Assange und Nawalny sind beide Opfer von politischer Verfolgung und Willkürjustiz. Doch sie erfahren unterschiedliche Solidarität. Das sollten wir nicht akzeptieren.
Von Helmut Ortner
Im April 2010 veröffentlichte Julian Assange von ihm gegründete Plattform WikiLeaks ein Video der US-Streitkräfte. Darin ist zu sehen, wie ein Kampfhubschrauber im Juli 2007 in Bagdad einen Angriff auf eine Gruppe Iraker fliegt. Die Männer sind Zivilisten, es sind Kinder dabei. Zahlreiche Menschen sterben. Später veröffentlichte WikiLeaks Dokumente des US-Militärs zum Krieg in Afghanistan. Assange argumentiert, dass diese Papiere Menschenrechtsverletzungen belegten. Seither wird er von den USA wegen Spionage verfolgt. Seit 2019 ist Assange – obwohl in bedenklichen Gesundheitszustand – in einem Londoner Hochsicherheitsgefängnis inhaftiert – ohne ein rechtsgültiges Urteil. Die USA fordern seither seine Auslieferung.
Nun hat ein britisches Gericht Mitte April die Auslieferung von Julian Assange an die USA formell genehmigt. Nach dem Beschluss des Gerichts haben seine Anwälte bis zum 18. Mai Zeit, Innenministerin Patel eine Eingabe vorzulegen. Bei ihr liegt die endgültige Entscheidung über Assanges Auslieferung. Mehrere Presserechtsorganisationen, darunter Reporter ohne Grenzen (RSF) und mehrere PEN-Clubs, haben die britische Regierung mittlerweile aufgefordert, den Wikileaks-Gründer Julian Assange nicht an die USA auszuliefern. Allzu große Hoffnungen sollten sie sich nicht machen.
Was sagt die Europäische Union zum Fall Assange? Was tut sie für den Wikileaks-Gründer und Whistleblower, dem in den USA bis zu 175 Jahre Haft drohen? Die EU schweigt. Weder die eigentlich zuständigen EU-Kommissare Věra Jourová und Didier Reynders noch Ratspräsident Charles Michel wollen den Fall kommentieren. Auch das Europaparlament sagt nichts dazu. Ein skandalöses Schweigen, dem sich mittlerweile auch die deutsche Politik angeschlossen hat. Von der Ampel-Bundesregierung wird verlautbart: Die Zuständigkeit liege bei der britischen Justiz. Ein beschämendes Wegducken.
Solange sie in der Opposition saß, bezog etwa Grünen-Chefin Annalena Baerbock klar Stellung für Assange. Nun als Außenministerin nimmt sie sich in der Sache zumindest öffentlich wahrnehmbar zurück.
Anders als im Fall Alexej Nawalny. Als der oppositionelle Bürgerrechtler nach einem Giftanschlag des russischen Geheimdienstes von einem Gericht wegen »Unterschlagung und Geldwäsche« für dreieinhalb Jahren in ein berüchtigtes Straflager weggesperrt wurde, stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fest, das Urteil sei willkürlich und politisch motiviert. Der britische Außenminister Dominic Raab sprach von einem „perversen Urteil“. Auch deutsche Politiker sprachen von einem Terror-Urteil, mit dem der Mensch Nawalny vernichtet werden solle.
Nawalny, Assange – beide sind Opfer von politischer Verfolgung und Willkürjustiz. Doch während Nawalny Unterstützung und Solidarität bei den Regierungen Europas findet, herrscht Schweigen zu Assange. Ganz gleich, wie man zu den politischen Ansichten und Aktionen des Gründers von Wikileaks steht: ein Spion im Sinne der Anklage aus den USA, ist er nicht. Die EU sollte hier für europäische Werte wie die Meinungs- und Pressefreiheit eintreten und Assange vor dem Vorwurf der Spionage zu verteidigen. Im Gegenteil.: Wer die jahrelange illegale Inhaftierung von Assange rechtfertigt, der erteilt der US-Regierung einen Freibrief, alle Journalisten weltweit zukünftig mit Verfolgung zu bedrohen, die in den Besitz amerikanischer Geheimdokumente kommen und darüber berichten.
Nawalny, Assange – beide sind politische Gefangene. Zweierlei Maß darf es nicht geben. Menschenrechte sind unteilbar, gleich ob es aktuell die Verfolgung russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine oder amerikanische Menschenrechtsverletzungen betrifft, wie sie im Irak oder in Afghanistan geschahen. Das schulden wir den Opfern – und unserer eigenen Glaubwürdigkeit.