Andres Eberhard für die Online-Zeitung INFOsperber
Rund 2200 Menschen in der Schweiz sind obdachlos. Das heisst, dass sie entweder in Notschlafstellen, anderen Einrichtungen oder auf der Strasse übernachten. Weitere 8000 sind von Wohnungsverlust bedroht. Die Zahl machte kürzlich in den Medien die Runde. Sie stammt aus einer vom Bundesamt für Wohnungswesen initiierten Studie, in der Gemeinden und Kantone befragt wurden, wie sie mit Obdachlosigkeit umgehen. Über das eigentliche Fazit der Studie wurde allerdings kaum berichtet: Es fehle den Gemeinden und Kantonen an einer klaren Strategie, wie Obdachlosigkeit bekämpft werden kann. Dies wäre aber wichtig, denn Wohnungslosigkeit führt häufig zu gravierenden Gesundheitsproblemen und sozialer Isolation.
Die gute Nachricht ist: Eine erfolgsversprechende Lösung wäre vorhanden. Sie nennt sich «Housing First». Dabei bekommen Obdachlose eine Wohnung mit eigenem Mietvertrag – und zwar bedingungslos, ohne sich dafür (wie hierzulande bis anhin üblich) qualifizieren zu müssen. Vor allem in der Anfangszeit werden sie durch Sozialarbeitende betreut. Damit soll der Teufelskreis «Keine Arbeit, keine Wohnung» durchbrochen werden. Die Idee: Wer sich nicht mehr täglich um einen Schlafplatz sorgen muss, hat Zeit, sich um seine anderen Probleme wie Sucht, Gesundheit oder Finanzen zu kümmern. «Housing First» ist in Finnland die offizielle Strategie gegen Obdachlosigkeit. Und sie ist ein Erfolg: Als einziges europäisches Land konnte Finnland damit die Obdachlosigkeit reduzieren.
Basel: Gute Erfahrungen mit «Housing First»
Auch in der Schweiz ist «Housing First» mittlerweile ein Thema. Seit Mitte 2020 läuft in Basel das hierzulande erste Pilotprojekt mit dem Konzept. Beauftragt ist die Heilsarmee Basel, die in Zusammenarbeit mit der Sozialhilfe Wohnungen an Obdachlose vermittelt, diese sozial begleitet und als Bindeglied zu privaten Vermietenden fungiert. Projektleiter Thomas Frommherz zieht ein positives Zwischenfazit: Von 19 Personen leben derzeit 16 in ihrer eigenen Wohnung. Zwei weitere seien derzeit in einer begleiteten Trainingswohnung einquartiert. Ein einziger Betroffener sei zurück auf der Strasse und man habe keinen Kontakt mehr zu ihm.
Mehrere zuvor obdachlose Menschen hätten sich dank der eigenen Wohnung sichtlich stabilisiert. «Eine Frau lebte 15 Jahre auf der Strasse, übernachtete meistens in der Notschlafstelle. Als das wegen Corona nicht mehr ging, wurde sie in einem Hotel untergebracht. Dort kam sie offenbar auf den Geschmack, ein eigenes Reich zu haben», berichtet Frommherz. Heute lebe sie gefestigt in einer eigenen Wohnung, alle zwei Monate habe man Kontakt zu ihr. An ihrem Beispiel sehe man, dass durch die eigene Wohnung eine Art Aufwärtsspirale erfolgen kann. «Man erkennt die Frau kaum wieder. Sie legt Wert auf ihr Äusseres, liess sich die Zähne sanieren und tritt überaus freundlich auf.»
Interessant an «Housing First» ist auch, dass die Rechnung finanziell für alle aufgehen kann. In Finnland geht man davon aus, dass der Staat pro obdachlose Person 15’000 Euro pro Jahr weniger ausgibt als noch vor zehn Jahren. Der Grund: Obdachlosigkeit verursacht viele indirekte Kosten. Wohnungslose leiden zum Beispiel weit häufiger unter Gesundheitsproblemen. Zudem beschäftigen sie Rettungsdienste, Justiz und Polizei.
Wenig Begeisterung bei privaten Vermietern
In Basel stösst das Konzept jedoch auch an seine Grenzen. Das grösste Problem ist ausreichend günstiger und geeigneter Wohnraum. «Es besteht eine grosse Zurückhaltung von Vermietern, Wohnungen an Obdachlose zu vermieten», stellt Thomas Frommherz fest. Er selbst ist mit vielen Liegenschaftenverwaltungen im Gespräch. Erfahrungsgemäss sei nicht der Mietpreis alleine das Hauptproblem. So habe die Heilsarmee eigens einen Fonds gegründet, um den Vermietern eine Garantie für einen allfälligen Mietzinsausfall zu bieten. «Einen Ansturm löste das aber nicht aus.» Überwiegen würden andere Vorbehalte, etwa bezüglich bestehender Suchtprobleme und die Sorge vor Konflikten mit Nachbarn. Dass Obdachlose einen regulären Mietvertrag mit entsprechenden Kündigungsfristen bekämen, schrecke viele ab. «Wir sagen aber auch klar, dass die Betroffenen Verantwortung übernehmen müssen. Wenn sie sich nicht an die Regeln halten, dann kann ihnen gekündigt werden wie jedem anderen auch», so Frommherz. Zu viel Hilfsbereitschaft sei auch gar nicht unbedingt förderlich. «Man muss den Menschen aber etwas Zeit geben, da braucht es ein gutes Mass an Toleranz und Verständnis.»
Das Projekt in Basel wurde eben bis Ende 2023 verlängert. Man brauche noch mehr Informationen, um herauszufinden, wie hoch der Bedarf in Basel-Stadt überhaupt ist und was diese Menschen genau bräuchten, sagt Frommherz und präzisiert: «Ist es mit einer reinen Wohnversorgung im Sinne einer eigenen, sicheren Wohnung getan? Wo genau gibt es aufsuchenden Beratungsbedarf? Welche Infrastrukturen müssen bereitgestellt werden?»
Tiny Houses, Containersiedlungen, Familiengärten
Dass es schlicht zu wenige geeignete Wohnungen gibt, um Obdachlosigkeit effektiv zu bekämpfen, wissen auch die Behörden. In der Studie des Bundes heisst es dazu: «Dass zu wenig bezahlbarer Wohnraum zur Verfügung steht, war sowohl in der Befragung der Kantone als auch der Kommunen Konsens. Der Wohnungsmarkt spielt also eine signifikante Rolle bei der Bekämpfung und Prävention von Obdachlosigkeit und ihren Vorstufen.»
Unter anderem empfehlen die Autorinnen und Autoren den Kantonen und Gemeinden, Anreize zum Bau von nicht-gewinnorientiertem Wohnraum zu setzen und diesen zu fördern. Auch sollten Gebäude und Flächen, die «entbehrlich sind», für obdachlose Menschen zur Verfügung gestellt oder günstig veräussert werden. Neben «Housing First» sollen auch andere neuartige Wohnformen wie Tiny Houses, Containersiedlungen oder Familiengartenhäuser im Winter ausprobiert werden.
Für Thomas Frommherz von der Heilsarmee Basel braucht es neben mehr günstigem Wohnraum noch etwas anderes, damit «Housing First» dereinst flächendeckend eingeführt werden kann: ein gesellschaftliches Umdenken. «Wir sollten nicht mehr darüber diskutieren, wer eine Wohnung verdient hat und wer nicht. Wohnen ist ein Menschenrecht.»