder abzuheben. Daraus folgt, dass Chile weltweit eines der Länder mit den größten Ungleichheiten und mit einer starken Spaltung in Bezug auf Gesellschaft, Klasse und Geschlecht ist.
Seit 2005 kämpfen Giorgio Boccardo und Gabriel Boric nun politisch dafür, diese Situation ausgehend von den Student*innen-Mobilisierungen für das Recht auf Bildung zu lösen. Das gesamte System wurde in Frage gestellt, das neoliberale Modell und die Verfassung, wie auch essentielle Themen wie Gas, Wasser, Umwelt und so weiter.
Die chilenische Student*innen-Bewegung sei ‚historisch stark‘, sagte Boccardo: ‚20 Jahre vieler Mobilisierungen und Proteste, sogar eine große Teilnahme an Dialogveranstaltungen mit verschiedensten Regierungen haben keine strukturellen Probleme gelöst.‘
Die verfassungsgebende Versammlung ist das Laboratorium für das Erleben echter Demokratie
Die Situation ist sehr kompliziert. Das Land steht vor sehr vielen Problemen, die die neue Regierung lösen muss: die ansteigende Kriminalität und Gewalt, und gleichzeitig die große Infragestellung der Streitkräfte, Drogenhandel, Immigration, die gefestigte Macht politischer, kultureller und religiöser Eliten, die soziale Krise, welche die Politik delegitimiert, Ungleichheiten, die dringende Frage der Einbeziehung der ethnischen Minderheiten und der einheimischen Bevölkerungen, wie die Mapuche.
Boccardo betont, dass der Wandel in Chile neben den möglichen Lösungen für jedes dieser Probleme in erster Linie strukturell sein muss. Daher ist der Prozess der Neufassung der Verfassung essentiell, auch wenn er mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Seit Monaten ist die verfassungsgebende Versammlung mit starken internen Konflikten konfrontiert und versucht, das richtige Gleichgewicht zu finden und zu einer Einigung von allen Beteiligten zu gelangen. Die Volksabstimmung für die Annahme oder Ablehnung der neuen Verfassung ist für den 4. September vorgesehen.
Um auf die heftige Kontroverse, den der Schreibprozess generiert, zu antworten, erklärt Giorgio Boccardo, dass der Konflikt Teil der Demokratie sei: ‚Die Möglichkeit, einen verfassungsgebenden Prozess einzuleiten, der mit den Bürger*innen und gestützt durch die Teilnahme von indigenen Menschen geschrieben wird, ist in der Geschichte beispiellos. Chile ist dabei, eine demokratische Praxis zu erproben, an die es nicht gewöhnt war, abgesehen von Wahlen. Chiles Verfassungen wurden in der Vergangenheit von einer Gruppe aus Expert*innen innerhalb von vier Wänden geschrieben. Deshalb glaube ich, dass es in diesem neuen Prozess viel darüber zu lernen gibt, wie man mit dem lebt, was Demokratie bedeutet: eine lebendige und robuste Demokratie, in der jede und jeder das Recht hat, die eigenen Ideen einzubringen, sie zu diskutieren und darüber abzustimmen.
Es gibt eine Nachfrage nach mehr Demokratie, nicht nur hinsichtlich einer stärkeren Vertretung, sondern auch bezüglich größerer Teilnahme in den Prozessen sowie der Anerkennung vieler Nationen, vieler Menschen, die bisher unsichtbar blieben. Es ist eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe, einen Text zu erarbeiten, der mehrheitsfähig ist und somit den Willen des Landes zum Ausdruck bringt.
Der meiner Meinung nach wichtigste Punkt zu verstehen, ist, dass die chilenische Demokratie sich verändert hat, dass sie eine viel lebendigere Demokratie sein wird und Konflikte Teil der Demokratie sind. Daher ist der verfassungsgebende Prozess eine hervorragende Gelegenheit, um einen großen Teil dieser sozialen Energie in einen Raum zu leiten, den die Mehrheit als ihren eigenen empfindet und der rechtmäßig ist.‘
Erwartungen und Verantwortungen
Die Erwartungen an die neue Regierung, welche erst seit zwei Monaten im Amt ist, sind sehr hoch, sowohl von Seiten der Bürger*innen, während Aufruhr und Unzufriedenheit noch latent vorhanden sind, als auch von Seiten internationaler Beobachter*innen. Die jüngsten Umfragen zeigen, dass die Zustimmung sinkt und die Verzögerungen hinsichtlich der Umgestaltung der Verfassung fördern die Stabilität der neuen Regierung nicht.
Die Aufgabe ist sicherlich nicht einfach, kommentierte Boccardo: ‚Wir sind uns der großen Verantwortung bewusst, die wir tragen. Der sich anbahnende Zyklus muss Ergebnisse produzieren, die über die Zeit des Mandats hinausgehen. Wir spüren die Dringlichkeit der vielen Herausforderungen, vor denen wir gerade stehen, während wir gleichzeitig das Regierungsprogramm auf die Arbeit als Hauptrichtung stützen.
Ich glaube, dass wir uns nichtsdestotrotz darüber bewusst sein müssen, dass der institutionelle Weg, den wir erreicht haben und der auf den Straßen begann, blockiert werden würde, sowohl auf Regierungsebene als auch im verfassungsgebenden Prozess, wenn all das nicht voranschreitet. Wir sind uns darüber bewusst, dass Chile von der Außenwelt mit Enthusiasmus beobachtet wird, nicht nur, weil die latente Gefahr eines starken sozialen Ausbruchs besteht, sondern auch, weil wir es schaffen, hier einen demokratischen Prozess einzuleiten.‘
Die Bedeutung von Arbeitsreformen
In diesem sehr komplexen Kontext sind Arbeitsreformen für Giorgio Boccardo grundlegend: ‚Endlich ist die Arbeit wieder ein Querschnittsthema im Regierungsprogramm. Arbeit ist von grundlegender Bedeutung für individuelle und kollektive Rechte.
Arbeit zu reformieren ist essentiell, wenn es um Menschenwürde geht: die Erhöhung der Mindestlöhne ist eine Priorität; die Verkürzung der Arbeitszeiten; die Schaffung eines Rentensystems, das sich auf Prinzipien der sozialen Sicherheit stützt und nicht auf individuelle Kapitalisierung; die Gewährleistung der Chancengleichheit, insbesondere in Bezug auf die Geschlechter. Die Arbeitskultur in Chile ist sehr patriarchalisch.
Konkret: Wenn wir ein Entwicklungsmodell ändern wollen, das im Extraktivismus verwurzelt ist, wenn wir eine Matrix erstellen wollen, die die Umweltvariable als zentrale Achse einbezieht, dann müssen wir an einen Übergang denken, der ein Jahrzehnt andauern wird. Wir sind uns darüber bewusst, dass Entwicklung ohne Umverteilung und ohne Wachstum nicht möglich ist.‘
Abschließend definiert Giorgio Boccardo seine politische Vision: ‚Ich glaube, dass die Fahne des demokratischen Sozialismus wiederhergestellt werden muss, indem darauf bestanden wird, dass Sozialismus und Demokratie nicht voneinander getrennt werden können, weil die beiden Geschichten sonst nicht gut ausgehen. Ein langes Jahrhundert hat aus dieser Erfahrung gelernt: keinem apriorischen ‚Ismus‘ sollte blind gefolgt werden‘.
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Linda Michels vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!