Die USA behaupten weiterhin, ein russischer Einmarsch in die Ukraine stehe „unmittelbar“ bevor. Experten weisen das zurück. US-Sicherheitsgarantien erweisen sich als unwirksam.

Warnungen vor einem Krieg in der Ukraine haben am Wochenende die diesjährige Münchener Sicherheitskonferenz überschattet. „In Europa droht wieder ein Krieg“, erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz; Außenministerin Annalena Baerbock schloss sich an und äußerte, man stehe „vor der greifbaren Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung mitten in Europa“. Die USA und Großbritannien behaupten weiterhin, ein Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine stehe „unmittelbar bevor“. Fachleute widersprechen. So urteilt die Politikprofessorin Nina Chruschtschowa aus New York, „ein viel größeres Interesse an einer Invasion als Putin“ habe die Biden-Administration: Gelinge es ihr, Moskau zu einem Einmarsch zu verleiten, dann könne sie hoffen, Präsident Wladimir Putin werde gestürzt werden. Dmitri Trenin, Direktor des Carnegie Moscow Center, rechnet ebenfalls nicht mit einer russischen Invasion und weist darauf hin, ihre Weigerung, der Ukraine militärisch beizustehen, führe zu einer Schwächung der globalen Position der USA. Behauptungen, Russland plane eine false flag-Operation in der Ostukraine, haben sich nicht bewahrheitet.

Trinkwasserversorgung attackiert

Seit Ende vergangener Woche eskalieren die Kämpfe in der Ostukraine dramatisch. Die OSZE dokumentierte 591 Verstöße gegen die Waffenstillstandsvereinbarungen, darunter 553 Explosionen, für die Region Donezk sowie 975 weitere Verstöße, darunter 860 Explosionen, für die Region Luhansk; diese Angaben beziehen sich, wie berichtet wird, auf das Geschehen am Freitag.[1] Am Samstag kam es zu weiteren Schusswechseln und Detonationen; nicht zuletzt seien zwei Pumpstationen in Donezk beschädigt worden und ausgefallen, die mehr als eine Million Menschen mit Trinkwasser versorgten, berichtete das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Moskau und die „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk gehen von einer geplanten Offensive der ukrainischen Streitkräfte aus; Kiew streitet dies ab. Donezk und Luhansk begannen mit der Evakuierung der Zivilbevölkerung und mit der Mobilmachung; über 40.000 Einwohner sollen inzwischen in Auffanglager in Russland in Sicherheit gebracht worden sein. „Wir sind sehr besorgt über die Entwicklungen in der Ostukraine“, wird die Leiterin der Delegation des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in der Ukraine zitiert. Westliche Unterstellungen, Moskau plane eine false flag-Operation in der Ostukraine, um anschließend seine Truppen über die Grenze zu schicken, bewahrheiteten sich nicht.

„Unmittelbar bevorstehend“

Die Regierungen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens behaupten dennoch weiterhin, ein russischer Einmarsch in die Ukraine stehe „unmittelbar“ bevor. US-Präsident Joe Biden, der zuvor prognostiziert hatte, der Einmarsch werde am 16. Februar stattfinden (german-foreign-policy.com berichtete [2]), legte sich am Freitag erneut darauf fest, Russlands Präsident Wladimir Putin habe „die Entscheidung“ zur Invasion nun getroffen.[3] Mit einem Einmarsch sei „in den kommenden Tagen“ zu rechnen. Die britische Außenministerin Liz Truss hielt eine Invasion „bereits nächste Woche“ für möglich, widersprach damit allerdings ihrem Premierminister Boris Johnson, der „den gefährlichsten Moment“ schon am 10. Februar für „die nächsten paar Tage“ vorausgesagt hatte. US-Außenminister Antony Blinken wiederum teilte gestern mit, er sei sich gewiss, dass Russland „am Rande“ eines Angriffs auf die Ukraine stehe.[4] Unter dem Eindruck der Warnungen forderte das Auswärtige Amt alle Deutschen, die sich in der Ukraine aufhalten, am Wochenende auf, das Land umgehend zu verlassen. Die Lufthansa kündigte die vorläufige Einstellung ihrer Flüge nach Kiew und Odessa an. Unterdessen teilten Russland und Belarus mit, sie würden ihr Großmanöver, das am gestrigen Sonntag zu Ende gehen sollte, verlängern. Unklar ist, ob nun die westlichen Ankündigungen, ein russischer Einmarsch stehe „unmittelbar“ bevor, gleichfalls in die nächste Runde gehen.

Interesse an einer Invasion

Zu den unaufhörlich wiederholten US-Behauptungen, ein russischer Einmarsch in die Ukraine stehe „unmittelbar bevor“, hat sich Ende vergangener Woche unter anderem Nina Chruschtschowa geäußert, Professorin für Internationale Politik an der renommierten New School in New York. Chruschtschowa urteilt, Präsident Putin plane „keinen Angriff“, wenngleich „in so einer aufgeladenen Situation“ bereits „ein falscher Schritt“ genüge, um einen Krieg auszulösen.[5] „Die USA“, erklärt die Professorin, „haben ein viel größeres Interesse an einer Invasion als Putin“; sie versuchten „alles, um ihn zu einem Fehler zu verleiten“, „sodass er tatsächlich in die Ukraine einmarschiert“. Chruschtschowa begründet dies mit einem Blick auf die vermutlich verheerenden Folgen einer Invasion: Washington spekuliere darauf, dass sich der russische Präsident im eigenen Land so „unbeliebt“ mache, „dass die Russen ihn stürzen“. Zugleich sei die Biden-Administration bestrebt, „Europa hinter sich [zu] vereinen“. Dazu aber müsse sie „Putin dazu bringen, wenigstens einen Fingerbreit auf ukrainisches Territorium vorzudringen“, erläutert Chruschtschowa, eine erklärte Gegnerin des russischen Präsidenten: „Wenn das geschieht, werden sich alle hinter Washington zusammenschließen“. Leidtragende dieser Taktik sei freilich die Ukraine.

Künftig zwei Säulen

Ganz wie Chruschtschowa, das bestätigte Ende vergangener Woche Dmitri Trenin, der Leiter des Carnegie Moscow Center, gehen „die meisten seriösen russischen Analytiker“ nicht davon aus, dass Russland „eine größere Offensive gegen die Ukraine“ starten werde.[6] Zwar müsse man damit rechnen, dass die Krise noch länger andauern werde; auch „der Informationskrieg“ werde wohl unvermindert fortgesetzt, prognostiziert Trenin. Doch würden gleichzeitig die Gespräche über eine Lösung des Konflikts weitergeführt. Bei den Gesprächen aber scheine es Moskau zu gelingen, erste Fortschritte zu erzielen. So seien die Vereinigten Staaten offenkundig bereit, über ein Verbot von Mittelstreckenwaffen in Europa zu verhandeln; als Putin dies im Jahr 2019 gefordert habe, sei er damit in Washington abgeblitzt. Trenin räumt freilich ein, die Ursache für die plötzliche Verhandlungsbereitschaft der USA sei wohl weniger die aktuelle Krise als vielmehr die Tatsache, dass die neuen russischen Hyperschallwaffen ein wirksames Gegengewicht gegen jegliche Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa darstellten. Gespräche darüber könnten „ein wichtiger erster Schritt zu einer Reform der europäischen Sicherheitsarchitektur“ sein – „vom gegenwärtigen US-dominierten, NATO-lastigen Modell zu einer Struktur, die von zwei Säulen getragen wird, einer westlichen und einer russischen“.

„Andere Wege“

Das womöglich am weitesten reichende Ergebnis der aktuellen Krise, urteilt Trenin, betrifft nicht Russland direkt, sondern zunächst die Ukraine: Weder die Vereinigten Staaten noch die NATO werden das Land gegen einen Angriff mit eigenen Truppen verteidigen. Dies haben US-Präsident Biden sowie weitere Funktionsträger der NATO Staaten mehrmals bekräftigt. Das schließe einen NATO-Beitritt der Ukraine, solange Moskau ihn als casus belli betrachte, in der Praxis aus, konstatiert Trenin. Kiew müsse sich daher „um andere Wege“ bemühen, um „seine Sicherheit zu gewährleisten“.[7] In diesem Kontext stuft der Leiter des Carnegie Moscow Center die Andeutung des ukrainischen Botschafters in Großbritannien, Wadym Prystajko, die Ukraine könne eventuell ihrerseits auf einen NATO-Beitritt verzichten, als möglichen Kompromiss bezüglich der russischen Forderung ein, die NATO müsse auf jegliche neue Osterweiterung verzichten.[8] Zugleich wird die US-Ankündigung, man werde die Ukraine nicht mit Truppen verteidigen, auch in anderen Weltregionen aufmerksam registriert. So berichtet Trenin, der Konflikt um die Ukraine werde nicht zuletzt im Mittleren Osten sehr genau verfolgt. Man nehme dort wahr, dass „US-Sicherheitsgarantien … gegen eine reale Drohung der anderen atomaren Supermacht mit einer militärischen Kollision“ nicht wirkten.[9] Schon der US-Abzug aus Afghanistan hatte in der arabischen Welt Zweifel an der Verlässlichkeit der USA bzw. des Westens gestärkt.

 

Mehr zum Thema: Die Stationierungsräume der NATONeue Hürden und „Teil einer Strategie“.

 

[1] Ostukraine: Armee und Separatisten melden erneute Beschüsse – Rotes Kreuz ist „sehr besorgt“. rnd.de 20.02.2022.

[2] S. dazu „Teil einer Strategie“.

[3] Ukraine conflict: Biden says he is convinced Putin has decided to invade. bbc.co.uk 19.02.2022.

[4] Blinken Says Russia Looks ‘On Brink’ Of Ukraine Invasion, Says Biden Ready To Meet ‘At Any Time’. rferl.org 20.02.2022.

[5] Ellen Ivits: Warum die USA mehr Interesse an einer russischen Ukraine-Invasion haben als Putin. stern.de 18.02.2022.

[6], [7] Dmitri Trenin: Arms accords between Russia and the west stand a chance despite treat of conflict. ft.com 18.02.2022.

[8] S. dazu Neue Hürden.

[9] Michael Young: What’s on the Table? carnegie-mec.org 18.02.2022.

Der Originalartikel kann hier besucht werden