Leider herrscht schon wieder Krieg in Europa. In welcher Kultur leben wir, in der Konflikte nicht friedlich gelöst werden können? Was für eine schreckliche Geschichte von Kriegen tragen wir in unserer Kultur!
Von Juan Espinosa
Angesichts dieses Ausbruchs der Gewalt habe ich verschiedene Analysen gelesen, aber mit keiner bin ich zufrieden. In diesen wird die Geschichte von Jahrtausenden verdrängt, in welcher Krieg ein zentrales Element im Aufbau unserer Kultur war. Die Tendenz, Konflikte durch Krieg zu lösen, ist eine Konstante unter uns. Einige dieser Analysen vergessen sogar die jüngere Geschichte. Laut ihnen schlafe die europäische Bevölkerung und werde von dem großen Übel, das die NATO und die USA mit ihren allmächtigen Medien darstellt, manipuliert. Eine verwunderliche Aussage, die allein durch die Erinnerung an die einige Jahre zurückliegenden Ereignisse widerlegt werden kann.
Dieselben Medien und Lügen der USA sind im Versuch, die europäische Bevölkerung dazu zu bringen, den von den USA, Großbritannien und Spanien begonnenen Krieg gegen den Irak zu unterstützen, gescheitert. Stattdessen gab es heftige Reaktionen der Gesellschaft in vielen europäischen Ländern gegen diesen Krieg. An manchen Orten, wie in Spanien, war sie so stark, dass bei den folgenden Wahlen die Regierung gewechselt wurde. Und das trotz all den offiziellen Medien, die die militärische Intervention unterstützt haben. Wir haben heftig gegen den Krieg im Irak demonstriert und uns damit an der großen sozialen Bewegung beteiligt, die die Wahlen von 2004 beeinflusst hat. Die antretende Zapatero-Regierung zog die spanischen Truppen wie versprochen sofort aus dem Irak ab.
Die Leute waren also wach und jetzt sollen sie schlafen? Werden wir gefühlstaub?
Ich glaube weder an die allmächtigen Medien noch sehe ich die Menschen als leicht zu führende Herde. Warum sollte das Volk sich so leicht manipulieren lassen, während ich der Auffassung bin, dass ich es nicht bin? Diese intellektuelle Arroganz einiger Andersdenkender und Distanzierter erscheint mir suspekt. Mir scheint, dass in dieser Situation einige Positionen und Analysen fernab der Tatsachen stehen. Die Frage ist jedoch: wenn sich die Menschen entschieden gegen den Krieg im Irak ausgesprochen haben, warum tun sie es dann jetzt nicht?
Die Menschen demonstrieren jetzt nicht, denn würden sie in Russland demonstrieren, würden sie inhaftiert werden, und das ohne Anklage und ohne zu wissen, für wie viele Monate. Die Menschen demonstrieren jetzt nicht, weil sie ein Grundrecht erkannt haben, nämlich das Recht auf Selbstverteidigung. Die Menschen demonstrieren jetzt nicht, weil sie die Absurdität der russischen Forderung nach einem gesicherten Raum erkennen. Dieses Recht besitzt weder ein Land noch eine Person. Warum sollte Russland dieses Recht eingeräumt werden? Ist das Recht auf einen gesicherten Raum dem Recht der Ukraine auf Unabhängigkeit überlegen? Dass einige Länder – durch Drohungen, Aggression oder den Erwerb von Nachlässen – einen gesicherten Raum haben, gewährleistet Russland kein Recht darauf. Es sei denn, wir geben nach und nehmen hin, dass die Welt von zwei gigantischen manipulativen und gewalttätigen Imperien regiert wird, die ihre Rechte durchsetzen, indem sie die der anderen unterdrücken.
Lautet die Wahrheit nicht: Die Verantwortung für die Aggression liegt beim Aggressor?
Wir alle wissen, dass der Charakter der Führungskräfte in diesen Situationen von grundlegender Bedeutung ist. Wir alle wissen, dass dieser Krieg nicht stattgefunden hätte, wenn Russland von Menschen mit anderer Einstellung regiert worden wäre – zum Beispiel von Gorbatschow, Chruschtschow oder Tolstoi. Außerdem atmen viele von uns erleichtert auf, wenn sie daran denken, dass in Washington nicht mehr D. Trump sitzt. Hätte er die letzten Wahlen gewonnen, wäre der Krieg vielleicht furchtbar eskaliert.
Lösen wir uns von unserer naiven Vision, der Krieg kann dennoch schrecklich werden. Angesichts Putins metallischen Charakters könnte der Konflikt bis hin zum Start von Atomraketen eskalieren. Angesichts des sozialen Bruchs in Russland könnte sich jedoch auch ein anderes Szenario ergeben. Er ähnelt dem, der in der USA stattgefunden hatte und sich in seiner ganzen Brutalität mit dem Angriff auf das Kapitol gezeigt hat. Der soziale Bruch spiegelt sich vielleicht auch in der russischen Armee wider und könnte zu Putschen, Anschlägen oder sogar Bürgerkriegsausbrüchen führen. Dieses Szenario ist der Geschichte Russlands ebenso wenig fremd wie der Geschichte anderer europäischer Länder.
Wir leben in einer Welt, die von der Logik der Gewalt und Heuchelei regiert wird. Viele von uns sehnen sich aber nach einer anderen Logik, einer anderen Atmosphäre in Beziehungen und anderen Werten. Wir streben danach, persönlich und in der Gesellschaft mit gewaltfreiem Aktivismus konsequent zu sein. Aber Gewaltlosigkeit ist in Regierungen oder Völkern nicht vorgesehen und wir können in der heutigen Welt nicht naiv um gewaltfreies Verhalten bitten. Andererseits analysiere auch ich dieses Problem nicht als Ausstehender, weil ich selbst Teil dessen bin und die Gewalt, die sich in mir verbirgt, nicht überwunden habe.
Was Gewaltlosigkeit angeht dienen nur sehr wenige Menschen als Vorbilder: Tolstoi, Gandhi, Luther King, Silo. Sie sind Belege für Verhaltensweisen von moralischer Höhe und Kohärenz. Wir hoffen, dass diese mehr gehört werden und zum Nachdenken anregen, weil sie über die Wurzeln von Gewalt und Krieg zu uns sprechen. Diese liegen in der Sinnlosigkeit und in den Widersprüchen unseres Lebens, in den Widersprüchen des Gesellschaftssystems. All dies zeigt eine materialistische Vision des Lebens.
Um Tolstoi, Gandhi, Luther King und Silo zu verstehen, muss man erkennen, dass diese ein starkes spirituelles Bestreben haben, einen Kontakt mit der Quelle des Spirituellen in der Tiefe ihres Bewusstseins oder ihres Herzens. Aus dieser Quelle entspringen ihre Stimmigkeit, ihre Würde, ihr Kampf, die Brüderlichkeit, welche sie verteidigen, und die Gewaltlosigkeit als Methode des sozialen Wandels. Ohne diese spirituelle Quelle hätte deren Kampf weder Kraft noch Wahrheit, dies wird großgeschrieben.
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Lena Rixinger vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!